Monday, June 22, 2015

German fan mail

I don't generally get fan mail with articles that are in German. But, for my German students who need to keep stretching their brains from days in German class, I re-post for you.


Hans Beck wrote,

Dear Mark!
Thank you for your continuing e-mail-contact of what is going on by your efforts in and around Pittsburgh. After more than 56 years past my visit of Pittsburgh and the Zeiss Planetarium there I still have a pleasant memory of your town.
Best regards Hans G. Beck
PS.: I add a copy of my life-story with Zeiss. Sorry, only in German, but someone might like it to thumb through.

<HR>


HANS G. BECK



ASTROBECKS


STERNZEITEN










Erich Kästner:

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es



Jena 2011

Aus dem Leben des Industrie-Astronomen Hans G. Beck


Bäcker Becks Geschichten


Vorworte


Seit meiner Jugendzeit habe ich mich für Geschichte interessiert. Dazu haben zwei Bücher einen, so glaube ich, entscheidenden Einfluss gehabt. Eine Voraussetzung dafür ist natürlich das Interesse am Lesen. Meine Mutter las gern, als Erholung von der anstrengenden Arbeit für Geschäft und Familie. Wir holten uns regelmäßig Bücher aus der Leihbücherei Ost, am Schießteich in Saalfeld. Das war keine Literatur, wie sie im Literarischen Quartett erörtert worden wäre. Courths-Mahler, Marlitt und ähnliche Herz- und Schmerz-Romanautoren lieferten den Lesestoff für meine Mutter, und ich durfte mir Wild-West-Geschichten und Zukunftsromane, z.B. von Hans Dominik „Wettflug der Nationen", ausleihen. Das erste dieser für mich bedeutsamen Bücher, das ich vielleicht zu Weihnachten bekam, war der dicke Wälzer von Gustav Schwab „Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums". Ich muss damals neun Jahre alt gewesen sein, denn ich war bereits mit der römischen Sagenwelt vertraut, bevor wir in der Sexta der Oberschule, also mit 10 Jahren, Lateinunterricht erhielten. Das zweite Buch habe ich mir quasi „erbettelt", vielleicht ein oder zwei Jahre später. Es war ja inzwischen Krieg und wir Schüler wurden verstärkt für das Sammeln von Altmaterial eingesetzt.

Als wieder einmal eine Altpapiersammlung angesetzt war, ging ich in der Nachbarschaft in die Villa des Sanitätsrats Dr. Müller-Meernach in der Melanchthon-Straße. Die dort wohnende Familie gehörte zu unserer Kundschaft, und ich war bekannt, gehörte doch das Brötchen-Austragen am Morgen vor der Schule zu den Pflichten eines Bäckerssohns. Außerdem wohnte dort eine Klassenkameradin mit ihrer jüngeren Schwester, die aus Wuppertal wegen der Bedrohung durch Luftangriffe nach Thüringen evakuiert worden waren. Sie hieß Ingeborg v. Baum und stammte aus der Familie des Fabrikbesitzers v. Baum. Im Hause wohnte die Familie Frohwein, eines leitenden Angestellten der Zellwolle AG in Schwarza. Also machte ich mich auf und fragte, ob es Altpapier oder ähnliches gäbe. Die Sammelaktion war offiziell angekündigt und ich wurde in die Küche gebeten, wo man mir eine große Kiste mit Zeitschriften und Büchern zeigte. Als ich den Inhalt untersuchte, stellte ich fest, dass es u.a. zahlreiche Jahrgänge eines Magazins mit dem Titel „Atlantis" waren, die in Kunstdruck bebildert waren, eigentlich viel zu schade für das Altpapier. Dann gab es auch mehrere Bücher, unter ihnen eine populäre Darstellung der Weltgeschichte vom Beginn der Menschheit bis 1914. Ich fragte die Haushälterin, ob ich dieses Buch behalten dürfte, eigentlich mehr eine formale Frage, denn ich holte die Ladung mit dem Handwagen ab und brachte sie zur Sammelstelle. Ich durfte, und damit hatte ich die Grundlage für mein späteres Interesse an der Geschichte und mein sich daraus entwickeltes Geschichtsbewusstsein erworben.

Kommen wir zurück zur Literatur: Zunächst erlebte ich die übliche Schulliteratur, Prosa und Dramen, mit dem Zwang der Inhaltsangabe, Charakteristik der handelnden Personen, das „Drama in seiner Zeit" und „Was sagt es uns heute noch". Ich hatte keine lyrische Ader, schrieb auch keine Gedichte, bemühte mich aber, im Deutschunterricht mit im Strom zu schwimmen.

Als der Krieg zu Ende war, hatten wir Zugang zu den Romanen der Weltliteratur, die während der Nazizeit verfemt waren. Unser Deutschlehrer, Dr. Friedrich-Wilhelm Schröder, ließ uns Bücher auswählen, die wir in einem Hausaufsatz behandeln sollten. Ich interessierte mich für die Englische Sprache und die angloamerikanische Literatur und wollte eigentlich das Buch über Sacco und Vanzetti von Upton Sinclair durcharbeiten. Dann entschied ich mich aber, entsprechend meiner damaligen Neigung für die Chemie, zu dem Buch „Madame Curie", verfasst von ihrer Tochter Eva Curie.

Dann erinnere ich mich an einen Hausaufsatz über den „Schimmelreiter", den wir sogar - modern! - mit der Schreibmaschine schreiben durften, für den ich eine „Eins" bekam. Auch eine Naturschilderung verfasste ich, wegen der ich den Kirchturm der Saalfelder Johanniskirche bestieg, um die Umgebung der Stadt von höchster Warte zu erfassen.

Meine Leistungen in Deutsch wurden meist so bewertet: Rechtschreibung gut, Inhalt der Aufsätze auch gut, der Ausdruck ließ manchmal zu wünschen übrig. Ich hatte und habe noch eine Vorliebe für den Konjunktiv und bin mir nie ganz sicher, welche Zeitform ich wählen und beibehalten soll. Das wird sich auch in diesem Elaborat zeigen, in dem ich mich äußern werde, wie es mir aus dem Gedächtnis in die Finger kommt. Wegen der Rechtschreibung habe ich auch ohne Lektor keine Probleme, denn das Rechtschreibe-Korrektur-Programm von Winword 7.0 sagt mir meistens, wenn ich mich vertippt oder falsch gedacht habe. Bleibt das Problem neue oder alte Rechtschreibung. Ich nehme das gelassen hin. Der Übergang von der Sütterlin-Handschrift vor etwa 60 Jahren zur „lateinischen" Schrift war auch nicht einfach. Nur wenige ältere Menschen können sie jetzt noch lesen und schreiben, und in der heutigen Schule ist die Sütterlin eine Kuriosität, fast wie Hebräisch oder Arabisch. Soweit die literarischen Vorbemerkungen.

Quasi-literarisch habe ich mich während meiner Berufszeit als Industrie-Astronom bei Carl Zeiss Jena betätigt. Da gab es zum einen die Gerätebeschreibungen und Werbedruckschriften, für deren Qualität sogar ein Literarisches Büro sorgte. Dann waren Anträge zu formulieren, Berichte zu erstatten, insbesondere Forschungs- und Reiseberichte. Das lernte man nicht an der Universität, bei der Diplomarbeit kam es im Wesentlichen auf den Inhalt an. Am besten, man hatte einen Mentor, der einem das richtige Maß für Form und Inhalt beibrachte.

Als ich bei Zeiss im Januar 1954 mit meiner Tätigkeit begann, fehlte mir ein solcher Mentor, weil sich der bisherige Leiter des Astroabteilung nach dem Westen abgesetzt hatte. Ich studierte daher die Berichte meines Vorgängers und stolperte auch über manchen Stein, denn nicht alles, was zu berichten gewesen wäre, war den Vorgesetzten recht.

Bei meinen Dienstreisen ins Ausland, wozu auch die BRD gehörte, machte ich es mir zum Prinzip, möglichst umgehend und gleich mit Hilfe einer Schreibmaschine einen umfassenden Bericht zu verfassen, in den meisten Fällen in epischer Breite. Dafür war ich bekannt und wurde wohl auch das eine oder andere Mal belächelt. Später, in der Ära Biermann, waren solche Berichte unerwünscht: Militärisch knapp wurde die Aufgabe formuliert, ebenso knapp das Ergebnis, und am wichtigsten war die Liste der zu bestätigenden Festlegungen. Aber zu dieser Zeit durfte ich nicht mehr ins Ausland reisen, und die Berichte erledigten sich somit von selbst. Bei der Industrieliteratur sind auch noch die Konzeptionen und Perspektivpläne zu erwähnen, die aber in die Kategorie der Utopien bzw. der Zukunftsromane einzuordnen sind.

Die meisten meiner Berichte sind verloren, manche vielleicht noch im Archiv, andere im Reißwolf gelandet. Nun soll man nicht so sehr darüber jammern, die meisten Dramen von Aristophanes sind verschollen, die Bibliothek von Alexandria wurde ein Raub der Flammen, wer interessiert sich überhaupt für diese Geschichten, in den meisten Fällen sind es eh „Simple Stories", wie der Titel eines erfolgreichen Buches lautet (das ich noch lesen muss!).

Die Vorgeschichte oder die Becks an sich

Meine Schwester Barbara und mein Bruder Uwe haben sich schon mehrfach beschwert, dass ich über allen möglichen Zeiss- und Astro-Kram schriebe, aber nicht über die Familiengeschichte. Schließlich hätte ich als Ältester des Artur- und Martha-Beck-Zweiges der Familie die Pflicht, dies zu tun. Eigentlich habe ich es auch schon getan in meinem Bericht „Ein halbes Jahr 1945", in dem ich meine Erlebnisse von Januar bis Juni 1945 tagebuch-ähnlich niedergeschrieben und mit Berichten über die Familie ergänzt habe. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob ich diesen Bericht in diese Geschichte einarbeiten oder als selbständigen Teil aufnehmen werde.

Zu der Geschichte gehört noch der Stammbaum der Becks, der, wie in den meisten Familien durch den in der Nazizeit geforderten Ariernachweis, mit Personen und Daten belegt ist, sogar bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die mütterliche Linie ist nicht mit einem solchen Dokument belegt, weil sich niemand für die arische Abstammung meines Großvaters Karl Langheinrich interessierte, der ein einfacher Fabrikarbeiter in der Papierfabrik Rosenthal in Blankenstein war. Inzwischen habe ich über das Standesamt Schleiz einen guten Überblick über die zahlreiche Verwandtschaft bekommen. Die Dokumente der Vorfahren meiner Frau Ingeborg, sowohl mütterliche wie väterliche Linie, wurden von ihren Eltern gerettet, sie gehörten mit zu dem Fluchtgepäck, als sie im Herbst 1945 Breslau verlassen mussten.

Nun zur Geschichte der Becks, die nach den Erzählungen meines Vaters in vielen Generationen Bäcker und Müller waren. Daher sicher auch der Name Beck, der im fränkischen Sprachgebrauch an den Familiennamen angehängt wird, bis der Familienname verloren geht. So gab und gibt es noch in meinem Geburtsort Blankenstein den Bäcker Rank, genannt der Ranken-Bäck oder -Beck. Wie aus der Ahnentafel zu ersehen ist, heiratete mein Urgroßvater Karl Wilhelm Beck (1841-1891) eine Johanna Alwine Mylius (1850 - 1925) aus Neustadt/Orla. Mylius ist lateinisiert für Müller, also ein Berufsname wie bei Beck. Mein Großvater Hermann Beck (1879-1962) war erst 12 Jahre alt, als sein Vater starb. Er musste sich frühzeitig auf die Übernahme des Geschäfts am Markt 11 in Schleusingen vorbereiten.

Das Haus liegt neben dem Rathaus und hat sicher schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Davon kündete ein Blechschild: „In diesem Haus übernachtete Graf Isolani nach der Schlacht von ...". Wer seinen Wallenstein kennt, kennt auch den Grafen Isolan: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, Graf Isolan. Der weite Weg entschuldigt Euer Säumen!" Es gibt da noch die Familiengeschichte, dass der Hermann Beck nach Amerika auswandern wollte. Es sei sogar schon ein Grundstück erworben worden, dort wo Mississippi und Missouri zusammenfließen. Die Immobilie sei während des 1. Weltkrieges als Feindeigentum beschlagnahmt und von einem Mr. Hermann treuhänderisch verwaltet worden. Grundbesitz in den USA, möglichst mit einer Ölquelle, das wäre etwas gewesen!

Hermann Beck wuchs in der Bäckerei seiner Eltern auf, zu der auch noch eine Konditorei und ein Café gehörten. Wenn man in einer solchen Umgebung aufwächst, dann muss man nicht extra in die Bäckerlehre gehen, mir ging es 1945 nicht anders. Jedenfalls machte er seinen Meister vorzeitig und übernahm mit 18 Jahren das Geschäft, vor mehr als 100 Jahren, das er praktisch bis zum Jahre 1945 führte. Seine Mutter Johanna Alwine stammte, wie erwähnt, aus einer Müller-Familie und hatte sicher von daher eine praktische Veranlagung, um das Geschäft nach dem Tod ihres Mannes weiterzuführen. Bis dato ist es mir nicht gelungen, mehr über die Mylius-Linie in Erfahrung zu bringen. Ich fand zwar im Telefonbuch von Neustadt/Orla einen Teilnehmer namens Mylius. Nach einem Telefonanruf handelte es sich um einen Cousin höheren Grades, der allerdings vor Kurzem verstorben sei. Seine Witwe erzählte mir, dass er sich auch mit Ahnenforschung beschäftigt habe. Auf eine Bitte um Überlassung von Daten erhielt ich aber noch keine Antwort. In der Nähe von Neustadt/Orla fand ich in der Telefon-CD mehrere Mylius, von denen einer ebenfalls erklärte, dass er sich mit Ahnenforschung beschäftigte, aber auch von dort erhielt ich keine Daten.

Kehren wir zu den Großeltern Beck zurück. Meine frühesten Erinnerungen an das Haus am Markt müssen aus der Zeit von 1935/36 stammen, wenn auch das meiste im Dunkeln liegt. Das Haus hat einen von Säulen gestützten Vorbau mit einer Balustrade. Im Sommer konnten die Gäste dort im Freien sitzen. Man geht einige Stufen hoch und kommt in einen Flur, von dem gleich links eine Tür in den Laden geht, der Bäckerei & Conditorei. Durch eine weitere Tür kommt man in das Café mit etwa 8 Tischen, also für 30 bis 40 Gäste. Neben dem Saal lag die Küche, die man auch aus dem Flur betreten konnte. In der Wand des Flures waren mehrere Brotschränke eingebaut, in denen das frisch gebackene Brot auskühlen konnte. Der Brotgeruch machte Appetit auf frisches Brot. Eine Treppe führte in zwei Stufenreihen in den ersten Stock. Vom dazwischen liegenden Treppenabsatz konnte man in eine Toilette, na ja, in einen Abort gelangen. Der Flur verbreiterte sich im Erdgeschoss, es kam die Breite des Ladens dazu. Von dort führte eine Doppeltür in den Hof, der mit Kopfsteinpflaster und Steinplatten versehen war. Etwa in der Mitte des Hofes führte eine Tür in die Backstube, die in einem Anbau längs des Hofes untergebracht war. Der Backofen vom Typ eines altdeutschen Ofens mit sogenannter Brustfeuerung lag links vom Eingang, und man konnte über einige Stufen in einen kleinen Raum über dem Backofen gelangen, in dem mein Großvater, den wir Opa nannten, seinen Mittagsschlaf absolvierte. In der Backstube gab es die üblichen Maschinen für die Herstellung von Brot und Brötchen, die Arbeitsflächen und Regale. Ich erinnere mich auch an einen speziellen Gasherd, auf dem Kupferkessel aufgesetzt werden konnten. Wenn man Buttercreme macht, muss man vorher einen Pudding kochen und dann die Creme fleißig rühren. Die Kupferkessel waren innen verzinnt, weil sonst Grünspan, ein Kupferoxid, entsteht, das giftig ist. Zur „Produktionsstätte" gehörte auch noch eine Konditorstube, die an der rückwärtigen Hofseite gelegen war. Dort wurde, wenn ich mich richtig erinnere, die Feinarbeit bei der Fertigung der Konditoreiwaren erledigt. Wie mir vor kurzem Onkel Hermann erzählte, diente der Raum auch als Schlachthaus, denn es war üblich, von den Abfällen des Haushalts, z.B. dem sogenannten Kehrmehl aus der Bäckerei, regelmäßig Schweine zu füttern.

Im ersten Stock kam man an eine Doppeltür, die in einen Flur führte, von dem man nach rechts in eine Küche kam, die über der im Erdgeschoss lag. Geradeaus kam man durch eine Tür in einen Saal, der über die ganze Breite des Hauses ging und über dem Café samt Konditorei im Erdgeschoss lag. Zwischen beiden Küchen gab es eine Rohrverbindung, durch die die Bestellungen aufgegeben werden konnten bzw. die sonstige Kommunikation zwischen oben und unten lief.

In den oberen Stockwerken und im Hinterhaus waren die Wohnräume der Familie, einer großen Familie, denn mein Vater Artur hatte noch fünf Geschwister. Dazu gehörte auch Dienstpersonal. Eines der Dienstmädchen, die, wie man damals sagte, zwecks Broterwerb in Stellung gingen, war im Jahre 1929 die 21jährige Martha Langheinrich aus Blankenstein an der Saale. Der älteste Bruder Carl, Jahrgang 1906, hatte Konditor gelernt, war damals wahrscheinlich schon Konditormeister. Die einzige Schwester Annemarie, Jahrgang 1908, war seit kurzem mit dem Tierarzt Lothar Burk verheiratet, der seine Praxis in Schmiedefeld am Rennsteig hatte. Mein Vater, Jahrgang 1909, hatte Bäcker und Konditor gelernt und arbeitete ebenso wie sein Bruder Carl im elterlichen Geschäft. Alfred, Jahrgang 1913, war in der Lehre in Coburg als Konfektionär, Hermann, Jahrgang 1919, ging ebenso wie sein Bruder Eberhard, Jahrgang 1921, noch zur Schule.

Irgendwann im Sommer 1929 - spätestens! - muss es zwischen dem Artur und der Martha gefunkt haben, alt genug waren sie ja. Nach Fotos war meine Mutter auch eine hübsche Frau und mein Vater ein tüchtiger Bäcker. Jedenfalls war ich im Herbst 1929, ein wenig vorzeitig, als Nachwuchs unterwegs. Ob das meinen Großeltern in Schleusingen so gefallen hat, weiß ich nicht, kann es mir auch kaum vorstellen. Mein Vater war im elterlichen Geschäft eine billige Arbeitskraft und musste noch mehrere Jahre als Geselle arbeiten, bis er seine Meisterprüfung ablegen und damit sich selbständig machen könnte. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Großeltern in Blankenstein nicht so begeistert waren, dass aus der tüchtigen Martha eine ledige Mutter werden sollte.

Ich wurde am 11. März 1930 geboren und bekam zunächst den Namen meiner Mutter. Aufgezogen wurde ich von meiner Großmutter Marie Langheinrich, meine Mutter blieb in Schleusingen. Mein Großvater Karl arbeitete in der Papierfabrik Rosenthal. In Blankenstein gab es viele Langheinrichs, wie es oft in kleinen Orten gleichnamige Einwohner gab. Zur Unterscheidung der verschiedenen Familien wurde der Vorname der Mutter an den eigenen Vornamen angehängt. Mein Großvater hieß also der „Soffels-Karl", der Sophie ihr Karl, der Vater meiner Patentante Lotte war der „Eves-Karl". Das wusste auch der Postbote, und man schrieb am besten diesen Namen als Adresse. Als Kind war ich auch später in den Sommerferien in Blankenstein, und ich erinnere mich, dass es hieß, wir gehen jetzt zum Eves-Karl, der eine kleine Gastwirtschaft hatte, an der aber „Inhaber Karl Langheinrich" stand.

Meine Großeltern wohnten zuerst in der Schulstraße 125 in einem zweistöckigen Doppelhaus, wenn man davor steht auf der rechten Seite im 1. Stock. Da das Haus am Hang lag, war der Keller mit dem Waschhaus praktisch im Erdgeschoss. Im 2. Stock wohnte mein Onkel Hans Hoffmann mit seiner Frau Sophie und den beiden Söhnen Walter und Joseph, genannt Sepp. Er ist nur 5 Jahre älter als ich, und wir wuchsen wie Geschwister auf, solange ich bei meinen Großeltern war. Ich nannte meine Großeltern Mutter und Vater (Vadder), weil sie so von ihren Kindern genannt wurden. Wie die meisten im Dorf, arbeiteten auch meine Onkel und Tanten in der Papierfabrik. Mein ältester Onkel Max, Jahrgang 1901, fuhr eine Lok der Kleinbahn, Onkel Hans, Jahrgang 1903, war Kochermeister. In riesigen Kupferkesseln wurden die Holzspäne gekocht, bis sich die Zellulose löste.

Nachdem mein Vater 1933 seine Meisterprüfung abgelegt hatte, heirateten meine Eltern und aus mir wurde Hans Gerhard Karl Beck. Da mein Opa Hermann damals erst 54 Jahre alt war und Onkel Carl als ältester Sohn das Vorrecht für eine Nachfolge hatte, blieben meinen Eltern wenig Chancen für eine aussichtsreiche Stellung in dem Geschäft in Schleusingen. Sie übernahmen in Schmalkalden am Stillertor 11 eine Bäckerei und Konditorei mit einem kleinen Café.

Der Beginn der Selbständigkeit war sicher nicht einfach, als Existenzgründer mit wenig oder gar keinem Eigenkapital. Das wichtigste war ein Kundenkreis mit regelmäßigem Umsatz, dann erhielt man von den Lieferanten die Waren auf Kredit, Zahlungsziel 30 Tage nach Lieferung. Die Einrichtung des Cafés stellte eine Brauerei, mit der man einen Exklusivvertrag hatte. Im Café half zuerst meine Tante Herta, die aber dort ihren späteren Mann Alfred Kirsch, einen Angestellten, kennenlernte. Der war aber sehr eifersüchtig, wie mir Tante Herta, inzwischen (1999) 88 Jahre alt und immer noch in Schmalkalden lebend, vor Kurzem mitteilte. Sie gab diese Tätigkeit auf und dafür kam meine Tante Marie, die dort ihren späteren Mann Franz Conrad, einen Fleischer, kennenlernte.

Die Zeit von 1930 bis 1933 war nicht politisch neutral, schon gar nicht in Thüringen und in Schleusingen. Hermann Beck und seine Frau waren Deutsch-National, die Becks gehörten in Schleusingen zu den angestammten Haus- und Grundbesitzern, wenn auch das meiste von einem der Vorfahren vertrunken und verspielt worden war. Als sich in Thüringen die NSDAP breit machte, wollte man auch in Schleusingen nicht zu spät kommen. Es muss sogar eine Situation gegeben haben, dass man den jungen Leuten einredete, nur wenn sie in die Partei eintreten würden, hätten sie Chancen für ihr Fortkommen, wenn die Partei an die Macht kommt. Der eine war beim NSKK, dem Kraftfahrerkorps, der andere bei der SA oder bei der SS, und jeder bemühte sich um eine führende Stellung in den im Aufbau befindlichen NS-Organisationen. So kann ich es mir erklären und wieder nicht erklären, warum mein Vater bereits 1930 Mitglied der NSDAP wurde, ohne dass er je in der Partei eine führende Rolle gespielt hat. Er trat zwar 1933 in die SA ein, brachte es aber nur zum Scharführer bei der Pionierabteilung der SA später in Saalfeld. In die SA ist er offenbar in Schmalkalden eingetreten, denn das Café Beck war das sogenannte Sturmlokal der dortigen SA. Von diesen Geschichten weiß ich nur aus gelegentlichen Erzählungen und mir ging es nicht anders als vielen anderen jungen Menschen, die in die Nazizeit hinein geboren worden waren. Es gab damals aber nicht nur Nazis, die „Roten" von Suhl waren gefürchtet, wenn es aus dem einen oder anderen Grund zu Zusammenstößen oder Saalschlachten kam.

Meine Eltern holten mich nach Schmalkalden und dort wurde am 25. Oktober 1934 mein Bruder Klaus Dieter Hermann geboren. An Schmalkalden habe ich nur eine Erinnerung, nämlich dass mich mein Vater einmal „versohlt" hat, weil ich angeblich nicht im Dunkeln bei verschlossener Tür schlafen konnte und wollte. Meine Mutter war nicht zu Hause, sie war zu einem Treffen der NS-Frauenschaft, und ich war von meinem Vater nicht zu beruhigen.

Wir blieben nur bis 1935 in Schmalkalden, weil meine Eltern Pleite machten. Viel Schulden werden sie nicht gehabt haben, aber es reicht ja, wenn man nicht mehr zahlungsfähig ist oder keinen entsprechenden Bürgen hat. Das Thema Bürgschaft erwähnte meine Mutter gelegentlich, wenn das Thema Schleusingen eine Rolle spielte. Ob mein Opa nicht konnte oder nicht wollte, weiß ich nicht, aber meine Eltern blieben ohne Bürgen.

Wenigstens wurden wir von 1935 bis Ende Februar 1936 in Schleusingen aufgenommen. Opa war der Chef und hatte die Bäckerei unter sich, Onkel Carl besorgte die Konditorei und Oma herrschte über dem Café. Unsere Eltern durften mithelfen ohne irgendeine eigene Verantwortung.

Der Weg in die Selbständigkeit

Nach den Erzählungen unserer Eltern bemühten sie sich, in verschiedenen Orten um die Übernahme einer Bäckerei. Die Chancen, ein gut gehendes Geschäft zu übernehmen, waren gering, denn für eine solche Geschäftsübernahme benötigte man Kapital oder ausreichenden Kredit, der nicht vorhanden war. Schließlich fanden sie in Saalfeld in der Semlerstraße 11 in der Bäckerei Anemüller eine Chance für eine eigene Existenz. Am 1. März 1936 fand der Umzug statt und ich erinnere mich, dass ich mit in der Fahrerkabine des Möbelwagens von Schleusingen nach Saalfeld fuhr. Am 11. März würde mein 6. Geburtstag sein, und nach Ostern sollte ich in die Schule eingeführt werden. Viel Umzugsgut hatten wir nicht, wir hätten auch nicht viel haben dürfen.

Die Bäckerei von Karl Anemüller war frei geworden, weil er an der sogenannten Bäckerkrankheit, einem chronischen Hautausschlag, litt. Das Haus, in dem die Bäckerei lag, war zweistöckig, mit einem ausgebauten Dachgeschoss. Man kommt dorthin vom Meininger Hof in Richtung Garnsdorf fahrend, wobei die Straße allmählich sachte und dann stärker ansteigt. Linker Hand lag der Komplex des Städtischen Krankenhauses, dann kam man an eine Kreuzung, von der aus nach links die Semlerstraße, nach rechts der Eckardtsanger, halbrechts der Rainweg und geradeaus weiterführend die Melanchthonstraße verliefen. Entsprechend der Steigung der Melanchthonstraße war das Haus Semlerstraße 11 am Hang gebaut, die Bäckerei war praktisch im Souterrain gelegen.

Der Hof hinter dem Haus lag in der Höhe des 1. Stockes, in der sich die Wohnung der Familie Anemüller befand. Dort bekamen wir zwei Zimmer, ein kleineres Schlafzimmer und ein größeres Wohnzimmer mit einem winzigen Erker an der zur Kreuzung gewandten Seite. Dort war Platz für das übliche Elternschlafzimmer, bestehend aus dem Doppelbett, zwei Nachttischchen rechts und links, und der Kleiderschrank passte gerade in das Zimmer, mit Platz für ein Kinderbett für meinen zweijährigen Bruder Dieter. Die Möbel waren offenbar aus einfachem Fichten- oder Kiefernholz ohne Furnier, vielmehr mit einer Furnierimitation im hellbraunen Holzton angestrichen. Für das Wohnzimmer hatten wir einen Tisch mit vier Stühlen und eine sogenannte Kredenz aus dunkelfurniertem Holz. Dann war noch Platz für ein Bett für mich, ein Metallbett, weiß angestrichen, ähnlich einem Krankenhausbett. Im 2. Stock wohnte die Familie des Rechtsanwalts Viktor Rötzsch und im Dachgeschoss die Familie Martin. Dort war auch noch eine kleine Dachkammer für uns.

Die Bäckerei war mit einem Lebensmittelladen verbunden, damals firmierte man „Bäckerei und Kolonialwarenladen". Der Laden selbst lag unter unserem Wohnzimmer und war daher relativ groß, das Schaufenster ging zur Semlerstraße und der Eingang lag unter dem Erker. Etwa in der Mitte der Hausfront lag der Eingang zur Bäckerei, rechts davon ein kleiner Raum, den wir zwar Küche nannten, der aber nur ein Raum war, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden. Gekocht wurde nämlich auf einem Gasherd, der in der Backstube neben der „Küche" stand. Von der großen Backstube kam man zum zweiherdigen Dampfbackofen. Von dort ging es in den Laden und in einen Anbau, in dem sich auch der spätere Luftschutzkeller befand. Schließlich kam man zu dem Kellertreppenaufgang in den 1. Stock, von dem man in den Heizungs- und Kohlenkeller kam. Der Backofen hatte nämlich eine indirekte Feuerung, nicht wie bei dem sogenannten altdeutschen Ofen mit Brustfeuerung. Das war der erste Vorteil des modernen Backofens, bei dem man auch zwischendurch wieder feuern konnte. Der zweite Vorteil hängt mit dem Namen Dampfbackofen zusammen, in dem keineswegs mit Dampf gebacken wird. Es werden vielmehr zu Beginn des Backprozesses von Brot und Brötchen mittels eines Dampfstoßes schlagartig die Poren der Außenhaut geschlossen. Dadurch kann das Backgut gut aufgehen. Es gab noch weitere Vorteile, so ließ sich die Ofentemperatur besser regeln und außerdem war es immer warm im Winter.

Die übrige Ausrüstung war einfach. Eine große Knetmaschine mit einem Ersatzkessel und eine Brötchenteigteilmaschine. Bäckerarbeit war harte Muskelarbeit beim Wirken des Brotes oder der Brötchen. Dazu gehörten die Arbeitstische und die Regale, in denen die Brote und Brötchen auf Brettern „aufgingen".

Einige Bemerkungen sollen zu der Ausgangsposition für die Zukunftsaussichten des Geschäftes folgen. Sie waren eigentlich nicht sehr erfolgversprechend, denn gegenüber, auf der anderen Seite der Kreuzung, gab es eine weitere Bäckerei, deren Besitzer den sinnigen Namen Wurmehl hatte, die ebenfalls relativ modern ausgerüstet war. Der Backofen hatte sogar eine Ölfeuerung, was damals selten war und wo gelegentlich kleinere Brände infolge Betriebsstörungen vorkamen. Meine Eltern konnten nur hoffen, dass die Kundschaft des Bäckers Anemüller auch die Kundschaft des neuen Inhabers bleiben würde.

Eine Verbesserung der Chancen war die Kombination mit dem Lebensmittelverkauf, außerdem arbeiteten meine Eltern mit minimalen Kosten. Mein Vater war die Hauptarbeitskraft in der Bäckerei, in der seit 1936 auch ein Lehrling, Arno Kroh, ausgebildet wurde. Das Ladengeschäft und die Buchführung waren die Aufgabe meiner Mutter, die eine Naturbegabung hatte. Ihre Schulbildung entsprach dem Niveau einer einklassigen Dorfschule in den Jahren 1914 bis 1922, in der sie allerdings durch ihre guten Leistungen auffiel. Wenn es nach ihrem Lehrer, dem Kantor, gegangen wäre, hätte sie eine höhere Schule besuchen sollen. Das war aber ein Unding für das Kind einer Fabrikarbeiterfamilie mit 10 Kindern. Meiner Mutter habe ich es auch zu verdanken, dass ich später die Oberschule besuchen durfte, obwohl es meinem Vater sicher besser gefallen hätte, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre.

1936 war für Saalfeld ein entscheidendes Jahr, denn im Nordwesten vor der Stadt wurden die Kasernen für ein Regiment Motorisierte Schützen aufgebaut. Das geschah in der Folge der von Hitler beanspruchten Wiederherstellung der sogenannten Wehrhoheit. Damals war das bis dahin entmilitarisierte Rheinland von deutschen Truppen besetzt worden, ohne Gegenaktion der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Für uns Kinder waren die Soldaten durchaus etwas positives, denn es wurde durch entsprechende Spielzeuge das Interesse geweckt. Mädchen spielten mit Puppen, Jungen mit Soldaten. Es gab die Lanolinfiguren in allen Waffengattungen und Dienstgraden, dazu Fahrzeuge und Waffensysteme, sogar sehr solide gefertigt. Mein Schulkamerad Günter Zinn, der am Eckardtsanger ganz in der Nähe von uns wohnte, hatte eine modellgetreue 15-cm-Haubitze, mit Zugmaschine etwa 300 mm lang, mit der man sogar Granaten verschießen konnte, die einen Aufschlagzünder mittels Zündblättchen hatten. Günters Eltern waren finanziell besser gestellt, da sein Vater Ingenieur in der Saalfelder Nähmaschinenfabrik war.

Ich erinnere mich lebhaft an einen „Tag der Wehrmacht", wahrscheinlich 1938 oder 1939, der im März am Tage der Wiedererlangung der Wehrhoheit begangen wurde. Die Bevölkerung war in die Kaserne eingeladen. Es gab militärische und sportliche Veranstaltungen und Verpflegung aus der Gulaschkanone. Es mag jetzt etwas seltsam klingen, aber die Linsen mit Blutwurst von damals habe ich als so schmackhaft in Erinnerung, wie ich sie nie wieder gekostet habe. Weder hausgemacht noch aus der Konserve, weder im Schnellimbiss noch im Restaurant hat es mir so gut geschmeckt.

Zurück ins Jahr 1936, wo ich nach Ostern in die nahe gelegene Schule ging, die ganz neu war und zeitgemäß „Adolf-Hitler-Schule" hieß. Es gibt eine Aufnahme aus dieser Zeit, zwar nicht mit dem Ranzen und der Zuckertüte zur Schuleinführung, aber doch in der üblichen Jungenskleidung, nämlich kurze Hose mit langen Strümpfen, die durch ein Leibchen mit Strumpfhaltern gehalten wurden. Ich hasste dieses Leibchen mit den Strumpfhaltern und trug selbst bis in den Winter hinein Kniestrümpfe, selbst bei Schnee. Die Frisur war eine sogenannte Panzerkuppel, hinten kurz geschoren und vorn kurze Haare ohne Scheitel.

1936 und Jahre später noch gingen Jungen und Mädchen in getrennte Klassen, es gab in der Schule einen Gebäudeteil für Jungen und einen anderen für Mädchen. Ebenso wurde noch im ersten Schuljahr auf die Schiefertafel geschrieben, ein wichtiges Utensil waren Schwamm und Lappen. Als Schreibschrift lernten wir noch die schon erwähnte Sütterlinschrift. Der erste Buchstabe war das kleine i: Rauf, runter, rauf und ein Pünktchen drauf! Im zweiten Schuljahr wurde auf die lateinische Schrift umgestellt, und wir durften schon mit Bleistift in die Hefte schreiben. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich keine Probleme mit dem Lernen. Meine Mutter musste nicht mit mir üben, sie hätte auch gar keine Zeit gehabt. Später in der Oberschule war ich ohnehin auf mich selbst gestellt, aber das Lernen machte mir Freude und ich gehörte, wie man so sagt, zu den „guten" Schülern.

Während meiner Schulzeit hatte ich eine gewisse Unart entwickelt, die mit den Lebensgewohnheiten der Eltern zusammenhing. Mein Vater musste sehr früh aufstehen, um den Ofen anzuheizen und den Teig vorzubereiten. Als erstes waren die Brötchen an der Reihe, die gegen 6 Uhr fertig gebacken waren. Demzufolge hatte mein Vater keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Meine Mutter hingegen war bis spät in die Nacht beschäftigt fürs Geschäft und den Haushalt. Demzufolge schlief sie noch, wenn ich in die Schule gehen musste, da der Unterricht oft schon um 7 Uhr begann. Ich ging also ohne vorheriges Frühstück in die Schule, die Semlerstraße und die Schillerstraße entlang, bei der Katholischen Kirche nach rechts einbiegend, noch etwa 200 m bis zum oberen Eingang. Auch für die Pause hatte ich nichts mit, obwohl doch sicher ein „angeschobenes" Brötchen gereicht hätte. So hielt ich es manchmal bis zur vierten Stunde mit nüchternem Magen aus, bekam aber gelegentlich in der fünften Stunde einen Hungerast mit Kopfschmerzen. Es gab aber auch eine Art Schulspeisung, nämlich Milch oder Kakao in ¼-Literflaschen und Salzbrezeln. Durch dieses „Training" hatte ich mir angewöhnt, dass ich auch während meiner Berufszeit ohne zweites Frühstück auskommen konnte. Sehr viel Fleisch bekam ich dadurch nicht auf die Knochen, auch wegen meiner Körpergröße, so dass mich meine Mutter auch später noch „Dürrländer" nannte.

Das Geschäft meiner Eltern ging gut, wir hatten einen festen Kundenstamm, der allerdings nicht groß genug war, um ein Kapital anzusammeln. Es reichte wohl immer von Monatsanfang bis Monatsende, nicht genug für einen Lohn für einen Bäckermeister und eine Verkäuferin. Wahrscheinlich waren noch Schulden in Schmalkalden abzuzahlen. Der Lebensstil war sehr bescheiden, für den Wocheneinkauf beim Fleischer mussten 5 Mark reichen, daher haben wir auch noch Schweine und Kaninchen gehalten. Für die Schweine gab es einen Stall im Hofgebäude, in dem auch das Waschhaus und ein Hühnerstall untergebracht waren. Die Kaninchen waren in einem der damals üblichen Kaninchenställe untergebracht. Zur Menagerie gehörte auch mindestens eine Katze, denn eine Bäckerei zieht Mäuse an.

Ein positives Element war, dass mein Vater nach seiner Bäckerlehre noch auf der „Walz", der Wanderschaft, bei verschiedenen Konditoren in die Lehre gegangen war, u. a. auch in Nürnberg. Dort hatte er gelernt, wie man echte Nürnberger Lebkuchen herstellt, für die wir in der Weihnachtszeit einen guten Absatz hatten. Ein Kuchengeschäft gab es auch, wenn auch nicht in einem solchen Umfang, wie es heute ein Bäcker hat. Konditoreiware ist eine riskante, weil leicht verderbliche Ware. Schließlich gab es damals höchstens Eisschränke, die mit Stangeneis aus dem Schlachthof geladen wurden, von Tiefkühlschränken träumte noch niemand. Es war eine meiner Aufgaben, mit dem Fahrrad zum Schlachthof an der Saale zu fahren und eine Stange Eis, für 30 Pfennig, zu holen, die in einem festen Jutesack untergebracht war und immer wieder vom Gepäckträger rutschte. Ich konnte ohnehin den größten Teil des Rückwegs nur schieben, weil es ständig bergauf ging. Apropos Fahrrad. Das war meine erste Leidenschaft, die durch unseren „Stift" Arno Kroh gefördert wurde. Ich hatte bereits mit 6 Jahren ein Fahrrad, natürlich nicht etwa neu. In Richtung Graba-Remschütz gab es eine Müllhalde, auf der auch alte Fahrräder „entsorgt" wurden. Wenn man Glück hatte, konnte man aus verschiedenen Fahrrädern eines zusammenbauen, das sogar funktionierte. Arno baute mir ein Damenfahrrad zusammen, denn bei einem Herrenfahrrad hätte ich mein Bein nicht über die Querstange gebracht. Die Schläuche waren mehrfach geflickt, und ich lernte beizeiten, ein Loch zu erkennen und zu flicken. Die Kette riss gelegentlich, und auch das lernte ich, wie man sie wieder in Ordnung bringt. Beleuchtung gab es keine, ein Dynamo kostete schon etwas.

Ein Fahrrad haben ist die eine Sache, es zu fahren, die andere, zumal für einen Sechsjährigen mit einem Erwachsenenfahrrad. Ich hatte aber keine Probleme, denn es gab praktisch keinen Autoverkehr, von gelegentlichen Lieferfahrzeugen abgesehen. Ich legte auch keine Touren zurück, auf der ebenen Semlerstraße hin und zurück machte auch schon Spaß zu fahren. Übrigens das bekannteste private Fahrzeug war ein Opel P 4, dessen Besitzer und Fahrer „Bauchlenker" genannt wurde, weil er so stattlich gebaut war, dass sein Bauch das Lenkrad berührte.

Als Kind hat man in der Familie einige Aufgaben, die man teils widerwillig, teils spielerisch übernimmt. Wege besorgen ist nicht eine spaßige Sache. Eigentlich wollte man ja gerade zu einem Freund gehen oder der beste Vorwand, man muss noch Schularbeiten machen. Aber manche Aufgaben mussten eben erledigt werden. Eine davon war das schon erwähnte Brötchenaustragen am frühen Morgen vor der Schule. In der Nachbarschaft gab es zahlreiche einzelnstehende Häuser, in denen besser situierte Bürger lebten. Zwei Häuser weiter in der Semlerstraße stand die Eckardtsche Villa, die dem Besitzer der Saalfelder Malzfabrik gehörte. Auch in der Melanchthonstraße gab es zahlreiche villenähnliche Häuser. Viele der dort wohnenden Familien erhielten täglich frische Brötchen, die in individuellen Beuteln, meist mit Namen versehen, entweder an die Haustür gehängt oder auch manchmal an einer zum Küchenfenster heraushängenden Schnur befestigt wurden. So hatte ich etwa eine halbe Stunde zu tun, bevor ich in die Schule gehen konnte. Dann musste ich auch Milch in den üblichen Aluminium-Kannen holen. Der Milchladen Enders lag am oberen Ende des Rainwegs, vielleicht in 200 m Entfernung. Hier befand sich die sogenannte Siedlung, eine Anordnung von mehrstöckigen Häusern, in denen vorwiegend Arbeiter wohnten. Dort gab es auch ein Lebensmittelgeschäft, das ein anderes Sortiment als wir hatte. Ich erinnere mich unrühmlich an einen Auftrag, bei dem ich Majoran besorgen sollte. Ich hatte keine Ahnung, was Majoran war, und sagte mir den Namen immer wieder vor. Im Laufe des Wegs wurde aus Majoran Meerane, das ich irgendwann einmal gehört hatte, von dem ich aber auch nicht wusste, was es war. Unverrichteter Dinge musste ich wieder umkehren, weder wir noch der Laden hatte Telefon, um die Unklarheit zu beseitigen.

Eine zweite Pflicht war mir unangenehm, nämlich Aufmerksamkeiten an die Kunden auszutragen, z. B. zur Konfirmation eine Karte oder einen Blumenstock, mit den besten Empfehlungen von den Eltern. Eigentlich kein Problem und so viele Konfirmanden gab es auch nicht, aber einen Diener machen und einen schönen Spruch aufsagen, war nicht meine Art. Dann wurde ich ab und zu in die Gaststätte „Zur Eiche" geschickt, um in einem Glaskrug Bier zu holen. Ich musste dazu den gesamten Eckardtsanger entlang laufen, wo die Gaststätte an dem Sportplatz lag. Hinter dem Sportplatz verlief der Siechenbach und links davon lagen die Anlagen der Gärtnerei Gottschalk, wo wir immer unsere Blumen kauften, auch die Blumenstöcke für die Konfirmanden.

Viel lieber ging ich spielen, entweder zu meinem Schulkameraden Günter Zinn, in einem Schuppen, Schupfen genannt, dessen Wände aus Lattenrosten bestanden. Der Boden war mit Sand oder Erde bedeckt, und wir konnten ideal mit den Soldaten spielen, was ich schon erwähnt habe. Wir stromerten auch in der Gegend herum, ein beliebtes Ziel war das Tal des Siechenbaches, das am sogenannten Siechenhaus in der Nähe des Meininger Hofs begann und sich bis zum Gelände um das Obstgut Gehlen erstreckte. Das Wasser war klar, so dass es sogar Forellen gab und dazu Geschichten, wie man sie am besten mit der Hand fangen könne: Uhu-Kleber verteilen, dann die Handflächen auf trockenen Sand bringen. Schon hatte man eine rauhe Falle, aus der die schlüpfrigen Fische nicht entkommen konnten. Ich habe es aber nie geschafft. Dagegen Dämme bauen oder Rindenschiffe schnitzen, das schafften wir in vielen Variationen.

Wir haben kein Familienarchiv mit sortierten und beschrifteten Bilder. Mein Vater hatte eine Rollfilmkamera für 6,5x9-Bilder und wenn wir einen der seltenen Ausflüge machten, entstand das eine oder andere Bild. Da gibt es eines, auf dem mein Bruder Dieter im Sportwagen (natürlich der Variante des Kinderwagens!) sitzt, vermutlich aus dem Jahre 1937 oder 1938. An zwei etwas größere Ausflüge erinnere ich mich. Der eine führte über Arnsgereuth, Dietrichshütte nach Schwarzburg, Bad Blankenburg und der andere über Bucha nach Hohenwarte, wo gerade die Sperrmauer für die untere Saaletalsperre gebaut wurde. Die Sperrmauer war etwa bis zur Hälfte fertiggestellt und auch so schon ein imposantes Bauwerk.

Dass es auf den Krieg zugehen würde, merkte man als Kind nicht. Die Presse und das gesamte Informationswesen waren gleichgeschaltet. Wir besaßen zwar einen Volksempfänger, aber man konnte und durfte nur die verschiedenen Sender des Deutschen Rundfunks hören, z.B. den Reichssender Leipzig oder den Deutschlandsender aus Königswusterhausen. Von der Zeit vor der Machtergreifung wurde nur als der sogenannten „Systemzeit" gesprochen, die durch Hitler überwunden worden war. Aus einem Buch hätte ich etwas lernen können, aber ich verstand die Begriffe nicht. Es war ein Album mit Zigarettenbildern, das die Geschichte nach dem ersten Weltkrieg, eben der „Systemzeit", darstellte. Jeder Zigarettenschachtel waren kleine bunter Bildchen beigelegt, mit bestimmten Serien, die man sammeln und in ein Album einkleben konnte. Es gab verschiedene Themen, je nach Zigaretbistenmarke. Aus dem erwähnten Album sind mir viele Bilder fest in der Erinnerung geblieben. Abrüstung: In Essen werden große Geschütze mittels Schweißbrennern zerlegt. Bürgerkrieg in Berlin: Im Zeitungsviertel verschanzen sich Schützen hinter Rollen von Zeitungspapier. Mord an Walter Rathenau. Nord-Polarexpedition: Gefrorene Äpfel werden mit einer Säge zerteilt. Zeppelin über Berlin. Dann gab es noch Abkürzungen wie KPD oder SPD, Begriffe wie Stahlhelm, Völkerbund, was war das? Darüber sprach niemand.

Eine andere Art von Information bot ein ständiger Zeitungsschaukasten am Zaun des Krankenhauses an der Ecke Semlerstraße / Promenadenweg, der später in Ernst-von-Rath-Straße umbenannt wurde. Ernst von Rath war Botschaftsattaché an der Deutschen Botschaft in Paris, der im Oktober 1938 von dem jüdischen Emigranten Herschel Grünspan erschossen wurde, weil dessen Verwandte in Deutschland verfolgt worden waren. Die Nazis nutzten dies zur Massenaktion gegen jüdische Bürger in der sogenannten „Reichs-Kristall-Nacht". Die vorbereitende und begleitende Hetzpropaganda lieferte in dem Aushang die Zeitung „Der Stürmer", herausgegeben von dem Nürnberger Gauleiter der NSDAP, Julius Streicher. Es gab damals einige jüdische Geschäfte in Saalfeld, wahrscheinlich auch jüdische Rechtsanwälte oder Ärzte. Ich erinnere mich noch an das Schuhgeschäft „Katz" am Markt neben der Sparkasse, in dem man gute preiswerte Schuhe bekam.

In dem „Stürmer" wurden neben den üblichen Hetzartikeln auch „Volksgenossen" an den Pranger gestellt, die in einer oder anderer Form Beziehungen zu Juden hatten. Die Boykottaufrufe „Kauft nicht bei Juden" waren ständiges Thema. Umso überraschter war ich, als ich eines Tages den Namen meines Vaters dort als Kunden einer Weinhandlung fand, die im jüdischen Besitz war. Nun hatte ich schon erwähnt, dass der Lebensstil meiner Eltern ziemlich bescheiden war. Eine Flasche Wein war eine Seltenheit für einen Geburtstag oder zu Weihnachten. Wie kamen wir in die Kundenliste? Es war üblich, dass gelegentlich Reisende kamen und die verschiedensten Artikel anboten, so auch ein Weinreisender. Er überredete meine Eltern, probeweise eine kleine Bestellung aufzugeben, es waren wohl nur 6 Flaschen, wahrscheinlich ein Sonderangebot für 10 Mark! Dass es sich um eine jüdische Firma handelte, kam nicht zur Sprache, wäre auch nicht verkaufsfördernd gewesen. Unmittelbare Nachteile hatten meine Eltern nicht, aber später gab es Schwierigkeiten, auf die ich noch zurückkommen werde.

Soldatenbrot wird gebraucht

Mit der Stationierung des Mot.-Schützenregiments in Saalfeld war es auch notwendig, die Soldaten mit Brot zu versorgen, dem sogenannten Kommiss-Brot. Um solches Brot in größeren Mengen herzustellen, bedurfte es entsprechender Kenntnisse und Ausrüstungen. In Saalfeld gab es in der Brudergasse die Bäckerei Demmler, der die Brotlieferung  übertragen wurde. Kurt Demmler, der Inhaber, war bei seinen Kollegen als der sogenannte „Buch-Bäcker" bekannt. Er war nämlich eigentlich Ingenieur für Elektrotechnik geworden und hatte nichts mit dem elterlichen Geschäft im Sinn. Als aber sein Vater vorzeitig starb, entschloss er sich, seine Meisterprüfung „aus dem Buch" zu machen, praktische Kenntnisse erwirbt man automatisch, wenn man in einer Bäckerei aufwächst. Kurt Demmler konnte auch Kommiss-Brot backen, aber irgendwie reichte seine Kapazität nicht, denn die normale Bäckerei lief parallel. Also suchte man einen weiteren Bäcker zur Unterstützung und das war mein Vater, der ebenfalls gelernt hatte, Kommiss-Brot zu backen.

Kommiss-Brot wird aus stark ausgemahlenen Roggenmehl gebacken, zivil heißt eine Variante daher auch Schwarzbrot. Weitere Eigenschaften des Brotes sind der höhere Säuregrad und der geringe Wasseranteil, wodurch sich das Brot länger hält, sowohl von der Bekömmlichkeit her als auch hinsichtlich der Unempfindlichkeit gegen Schimmelbefall. Der Teig eines Kommiss-Brotes war so fest, dass man den Teigklumpen auf der Hand halten konnte, ohne dass er wesentlich seine Form geändert hätte. Dann wurde das Kommiss-Brot zu je vier Stück im Gewicht von je 1.5 kg auf einem Blech gebacken, dadurch war es auch leichter stapelbar.

Durch die Kommiss-Brot-Bäckerei kam eine gewisse Sicherheit in das Geschäft, wenn gleich mit Brotbacken grundsätzlich nicht viel zu verdienen war. Ein normales 4-Pfund-Brot kostete damals 60 Pfennige. Bei den Heereslieferungen wurde das Mehl gestellt, und neben der Erstattung der Unkosten blieb nur ein kleiner Betrag pro Brot von wenigen Pfennigen.

In der Umgebung von Saalfeld tat sich aber mehr als nur der Kasernenbau. In dem kleinen Ort Schwarza, den ich schon erwähnt habe, entstand die ebenfalls schon erwähnte Zellwollefabrik, sogar mit einem großen Propagandaaufwand der Partei verbunden. Das Projekt ordnete sich in die Aktivitäten des 5-Jahresplans ein, mit dem Göring das Reich von Importen unabhängig machen sollte. Autark sollte Deutschland sein, ohne Probleme auch eine Blockade seitens der „feindlichen" Mächte durchstehen können. Es gab ja bereits Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg, als die deutsche Chemieindustrie Stickstoff aus der Luft zur Herstellung des für das Schießpulver benötigten Chilesalpeters gewinnen konnte. Dann kam das synthetische Benzin und der synthetische Kautschuk, alles über die Kette Karbid-Ammoniak aus der Kohle als Basis, die in Deutschland reichlich vorhanden war. Erdöl wäre noch besser gewesen, aber es waren nur geringe Vorkommen in Nordwestdeutschland erschlossen. Die Zellwolle sollte die Baumwolle ersetzen, die vorwiegend aus Ägypten kam, das im englischen Einflussbereich lag.

In Saalfeld gab es einen großen Aufmarsch auf dem Gelände an der Saale unterhalb des Schlosses, wo jedes Jahr das Vogelschießen, der Rummel, stattfand. Es kann sein, dass es schon 1938 war, vielleicht auch erst 1939. Alle Organisationen der Partei hatten Dienst und die „Volksgenossen" waren auch eingeladen. Der Gauleiter der NSDAP, Fritz Sauckel, sollte sprechen. Sauckel, der hinter der vorgehaltenen Hand auch Sau-Leiter Gauckel genannt wurde, spielte, wie viele Nazigrößen, eine unrühmliche Rolle und wurde im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Von seinen Untaten, auch im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Buchenwald, war seinerzeit natürlich keine Rede. Aber seine Bemühungen, aus Thüringen einen Schutz- und Trutz-Gau zu machen, sollten ihm besonderes Ansehen bei Hitler auf Kosten der Thüringer Bevölkerung verschaffen. Sauckel war sogar in Zivil, und er verkündete sogleich, dass sein Anzug aus der Zellwolle hergestellt sei, die man dann in Schwarza herstellen würde. Man könnte, so erinnere ich mich genau, sogar Kartoffelkraut als Rohstoff verwenden, und das gab es jedes Jahr in Unmengen und brauchte nicht erst extra angebaut werden. Das mit dem Anzug war natürlich Unsinn, und Zellwolle war natürlich ein Ersatzstoff in der ersten Zeit. Heute, wo man gelernt hat, dieses Material knitterarm oder gar knitterfrei herzustellen, spricht niemand mehr von Zellwolle. Es heißt Viskose, und mancher Katalog eines Versandhauses oder die Werbeschrift eines Bekleidungshauses versucht den Kunden einzureden, dass Viskose etwas Edles ist.

Für die Saalfelder interessant war der Bau eines kleinen Flugplatzes auf den Saalewiesen nahe der Bahnlinie Saalfeld - Rudolstadt. Es war zwar nur eine große Wiese, auf der die Starts und Landungen stattfanden, aber es war ein Hauch der modernen Zeit, den man dort verspüren konnte. Vermutlich entstand er, um für kleine Geschäftsflugzeuge eine rasche Verbindung mit den Zentren der Industrie zu gewährleisten. Es gab aber auch einen regen Betrieb mit Segelflugzeugen, die entweder mit der Winde oder mit dem Schleppflugzeug in die Luft gingen. Ich erinnere mich an eine Reihe von Sonntagsausflügen der Familie nach Schwarza, besonders wenn ein Flugtag angesagt war.

Eine oft besuchte Attraktion der „Zellwolle", wie sie kurz genannt wurde, war das im Werksgelände gelegene Schwimmbad mit dem Wellenbad, das auch während der Kriegszeit frei zugänglich war. Im Sommer fuhren wir mit dem Fahrrad nach Schwarza ins Bad, weil es in Saalfeld keine offizielle Badegelegenheit mehr gab. Ursprünglich gab es in der Saale auf halbem Wege zur Schokoladefabrik „Mauxion" eine Flussbadeanstalt, bestehend aus einer Liegewiese und im Wasser verankerten Absperrungen aus Balken. Als dann auch die Hohenwarte-Talsperre fertiggestellt und in Betrieb genommen war, floss im Wesentlichen kaltes Wasser aus der Tiefe des Stausees mit entsprechendem Druck durch die Turbinen. Auf dem kurzen Weg bis Saalfeld konnte es sich nicht auf annehmbare Temperaturen erwärmen und damit war Schluss mit dem Saalebad.

Es gab damals übrigens nahezu utopische Pläne mit der Saale. Man wollte eine schiffbare Verbindung mit dem Main herstellen und dafür mit einigen Staustufen den Thüringer Wald in der Gegend von Probstzella überqueren. Aus dem Projekt wurde aber nichts.

Inzwischen näherte sich der Krieg immer mehr: Die kommunistische Partei hatte vor 1933 ihren Kandidaten Ernst Thälmann gegen Hitler aufgestellt und warb mit dem Schlagwort: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!" Aber die kommunistische Partei war zerschlagen, es gab keine offizielle Opposition. Der Einmarsch ins Rheinland, die Rückgabe des Sudetenlandes und Österreichs: „Heim ins Reich!" und Zerschlagung der Tschechoslowakei waren nach Hitler und der Propagandamaschinerie von Goebbels nur Schritte, um Deutschland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Frieden zu sichern. Parallel dazu lief der Aufbau der direkten Rüstungsindustrie, ein Mittel, um die auch bis 1938 anhaltende Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Es gab damals einen Witz, der nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde. Ich bin sogar sicher, dass ich ihn erst später, vielleicht nach dem Zusammenbruch 1945, gehört habe: Ein Arbeitsloser hat Arbeit in einer Nähmaschinenfabrik gefunden, die auf vollen Touren läuft. Sein Freund sagt, das wäre ja großartig, er bräuchte eine Nähmaschine. Da könne man doch immer mal wieder ein paar Teile mit nach Hause nehmen und so eine Nähmaschine zusammenbauen. Die Antwort war, das habe er schon zweimal versucht, aber jedesmal wäre es nicht eine Nähmaschine sondern ein Maschinengewehr geworden.

Im Sommer 1939 begannen die Provokationen der Nazis gegenüber Polen. Dann kamen der Stalin-Hitlerpakt, die Inszenierung des Überfalls auf den Sender Gleiwitz und schließlich der Überfall auf die Westerplatte am 1. September. Meine Eltern hatten in dieser Zeit offenbar keine Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft. Im Gegenteil wollten sie langfristig für die Zukunft vorsorgen. Sie wollten dem durch die Bäckerei Wurmehl ständig vorhandenen Konkurrenzdruck entgehen und suchten einen besseren Standort. Eine günstige Gelegenheit bot sich in dem neu erschlossenen Siedlungsgebiet auf dem Gelände südlich der Gorndorfer Straße. In diesem Gebiet würde es in einem Umkreis von 500 Metern Radius keinen Bäcker geben, und es war mit einem großen Kundenkreis zu rechnen. Man hatte schon begonnen, die bekannten Siedlungshäuser, jeweils als Doppelhäuser, zu bauen. Meine Eltern erwarben an der Gorndorfer Straße einen Bauplatz, daneben sollte eine Fleischerei entstehen. Die Baugrube wurde von Hand ausgehoben und der Baubeginn war für Donnerstag, den 29. August 1939 geplant. Es kam aber irgendetwas dazwischen. An einem Freitag wird aus Aberglauben kein Bau angefangen, also dann Montag! Und am Sonntag verkündete Hitler: „Ab heute 5 Uhr 45 wird zurück geschossen!" Es war keine Rede davon, am Montag anzufangen, alle Bauarbeiten wurden vorläufig gestoppt. Später wurde entschieden, dass alle vor dem 1. September begonnenen Bauten fertiggestellt werden können, Pech für meine Eltern!

Der Krieg und die Heereslieferungen

Mein Vater war 1939 zunächst nicht von einer Einberufung bedroht. Der Polenfeldzug „der 18-Tage-Krieg" wurde von den stehenden Waffengattungen der Wehrmacht durchgezogen; insbesondere die Panzer und die Luftwaffe waren dem polnischen Heer überlegen, das sogar noch Reiterregimenter einsetzte. Bei der Bombardierung von Warschau wurden die Sturzkampfbomber Ju 88 eingesetzt, deren Sirenenton beim Sturzflug demoralisierend wirkte. Die Luftwaffe war im Spanischen Bürgerkrieg in der berüchtigten Legion Condor erprobt worden. Wir hofften auch, dass mein Vater wegen der Heereslieferungen u.k. (unabkömmlich) gestellt würde.

In diese Zeit gehört eine Geschichte, die immer wieder im Luftschutzkeller, im Familienkreis und sogar noch nach dem Krieg erzählt wurde. Der letzte Krieg 1914-18 lag lange zurück, aber die Erinnerung an Hunger und Mangel war eigentlich geblieben. So hätte man annehmen müssen, dass es im Sommer, spätestens im August 1939, zu Hamsterkäufen kommen würde. Das war an sich nicht so einfach, weil teilweise Lebensmittel wie Butter bereits auf Lebensmittelkarten ausgegeben wurden. Es war aber vielleicht die Meinung vertreten, die Auseinandersetzung mit Polen würde ebenso zeitlich begrenzt sein wie die Aktionen vorher. Auch der Nichtangriffspakt mit der UdSSR mochte eine solche Zuversicht verstärken. Meine Eltern dachten auch nicht an eine Vorsorge. Der Vertreter unseres Großhändlers Göritzer kam, wie ich schon erwähnt hatte, monatlich, um die Bestellungen für den kommenden Monat aufzunehmen. Ende August, als er die Bestellungen für September aufnehmen wollte, bot er meinen Eltern zusätzliche Lieferungen von Bohnenkaffee, Schokolade und anderen „Kostbarkeiten", keine großen Mengen, aber doch mehr als bisher. Da meine Eltern nicht entsprechende Beträge flüssig hatten, dankten sie und blieben bei ihrer normalen Bestellung. „Das nächste Mal soll uns das nicht passieren!" war dann stets die Schlussbemerkung. Die nächste Hamsteraktion fand in der DDR während der Kuba-Krise 1961 statt und oft wurde überlegt, was man bei einem drohenden Atomkrieg machen sollte, aber das ist ein anderes Thema.

Am 28. Oktober 1939 kam mein Bruder Wolf-Rüdiger Michael auf die Welt, für mich und meinen Bruder Dieter ohne Vorankündigung, in eine ungewisse Zeit hinein geboren. Es wurde etwas knapp mit dem Platz in der Wohnung. Meine Mutter hatte mehr als genug zu tun mit Familie und Geschäft.

Die Versorgung der Soldaten mit Brot nahm allmählich einen größeren Umfang an, neben der Kaserne kam auch noch ein Reservelazarett hinzu, das in der Adolf-Hitler-Schule untergebracht wurde. Das muss schon 1940 gewesen sein, dem Jahr, in dem ich in die Oberschule aufgenommen wurde. Auf die Oberschule gehen war eine finanzielle Belastung, denn es musste Schulgeld bezahlt werden, ich glaube im Jahr 150 Mark. Um so mehr muss ich es meinen Eltern danken, abgesehen davon dass ich der erste aus der Familie Beck war, der eine Oberschule besuchte. Die Oberschule, früher Realgymnasium, lag an der Sonneberger Straße, nur eine Straße weiter als die Adolf-Hitler-Schule. Eine ganze Reihe von Schulkameraden, darunter auch Günter Zinn, gingen mit in meine Klasse, so dass ich mich in vertrauter Umgebung empfand. An meinen ersten Schultag erinnere ich mich: wir standen mit den Eltern zwischen der Schule und einer Baracke, in der unser Klassenraum sein würde. Soweit bekannt, begrüßte man sich, und ein Vater zog den Hut, eine ganz ungewöhnliche Geste, anstelle des immer mehr verbreiteten „Deutschen Grußes".

Mit der Oberschulzeit begann auch die Zeit des Jungvolks, also wöchentlicher Dienst, wenn ich mich richtig erinnere mittwochs. Als erstes benötigten wir eine Uniform, schwarze kurze Hose, ein Braunhemd, mit dem Pimpfentuch mittels Lederknoten zusammengehalten. Dann mussten wir antreten und marschieren lernen. In einem sogenannten Heimabend wurden wir geschult, schließlich gab es die Geländespiele, eine braune Art „Räuber und Gendarm" spielen, die beginnende Wehrertüchtigung, die dann mit dem 14. Lebensjahr in der HJ intensiviert wurde.

Zurück zu den Heereslieferungen: Was sich nach Kriegsbeginn etwa im Jahre 1940 abspielte, erfuhren wir Kinder nicht. Kurt Demmler war älter als mein Vater,  hätte also die erste Chance gehabt, durch eine uk-Stellung um die Einberufung herumzukommen. Vielleicht war es aber sein eigentlicher Beruf als Ingenieur, der dringlich anderswo benötigt wurde. Vielleicht war auch die Bäckerei in der Brudergasse zu klein, in der wir später einige Zeit wohnten. Fakt war, dass meinen Eltern angeboten wurde, die gesamten Heereslieferungen zu übernehmen, allerdings sollten wir das übrige Geschäft schließen. Mit einem Dampfbackofen konnte kontinuierlich gebacken werden, außerdem sollten wir moderne Maschinen und vor allem Arbeitskräfte bekommen. Da meine Eltern hofften, dass mein Vater vor der Einberufung bewahrt wurde, war dies wahrscheinlich der entscheidende Punkt.

Aus dem Ladenraum wurde das Mehllager. Das Roggenmehl war in dicht gewebten 75-kg-Säcken abgepackt, im Gegensatz zu den üblichen Doppelzenter-Säcken aus locker gewebter Jute. Die wesentliche Neuerung in der Backstube war ein Brotwirk- und Teigteilautomat, ohne den wir die mehreren Hundert Brote pro Tag nicht geschafft hätten. Die Maschine stammte aus der „Habämfa", der Halleschen Bäckereimaschinenfabrik". Der in der großen Knetmaschine hergestellte feste Teig wurde in einen großen Trichter auf der Oberseite der Maschine gefüllt. Unter dem Eigengewicht bewegte sich der Teig auf eine Doppelschnecke zu, ähnlich einem großen Fleischwolf. Der Teig wurde noch einmal durchgewirkt und dann zu einem Strang von etwa 15 bis 20 cm Durchmesser geformt. Der Strang bewegte sich unter dem Eigengewicht nach unten und gelangte auf einen Waagebalken in Form einer mit Filz bespannten Rolle. Wenn der Waagebalken um den voreingestellten Gewichtsbetrag verstellt war, kam ein Messer und schnitt das Teigstück ab. Mit dem Schwung des Messers wurde das Teigstück auf ein Förderband geworfen und bald darauf durch die differentielle Bewegung eines darüber laufenden Förderbands fertig gewirkt. Es brauchte nur noch entnommen und in das Blech eingelegt werden, an den Seiten durch Hartpappe in Form gebracht, in der Mitte mit feinen Sägespänen bestreut, damit die Brote nicht zusammenkleben.

Nur die Weißbrote, meist salzlose Diätnahrung für Magenkranke, wurden „klassisch" herstellt, etwa 100 am Tag, dazu kamen noch mehrere Hundert Brötchen. Dafür hatten wir auch eine moderne Brötchen-Teigteil- und Wirkmaschine, in der jeweils in einem Satz etwa 40 Brötchen zunächst ausgeformt und dann gewirkt wurden.

Unser Lehrling Arno Kroh hatte inzwischen seine Gesellenprüfung abgelegt, wurde aber dann bald eingezogen und ist wenig später „Für Volk und Vaterland" gefallen. Wir hatten dann einen deutschen Gesellen aus Schwarza, der bis über das Kriegsende bei und blieb. Unser nächster Angestellter war ein zwangsverpflichteter Tscheche namens Antonin Kozka. Eines Tages brachte man ihn zu uns, er sei gelernter Bäcker. Er sprach kein Wort Deutsch und wir wussten eigentlich nicht, was wir mit ihm anfangen sollten. Irgendwie hatten wir noch erfahren oder gewusst, dass beim Friseur in der Brudergasse ebenfalls ein Tscheche arbeitete, der inzwischen etwas Deutsch gelernt hatte. Ich bekam den Auftrag, mit unserem neuen Mitarbeiter dorthin zu gehen und die nächsten Schritte zu besprechen, ich war damals höchstens 11 Jahre alt. Es sah nicht gut aus. Antonin erklärte unumwunden, er würde lieber hungern, als für die Deutschen arbeiten. Offenbar konnte aber sein Landsmann erklären, dass es ihm auch nicht schlecht ergehe und eine Bäckerei wäre das Beste gegen Hunger. Er kam wieder mit und merkte bald, dass meine Eltern ihn ordentlich behandelten. Meinen Eltern wurde später vorgeworfen, wir würden unsere Ausländer zu human behandeln, sie gehörten praktisch zur Familie. Wir hatten aber auch räumlich keine Alternative als an einem gemeinsamen Tisch zu essen, es war gar kein Platz für zwei Tische da.

Die nächsten Ausländer waren zwei Franzosen, Kriegsgefangene aus einem Lager in der Nähe der Bahnlinie nach Bad Blankenburg. Beide waren ebenfalls gelernte Bäcker. Der eine hieß Paul Vaux und stammte aus der Normandie, er war ein blonder Typ und sehr fleißig. Sein Landsmann, der soweit ich mich erinnere mit dem Vornamen Raimond hieß, stammte aus Südfrankreich und war das, was man gemeinhin einen Filou nennt. Er war klein von Gestalt und dunkelhaarig, eben wie man sich einen Südfranzosen vorstellt. Die Arbeit hatte er nicht erfunden und er gab mehrfach zum Besten, dass er nach dem Krieg sich so bald wie möglich als „Rentier" zur Ruhe setzen wolle. Ob das nur so daher gesagt oder ernst gemeint war, kann ich nicht sagen. Für einen fleißigen Deutschen war das unvorstellbar, vor Erreichen des Rentenalters von 65 Jahren sich zur Ruhe zu setzen.

Ich hatte in der ersten Zeit ihrer Arbeit bei uns eine wichtige Aufgabe, ich musste die Kriegsgefangenen nämlich von einem Sammelplatz auf dem Markt abholen und sie abends wieder dorthin bringen. Ob sie vor mir Angst hatten, einem 11-jährigen Jungen, wage ich zu bezweifeln. Aber das Reglement verlangte es. Später konnten die Kriegsgefangenen sich zu einem Zivildienst verpflichten, was Paul Vaux auch tat und dadurch freie Beweglichkeit hatte. Er blieb aber in dem Lager, sein Landsmann wollte aber nicht und blieb formell Kriegsgefangener bis zum Ende des Krieges.

Zu diesen „Fremdarbeitern" kam noch ein Pole, der freiwillig nach seiner Arbeit bei uns arbeitete. Wo er eigentlich arbeitete, weiß ich nicht mehr, es kann sein, dass er als Hilfsarbeiter auf dem Güterbahnhof tätig war. Wie er zu uns kam, ist eine kleine Geschichte.

Während wir unser Haus in der Gorndorfer Straße nicht bauen durften, waren doch eine ganze Reihe von Siedlungshäusern entstanden, deren Bewohner unsere künftigen Kunden waren. Mein Vater überlegte sich, wie er sie an uns binden könnte, und verabredete regelmäßige Brotlieferungen auf Bestellung. Nun hatten wir keinen motorisierten Lieferwagen und bauten einen Handwagen geeignet um. An allen Seiten wurde der Wagen mit Holztafeln „dicht" gemacht. In diesem Kasten wurden die Brote gelagert, wobei durch eine Zwischenplatte verhindert wurde, dass sich die frischen Brote gegenseitig drückten. Mit diesem Wagen zogen mein Vater und ich von der einen Seite Saalfelds auf die andere Seite, etwa 3 km. Abgesehen von der Länge war der Weg nicht beschwerlich, die Strecke ging zumeist bergab. Nur kurz vor dem Ziel mussten wir nach der Überquerung der Eisenbahnbrücke die Steigung an dem Kellnerschen Weinberg überwinden. Als wir uns wieder einmal den Berg hoch plagten, ich an der Deichsel und mein Vater schiebend, kam ein Mann auf uns zu und fragte, ob er helfen könnte. Das war uns recht und wir kamen gut voran. Peter, so hieß der Pole, konnte leidlich gut deutsch und fragte meinen Vater, ob er Arbeit hätte. Ob es nur Zufall war, dass er auf uns gekommen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls sagte mein Vater zu, und von da an gehörte Peter auch zum Haushalt. Er arbeitete bei uns bis zum Zusammenbruch und kam sogar noch einmal aus Polen zurück, als die Russen schon bei uns waren.

Ferienzeit, schönste Zeit!

Das schönste an der Schulzeit waren die Ferien, besonders die großen Ferien, die über acht Wochen dauerten. Ich durfte dann zu meinen Großeltern nach Blankenstein fahren, anfangs in Begleitung meiner Eltern, später auch allein und selbstverständlich mit der Bahn. Ich brauchte nicht umzusteigen und Blankenstein war Endstation des Bummelzugs. Bald kannte ich alle Stationen auswendig, in Wurzbach wechselte der Zug die Fahrtrichtung, die Fahrt dauerte rund zwei Stunden.

Trotz der bescheidenen Lebensumstände meiner Großeltern fühlte ich mich immer wohl und hatte kein Heimweh, denn ich war in der Großfamilie gut aufgehoben. Es gab einfaches Essen, am Morgen eingebrocktes Brot in Milchkaffee, natürlich Malzkaffee. Mittags meist Suppe, auch die „Sauren Flecke", in Blankenstein „G´schling" genannt. Ganz besonders gut schmeckte Gebackenes Blut, das meine Großmutter in einer gußeisernen Pfanne in der Röhre des Kohlherdes gar werden ließ. Es wurde stets rundes Brot gekauft und ich sehe meine Großmutter noch vor mir, wie sie den Laib gegen den Leib presste und einen „Keil" mit einem großen Messer abschnitt. Eine Delikatesse war einfacher Quarkaufstrich mit Zucker bestreut. Zur Erfrischung gab es Himbeerwasser, aus Himbeersaft von selbstgepflückten Früchten. Das Wasser war gelegentlich Saurer Brunnen, der im nahe gelegenen Höllental aus einer Quelle sprudelte. Das Höllental lag schon in Bayern und wurde von der Selbitz durchflossen, die bei Blankenstein Grenzfluss war. Das nahe gelegene Blankenberg war sogar eine preußische Enklave, aber von diesen politischen Bedingungen war noch nichts zu spüren. Neben Himbeeren, Heidelbeeren und Preiselbeeren spielten Pilze eine große Rolle als Nahrungsergänzung. Als die Großeltern noch in der Schulstraße wohnten, war es nicht weit zum Wald, dem „Köcher´s Hölzchen". Dort gab es eigentlich immer Pilze in den Fichtenschonungen. Waldchampignon, Maronen, Butterpilze und Pfifferlinge gab es in ausreichender Menge, wie man sie für ein Abendbrot benötigt. Ich zog dann nachmittags los, es war ja nur ein Katzensprung, und in einer Stunde hatte ich genügend beisammen. Die Preiselbeeren vergesse ich auch nicht. Sie werden ja verhältnismäßig spät reif, so dass es im Sommer die Beeren vom vergangenen Jahr gab. In einem Tontopf, wie man ihn auch zum Einlegen von Gurken verwendete, waren die Preiselbeeren mit Zucker vermischt, vermutlich eingestampft. Es bildete sich kein Saft, eher eine Zuckerkruste. Wenn man dann Milch auf die Portion schüttete und verrührte, gerann die Milch durch die Fruchtsäure.

Eine kleine Pflicht hatte ich jeden Tag, nämlich dem Großvater in einem Henkeltopf das Mittagessen in die Fabrik zu bringen. Essentragen hieß das. Der Zugang zur Fabrik war frei und ich kannte mich bald gut aus. Gegessen wurde am Arbeitsplatz bei laufender Maschine. Großvater arbeitete am Kollergang, am sogenannten Holländer, in dem durch zwei schwere umlaufende Walzenräder in einem Kessel die Lumpen zermahlen wurden. Obwohl Papier zumeist aus der Zellulose aus Holzschliff hergestellt wird, enthält besseres Papier einen gewissen Anteil von textilen Materialien. Gelegentlich traf ich meinen Onkel Max auf seiner Kleinbahnlok und einmal besuchte ich auch Onkel Hans, den Kochermeister, an seinem Arbeitsplatz. Dort wurde in einem riesigen Kessel der Holzschliff gekocht, um die Zellulose herauszulösen.

Onkel Hans war ein Naturmensch, er kannte sich vor allem in den Pilzen aus und hatte seine geheimen Standorte, wo er stets große Mengen Steinpilze fand. Er hatte einen scharfen Blick, wo sich unter einem Fichtennadelhaufen ein Pilz versteckte. Es machte ihm Spaß, wenn wir zusammen in die Pilze gingen, mich vorausgehen zu lassen und hinter mir die Pilze aus dem Boden zu holen. Einmal nahm er mich mit in ein Bergwerk in der Nähe des Höllentals, in dem Schwerspat abgebaut wurde. Wir gingen in einen Stollen, an dessen Wänden die verschiedensten Mineralien zu sehen waren.

Wie kann man eine große Familie ernähren, wenn es nur einen geringen Lohn gibt? Durch einfaches Leben und dadurch, dass man versucht, noch etwas dazu zu verdienen, und wenn es nur eine paar Groschen sind. Kaum ein Arbeiter konnte sich eine sogenannte „Gute Stube" leisten, Küche und Kammer, Schlafkammer, waren alles. Man schlief auch nicht auf einer Matratze, sonder auf einem Strohsack, der immer mal aufgeschüttelt wurde und genau so elastisch wie eine Matratze war. In der Wohnküche meiner Großmutter gab es aber immer Blumenstöcke und wenn es nur Geranien waren. Sie hatte aber auch schöne große Hortensien, ihr ganzer Stolz.

Die paar Groschen kamen von der Heimarbeit, an der in jeder freien Minute gearbeitet wurde. Praktisch in jedem Haushalt von Blankenstein und auch der umliegenden Orte wurde am Nährahmen gesessen und gearbeitet. Das fertige Produkt war die „Bad Stebener Arbeit", nämlich durch Lochstickerei veredelter Baumwollstoff. Daraus konnte man und man tut es noch heute, Blusen oder Sommerkleider, Tücher oder Decken herstellen. Auch Bettwäsche wurde so veredelt. Bezahlt wurde nach der Lochzahl, für 1000 Loch gab es 60 Pfennig, es war ein Hungerlohn.

Daneben gab es auch noch die sogenannte Filetstickerei, eine Spezialität meiner Mutter, bei der ein vorgefertigtes Netz aus Seidengarn mit Mustern ausgefüllt wurde. Man arbeitete für eine Faktorei, die dann die entsprechenden Firmen belieferte. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Mutter erzählte, dass sie bei einem Besuch der Leipziger Messe solche Arbeiten gesehen habe, aber zu einem Preis, der in keinem Verhältnis zu den Entstehungskosten stand.

An Ferien in Schleusingen habe ich nicht so angenehme Erinnerungen, es war wohl auch schwieriger in einem solchen Geschäftshaushalt. Wenn ich es mir richtig überlege, muss ich im Sommer 1939 in Schleusingen gewesen sein. Nach meiner Erinnerung war der Weg in den Garten der Großeltern „meilenweit" und es machte keinen Spaß, dorthin zu gehen, um etwas für den Mittagstisch zu holen. Später, als ich wieder als Erwachsener in Schleusingen war, stellte ich fest, dass es praktisch nur ein Katzensprung war. An diese Ferien erinnere ich mich deswegen, weil meine Eltern im Auto des mit uns bekannten Gemüsehändlers Stöckert nach Schleusingen gekommen waren, um mich abzuholen. Das war ein Kabriolett mit Notsitz am Kofferraum, in dem ich dann saß. Auf der Fahrt über den Thüringer Wald wollten wir unterwegs Bratwürste essen und stellten fest, dass sie teurer geworden waren. Anstelle von 30 Pfennig pro Stück kosteten sie 40 Pfennig. Nirgendwo gab es noch Bratwürste für 30 Pfennig!

Vater wird Soldat, wie viele andere

Sehr viele Erinnerungen an die Kriegszeit habe ich nicht, jedenfalls nicht an solche, die ich genauer datieren kann. Die erste Zeit, wahrscheinlich bis 1941, war mein Vater wegen der Heereslieferungen als „unabkömmlich" (uk) eingestuft, denn die Bäckerei musste mit „Volldampf" betrieben werden. Dann wurde er zum Landsturm eingezogen und war zeitweilig auch in Saalfeld stationiert. Entsprechend seiner Ausbildung war er als „Fourier" eingesetzt und für die Kaltverpflegung der Truppe verantwortlich. Eine Zeitlang begleitete er die Truppentransporte, die in plombierten Waggons durch das neutrale Schweden nach Nordnorwegen unterwegs waren. Alle wehrfähigen Verwandten waren eingezogen. Onkel Max, der älteste Bruder meiner Mutter, wurde in Rudolstadt zum Heereskraftfahrer ausgebildet. Ich erinnere mich an einen Besuch bei ihm, wo er erzählte, wie er mit etwas Nachhilfe vom entgegenkommenden Prüfer seine theoretische Prüfung bestanden hatte. Er sollte die Zentralschmierung des LKW benennen und bekam mit einem stummen Hinweis auf die Zentralheizung den entscheidenden Tip. Onkel Hermann, der Bruder meines Vaters, war zunächst zu den Gebirgsjägern nach Klagenfurt eingezogen, die unter dem damals bekannten General Dietl im Norwegenfeldzug 1940 in Narvik die Stellung halten mussten. Onkel Hermann war als Kradmelder im Frankreichfeldzug eingesetzt und kam mit seiner motorisierten Truppe bis an die Kanalküste bei Caen, wo man vorübergehend die Invasion nach England vorbereitete. Nach einer Krankheit während eines Heimaturlaubs kam er, wie er mir erzählte, zurück zu seinem Standort nach Klagenfurt. Er nahm im Frühjahr 1941 an dem Feldzug in Griechenland teil, der im Mai beendet war. Anschließend wurde seine Einheit nach Finnland verlegt, wo er weiterhin als Kradmelder ständig unterwegs war. Ende des Krieges kam er aus Norwegen in englische Internierung und kehrte über Coburg nach Schleusingen zurück. Onkel Hans, der zweitälteste Bruder meiner Mutter, war bei der Marine in Italien im Marinehafen von La Spezia, wo er 1945 ums Leben kam. Auch Onkel Woldemar, der Zwillingsbruder von Tante Betty, fiel im Winter 1945 bei Elbing. Dort hatte er auf der Marinewerft gearbeitet. Die älteren Cousins waren ebenfalls eingezogen. Walter, der älteste Sohn von Onkel Hans, fiel 1945 in Budapest bei Kämpfen auf der Margareteninsel. Mein Vater war 1944 nach Frankreich verlegt worden und war in einen schweren Unfall verwickelt. Die Verletzungen wurden in einem Lazarett in Burgdorf bei Hannover auskuriert. Meine Mutter besuchte ihn dort, und es war möglicherweise im Frühjahr, denn ich erinnere mich noch daran, dass sie von dem Spargelanbau in der dortigen Gegend erzählte. Vater geriet dann bei Kriegsende in Schleswig-Holstein in englische Internierung und kam im Herbst 1945 nach Saalfeld zurück, wo inzwischen unser Bruder Uwe am 1. August geboren worden war.

Schulzeit in der Kriegszeit

Wenn uns Schüler der Krieg auch nicht direkt betraf, so erlebten wir mittelbar die verschiedenen Einschränkungen. Anstelle der jüngeren Lehrer, die eingezogen wurden, kamen pensionierte Lehrer oder mehr Lehrerinnen zum Einsatz. So war unser Chemielehrer, eine kleine Person mit etwas gebeugter Haltung, sicher schon im Pensionsalter. Sein Spitzname war „Levi" und wir dachten uns nichts dabei. Auch an unserer Schule waren die Schüler nicht sehr liebenswürdig mit den Spitznamen. Ein Geographie-Lehrer hieß „Kotzpille", unser Deutsch-Lehrer, der Vater unserer Klassenkameradin Susi Nestler, hieß „Käse", der Latein-Lehrer Dr. Horn hieß „Louis". Keiner wusste, wann die Namen aus welchem Anlass geprägt worden waren.

Die Informationen über den Fortgang des Krieges kamen über den gleichgeschalteten Rundfunk, dessen Wirkung mir auch heute nach über 60 Jahren noch gegenwärtig ist. Das Wort „gleichgeschaltet" konnte man z.B. erleben, wenn Hitler eine seiner Brandreden hielt. Natürlich wollte jeder erfahren, was es Neues gäbe. Alle Volksempfänger-Radios brachten das gemeinsame Programm aller Reichssender des Deutschen Rundfunks und in jedem Haus dröhnte die bekannte Stimme. Man konnte durch die Stadt gehen, überall schallte es: „Der Führer spricht!".

Ähnlich war es, vor allem nach Beginn des Krieges mit der Sowjetunion, wenn Sondermeldungen angekündigt wurden mit den Fanfarenstößen des Sieges. Dann wurde nach den Meldungen aus dem Führerhauptquartier der neueste Wehrmachtsbericht des Oberkommandos verlesen. Am Anfang waren es immer Siege: der Feldzug der 18 Tage in Polen, die Eroberung von Dänemark und Norwegen, der Frankreichfeldzug, die sogenannten Blitzkriege, begünstigt durch die beweglichen motorisierten Infanterie- und Panzerverbände, unterstützt durch die Luftwaffe mit den Sturzkampfbombern Ju 87 und dem leistungsfähigen Jagdflugzeug Me 109. Reichsmarschall Göring, der im ersten Weltkrieg im Geschwader Richthofen Jagdflieger war, brüstete sich, es werde kein feindliches Flugzeug nach Berlin kommen, sonst wolle er Meier heißen.

Auf Landkarten, die bald ganz Europa umfassten, wurden die Frontlinien mit Nadeln und Fähnchen gekennzeichnet. Abgesehen von den Zeitungsmeldungen kamen die Informationen von der Wochenschau, die die Siege mit Bild und Ton untermauerte. Später kamen die strategischen Rückzüge mit den Frontbegradigungen und dem heldenhaften Widerstand unserer tapferen Soldaten und ihrer Verbündeten.

Bald kam der Krieg direkt ins Land in Form von Bombengeschwadern, zuerst der Engländer als Antwort auf Angriffe auf die Wohngebiete von Coventry, London und anderen englischen Großstädten. Nun waren nicht nur wehrtechnisch wichtige Objekte gefährdet, sondern auch die Zivilbevölkerung. Wir wussten bald, welche Flugzeuge eingesetzt waren, teils den Namen nach aus den Luftlagemeldungen, die mittels Drahtfunk verbreitet wurden, den Rundfunksendungen überlagert. Die Namen der Flugzeuge wurden deutsch ausgesprochen. Es gab da die viermotorigen Bomber „Vickers Wellington" oder „Bristol Blenheim", als Jäger war die „Spitfire" etwa gleichwertig mit der Me 109. Es gab kleine Heftchen, in denen die einzelnen Typen beschrieben und deren Silhouetten abgebildet waren. Auch die deutschen Flugzeuge kannten wir. Am bekanntesten war die gute alte Tante Ju 52, wie der dreimotorige Transporter genannt wurde. Diesen Typ hatte Göring schon im spanischen Bürgerkrieg in der sogenannten Legion Condor auf seine Kriegstauglichkeit getestet.

Ebenso interessant war der Seekrieg, der schon im ersten Weltkrieg eine große Rolle gespielt hatte. Jeder kannte die Abenteuer des Grafen Luckner, der damals mit seinem Hilfskreuzer der Schrecken der Meere war, wie einst die Seeräuber. Da war der Kapitänleutnant Prien, der mit seinem U-Boot in den englischen Flottenstützpunkt von Scapa Flow eindrang und dort das Schlachtschiff „Hood" mit Torpedos versenkte.

Ich will nun nicht die ganze Kriegsgeschichte erzählen, mehr das, was uns persönlich betraf und nur aus der Erinnerung. Da waren die Bombenangriffe auf Saalfeld, die bereits 1940 begannen, als in der Nähe des Friedhofs, neben der Straße nach Wöhlsdorf die ersten Bomben fielen, vermutlich ungezielt oder die Kasernen verfehlend. Dann gab es zu Pfingsten 1943 einen Bombenabwurf über der oberen Stadt, bei Garnsdorf, dort wo sich jetzt der Krankenhauskomplex erstreckt. Dort gab es eine sogenannte Japaner-Villa, ein Haus im japanischen Stil, das völlig zerstört wurde. Ich hatte diesen Angriff nicht mit erlebt, weil ich einen Ausflug nach Blankenstein gemacht hatte und sogar mit dem Fahrrad zurückfuhr. Als ich am folgenden Tag dort herumstromerte, fand ich einen großen, furchterregenden Bombensplitter. Gegen Kriegsende, sogar bis in den April 1945, häuften sich die Angriffe, vor allem auf dem Bahnhof, aber auch das Stadtzentrum wurde erheblich beschädigt. Unser Luftschutzkeller hatte eigentlich nur eine moralische Wirkung, ein richtiger Schutz wäre er nie gewesen. Er lag, wie schon erwähnt, neben dem Backofenraum, an den Hang gebaut. Noch vor Kriegsausbruch gab es Luftschutzübungen, sogar Gasmasken, die sogenannten Volksgasmasken, wurden verteilt. Alles für das Volk! Volksempfänger, Volkswohlfahrt, Volkswagen, ein Volk, ein Reich, ein Führer!

Vorsicht! Feind hört mit!

In dem Keller saß die Volksgemeinschaft, und Goebbels beschwor diese Gemeinschaft in vielen seiner Reden. Woher wussten wir, was im übrigen Deutschland vor sich ging. So bestimmte Goebbels selbst, was und wie berichtet wurde. Er entwickelte eine Methode, die dann auch von den DDR-Presseverantwortlichen übernommen wurde. Es wurden nämlich schlechte Nachrichten aus Deutschland durch noch schlechtere Nachrichten aus dem Ausland abgeschwächt, indem man sie unmittelbar neben- oder untereinander plazierte. Dann wurde mit gezielt ausgestreuten Gerüchten gearbeitet und sogar Witze verbreitet, die gegen die Regierung oder die Partei oder den Krieg gerichtet waren. Das hatte eine doppelte Wirkung. Wie bekannt, entwickeln sich Witze in Zeiten der Not und Bedrängnis als eine Art Sicherheitsventil für Seele und Gemüt, wie man aus der Analyse der jüdischen Witze erkennen kann. So gab es den Witz aus der Zeit des Spanienkrieges, bei dem gefragt wurde, wer der billigste Spediteur wäre? Na Hitler, der liefere alles Franco! Eine Franko-Lieferung bei der Post war das, was man heute „Unfrei" nennt, also ohne Gebühren für den Transport zu verlangen.

Ab und zu gab es auch das Stichwort, man solle nicht hetzen, sonst käme man nach Dachau oder nach Buchenwald. Was das genau war, wussten wir Kinder nicht. Es gab nämlich noch die andere Seite, dass Spitzel angesetzt wurden, die bewusst solche Witze erzählten, in Gaststätten oder auf dem Bahnhof. Wir hatten eine Kundin, die offenbar eine solche Aufgabe hatte. Ich erinnere mich dunkel an Erzählungen über die angewandte Methode: Man setzte sich an einen Tisch und hörte zunächst der Unterhaltung zu. Die Reisenden im Wartesaal waren meist aus ganz Deutschland unterwegs, Fronturlauber, Flüchtlinge, seltener „normale" Reisende. Wenn man dann aus dem Inhalt des Gespräches oder dem Dialekt herausgefunden hatte, woher der eine oder andere stammte, mischte man sich mit dessen Dialekt in das Gespräch ein. Man freute sich, in dieser schrecklichen Zeit einen Landsmann gefunden zu haben. Und es dauerte nicht lange, dann führte man das Gespräch zu den Problemen: Versorgung, Bombenangriffe, Stimmung, Meinung. So wurde mancher ausgehorcht und kam schließlich wegen defätistischer Äußerung, wegen Wehrkraftzersetzung und ähnlicher Delikte vor Gericht. An den Litfaßsäulen gab es dann Anschläge, dass der und jener wegen Vergehens gegen Volk und Vaterland hingerichtet wurden.

Mit der Todesstrafe wurden viele solcher Vergehen bedroht: Das Hören von Feindsendern ebenso wie Plünderungen nach Bombenangriffen. Feindsender hören war nicht ganz einfach. Mit dem Volksempfänger, der sogenannten Goebbelsharfe, einem Ein-Kreis-Empfänger, konnte man nur die starken Sender des gleichgeschalteten Deutschen Rundfunks erreichen. Wenn man einen Superheterodyn-Empfänger mit besserer Trennschärfe hatte, konnte man schon die Auslandssendungen des englischen BBC empfangen, die sich mit dem bekannten Bum---Bum-Bum-Bum meldeten. Diese Nachrichten standen so im Gegensatz zu den offiziellen Meldungen, dass man sie oft nicht glauben wollte, es war eben Hetze, wie Goebbels verkündete.

Goebbels versuchte alles, um das Volk auf dem Kurs der NSDAP zu halten. Da gab es die Greuelnachrichten, z.B. über den Mord an den polnischen Offizieren in Katyn durch Sowjets, wahrscheinlich leider wahr, die Berichte über sowjetische Konzentrationslager, auch leider war, aber alles nur Ablenkung von den eigenen Verbrechen. Ganz groß war eine Ausstellung in Berlin über das „Arbeiterparadies Sowjetunion" 1943, über die es sogar ein Buch gab. Die Abkürzung GPU war durchaus bekannt und immer wieder wurde die Schreckensherrschaft der sowjetischen Kommissare angeprangert. Man setzte auch Karikaturen zur Unterstützung der Propaganda ein. So erinnere ich mich an eine Zeichnung aus einem Buch: In einem einmotorigen Flugzeug sitzt hinter dem Piloten ein Aufpasser, hinter dem Aufpasser sitzt wieder ein Aufpasser und noch ein dritter und ein vierter, jeweils auf den Vordermann aufpassend. Und dann wundert man sich, dass das Flugzeug nicht vom Boden abheben kann.

Was ging an der Front wirklich vor sich und was in den besetzten Gebieten? Wenn sich die Erwachsenen überhaupt über so etwas unterhielten, dann nicht in unserer Gegenwart. In der ersten Zeit waren es z.T. richtige Erlebnisse, wenn man aus Paris berichtete und entsprechende Pakete nach Hause schicken konnte, Spirituosen, Zigaretten oder Seidenstrümpfe. Aus Norwegen konnte man einen Silberfuchs mitbringen, was damals große Mode war. Das ganze hatte natürlich, wie alle Geschichten, die später an den Stammtischen vom Krieg erzählt wurden, einen positiven Auswahleffekt: Nur wer einigermaßen gesund wieder nach Hause kam, konnte etwas erzählen, und das positivste war, dass man gesund nach Hause gekommen war.

Sehr viel Urlaub gab es nicht, am ehesten noch Genesungsurlaub nach einer Verwundung oder Verletzung und dann auch nicht sehr lange. Bei einem Familienfest konnte man auch mit Urlaub rechnen, wenn nicht gerade „dicke Luft" an der Front war. Wenn ich mich recht erinnere, hatte mein Vater zu meiner Konfirmation 1944 Urlaub und wir feierten, so gut es ging, mit meiner Patentante und anderen Tanten, die Onkel waren im Krieg. Es wird sicher Kaninchenbraten gegeben haben, denn wir hatten immer Kaninchen gehalten, und natürlich eine Buttercremetorte, die Spezialität meines Vaters. Viel Geschenke gab es nicht, aber Geld fürs Sparbuch, das aber dann wertlos wurde.

Der Krieg ist zu Ende und ich werde Bäcker

Über die Zeit gegen Kriegsende habe ich in meinem Bericht über „Ein halbes Jahr 1945" geschrieben, so dass ich hier die Zeit überspringe, bis ich aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft Ende Juni wieder nach Hause kam.

Es war ein grüner Juni, so habe ich ihn jedenfalls in Erinnerung. Und jeden Juni erinnere ich mich wieder daran. Es war derselbe grüne Juni, von dem auch Erwin Strittmatter in seinem gleichnamigen Buch schreibt. das mir vor etwa 10 Jahren zufällig in der Ernst-Abbe-Bücherei in die Hände kam. Die Geschichte vom Lehrer Höhler, unserem Studienrat Nestler und seiner Familie, vor allem unserer Schulkameradin Susi Nestler, weckte viele Erinnerungen. Alles war so grün, weil wir in dem kahlen Lager auf den Weinbergen hinter der Kaserne von Bad Kreuznach weder Baum noch Strauch um uns hatten, nur braune oder graue Erde.

Der erste Bekannte, den ich am Tag meiner Heimkehr traf, war Herr Zinn, der Vater meines Schulkameraden Günter Zinn, der später von den Russen verhaftet und in Weimar erschossen wurde. Ich muss eine ziemlich traurige Gestalt gewesen sein. Sicher verdreckt, denn das Wasser war zum Trinken und nicht zum Waschen da. Eine vergammelte HJ-Uniform und Filzstiefel, wie sie in Rußland zum Einsatz kamen, unten Leder mit Filzschäften, die ich noch einige Zeit trug und mit denen ich auch im kalten Winter 1946 Tanzen ging.

Ich war so ausgehungert, dass ich ein Kissen als Sitzfläche brauchte, weil die Stühle so hart waren. Andererseits war ich es nicht mehr gewohnt, in einem Bett auf einer weichen Matratze zu schlafen, denn ich hatte seit dem 15. April auf dem Erdboden geschlafen, im günstigsten Fall auf einem Stück Wellpappe.

Mein Vater war in Gefangenschaft, irgendwo in der Lüneburger Heide und kam erst (oder schon?) im Herbst nach Hause. Inzwischen war am 1. August 1945 unser Bruder Uwe Michael geboren worden, und trotzdem kümmerte sich meine Mutter um das Geschäft, das nun wieder für die Allgemeinheit geöffnet war.

Mit dem Ende des Krieges hörten auch die Heereslieferungen auf, wenngleich die Versorgung des Lazarettes noch einige Zeit weiterging. Unsere „Fremdarbeiter" wollten wieder nach Hause, es war wohl auch bekannt, dass irgendwann die Russen kommen würden. Meine Mutter erzählte mir gelegentlich, dass sie von ihnen sehr freundlich behandelt wurde. Erstens hatten wir es ja genauso getan und zweitens erregte sie wahrscheinlich wegen ihrer Schwangerschaft Mitleid. Dann gab es noch die Geschichte mit den noch ausstehenden Zahlungen und mit Bezugsscheinen für Mehl, die noch auf eigene Kosten eingelöst wurden. Das wurde auch prompt geliefert und mit Hilfe eines Nachbarn, des Schusters an der Ecke, sichergestellt. Damit hatten wir eine Kapitalrücklage, die wir später, peu-á-peu, in Brot verwandelten, das dann unter der Hand ohne Marken zum Schwarzmarktpreis verkauft wurde.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber nach einiger Zeit begann ich meine Karriere als Bäcker, auch ohne es richtig gelernt zu haben. Aber darüber habe ich mich ja schon verbreitet. Ich kannte das Bäckerhandwerk und es ging eigentlich nur um Brot und Brötchen. Außerdem wusste meine Mutter Bescheid. Maschinell waren wir gut ausgerüstet, auch der Dampfbackofen machte die Sache leicht. Das einzige Problem war der Sauerteig, der jede Woche neu angesetzt werden musste. Das erledigte unser Geselle aus Schwarza, der am Sonntagabend zu uns kam. Alles andere während der Woche erledigten meine Mutter und ich. Das Brotschieben hatte ich schon als Kind gelernt, am schwierigsten war das Einschieben. Herausholen war keine Kunst, allerdings war das Brot ziemlich heiß, wenn man es von dem Schieber abnahm. Mein Vater hatte Schwielen an den Händen, die ihn unempfindlich machten. Brötchenschieben war schon schwieriger. Dazu gab es lange, schmale Schieber, auf denen die Teigstücke der Semmeln aufgereiht waren. Mit einem seitlichen Schubs wurden sie abgeladen, wozu schon etwas Übung gehörte. Wenn man es kann, ist es keine Kunst!

Nachdem mein Vater wieder zu Hause war, brauchte ich nicht mehr Bäcker spielen, es fing sogar die Schule wieder an, zwar nur in Rudolstadt, aber das ist eine andere Geschichte.

Die Russenbäckerei

Inzwischen waren die Russen da. Wie sie kamen, mit ihren Panje-Wagen, habe ich nicht erlebt, aber bald hatten wir sie in der Nähe. Die schon erwähnte, in der Nähe liegende Villa des Fabrikbesitzer Eckardt wurde nämlich beschlagnahmt, und es zog ein russischer Offizier mit seiner Familie ein. Er hatte einen Burschen, der mit uns Kontakt aufnahm. Es brauchte nämlich Schnaps, Schnaps und immer wieder Schnaps. Es muss so um die Zeit gewesen sein, wo wir schon nach Rudolstadt in die Schule fuhren. Mein Freund Günter Zinn hatte herausgefunden, dass man dort Schnaps kaufen konnte, vermutlich schwarz gebrannten oder welchen, den man beiseite gebracht hatte. Er entwickelte ein Versorgungssystem und trieb bald einen schwunghaften Handel. Einer der Abnehmer war der Bursche, der für eine Dreiviertel-Liter-Flasche Schnaps 140 Mark Besatzungsgeld bezahlte, das offizielles Zahlungsmittel war. Günter Zinn hatte für 100 Mark gekauft, also ein gutes Geschäft. Am meisten überraschte uns, dass der Russe nicht immer mit dem Schnaps verschwand, um sich einen Rausch anzutrinken. Gelegentlich brachte er Speck und Zwiebeln mit, wir mussten das Brot stellen, und wehe, wenn wir nicht mittranken! Für uns unvorstellbar, erst kauft er von uns den Schnaps, dann müssen wir ihn auch noch vertilgen!

Eine Unsitte hatten die Russen überall, sie verbreiteten ihr Rundfunkprogramm lautstark in die Gegend. Das hatten sie wahrscheinlich so von zu Hause gelernt, wo es im Dorf nur ein Radio beim Kolchosvorsitzenden gab, das dann über Lautsprecher Nachrichten und Musik im Dorf weitergab. Im Hause Eckardt gab es auch ein Radio, aber es funktionierte nicht mit dem Lautsprecher. Also sollte ich mir eines Tages die Sache ansehen. Das Radio war, wie bei dem Herrn Fabrikbesitzer zu erwarten war, ein großer Super-Empfänger mit Buchsen für einen zweiten Lautsprecher. Es gab auch ein genügend langes Kabel aus Schwachstromleitung, also kein Problem. Es funktionierte auch zur Zufriedenheit, wofür ich ein Glas Schnaps als Belohnung bekommen sollte. Es waren „Schto Gramm", also mehr als ein Doppelter, und das auf nüchternen Magen am Vormittag! Ich wollte nicht, aber da hatte ich es mit dem Falschen zu tun. Er zog seine Pistole und drohte mir, mich zu erschießen. Da trank ich dann lieber! Ex! Brr! Ich ging, so schnell wie möglich, nach Hause, bevor die Wirkung des Alkohols einsetzen würde, und erzählte es meiner Mutter. Dann musste ich mich hinlegen und ich fuhr Karussell, wenn ich die Augen zu machte.

Ein Ereignis gehört mit zur Familiengeschichte, die Hochzeit meines Onkels Hermann, Bruder meines Vaters, mit meiner Tante Elisabeth, genannt Betty, Schwester meiner Mutter. Sie fand an Silvester 1945 in Saalfeld statt, die Trauung war in der Gertrudiskirche in Saalfeld-Graba. Eine große Feier war es bestimmt nicht, man war ja schon froh, dass man den Krieg mit einigermaßen heiler Haut überstanden hatte. Onkel Hermann, der eigentlich Fleischer gelernt hatte, begann dann seine berufliche Entwicklung bei der Erdölbohrung der DDR, wo er es bis zu einem sehr geachteten Bohrmeister brachte. Tante Betty war immer mit von der Partie, versorgte lange Jahre die Mannschaft der Bohrstelle und kannte sich selbst mit der Bohrtechnik aus, so dass sie spaßeshalber der zweite Meister genannt wurde.

Schulzeit in der Nachkriegszeit

Von Oktober 1945 bis Ende März 1946 ging ich in Rudolstadt in die Oberschule, worüber ich etwas in dem Kapitel „Wie ich zur Astronomie kam" berichte. Schließlich begann auch in Saalfeld der Unterricht wieder, und es sammelten sich bei den Jungen verschiedene Jahrgänge, von 1928 bis 1930, von denen einige auch schon in Gefangenschaft gewesen waren, so wie ich.

Einer war in russischer Gefangenschaft und im Donez-Becken in einem Kohlebergwerk eingesetzt. Er hatte aber Glück, und das kam so: Im Bergwerk gehen ja von dem vertikalen Schacht die Stollen nach den Seiten bis zur Abbaustelle, oft über lange Strecken. Man hatte dort die Stollen so angelegt, dass von der Abbaustelle eine leicht abschüssige Strecke verlief, damit die Kohlehunde, die Wagen, ohne extra Antriebskraft zum Schacht rollten. Es gab aber ein Problem, wie sollte man dort Bescheid sagen, dass mit einiger Geschwindigkeit ein solcher beladener Wagen ankommt? Telefonleitungen gab es nicht, es hatte auch nicht mit einer Klingelleitung funktioniert. Wieso nicht? Es gab nur blanken Draht, den man an Nägeln befestigt hatte, die in die Stempel geschlagen worden waren. Im Trocknen hätte das auch funktioniert, aber bei der Nässe im Stollen funktionierte es nicht. Mein Klassenkamerad nahm die Sache in die Hand und isolierte die Drähte auf den Nägeln mit Teer. Es funktionierte und er avancierte zum Spezialisten mit besserer Verpflegung und wurde zur Belohnung vorzeitig entlassen.

So richtig kann ich mich an das Jahr 1946 nicht erinnern. Der Winter war ex-trem kalt, so dass mir meine Filzstiefel von Bad Kreuznach sehr nützlich waren. Sogar die Saale war zugefroren. Nach dem Tauwetter kam es zu Überschwemmungen. Vor Schwarza waren die Wiesen überschwemmt, so dass die Bahnlinie durch einen großen See zu führen schien. Es gab noch die Elektrifizierung der Bahn, aber kurz vor dem Saalfelder Bahnhof war sie unterbrochen. Dort musste der Zug warten, bis er von einer Dampflok abgeholt wurde. Der Zugverkehr war aber erheblich reduziert, morgens ein Zug nach Rudolstadt, abends wieder einer zurück.

Unsere Schule in der Sonneberger Straße konnten wir noch nicht wieder beziehen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten die Russen sie beschlagnahmt. So zogen wir bis zu unserem Abitur von Schule zu Schule, einmal in die Wirtschaftsschule im oberen Teil der Stadt, dann in die Altsaalfelder Schule und schließlich in die ziemlich heruntergekommenen Berufsschule am Blankenburger Tor, die inzwischen abgerissen ist.

Mein Vater hatte, wie zu erwarten oder befürchten war, Probleme mit seiner Entnazifizierung. Wenn er sich auch nichts zu Schulden hatte kommen lassen, wurde er wegen seiner frühen Parteizugehörigkeit schuldig gesprochen und mit Berufsverbot für selbständige Tätigkeit belegt. Er arbeitete eine Zeitlang in einem Sägewerk und dann pro forma als Angestellter bei einem Kollegen.

Dann rückten uns die Russen immer mehr auf den Pelz. Es war ja nicht verborgen geblieben, dass wir für die deutsche Garnison Brot gebacken hatten, also mussten wir zuerst die Bäckerei räumen, und es rückte eine russische Mannschaft an. Das brachte fürs erste keine Probleme - Bäcker untereinander verstehen sich. Es war uns Kindern oder Halbwüchsigen auch nicht verboten, die Bäckerei zu betreten. So konnten wir feststellen, dass die Russen eine andere Technologie der Brotherstellung hatten. Während das Kommiss-Brot, wie ich schon erwähnte, aus einem sehr festen Teig hergestellt wurde, war bei dem Russenbrot der Teig ziemlich flüssig, so dass man entsprechend große geschlossene Formen aus Eisenblech verwendete, in die der Teig praktisch geschüttet werden konnte. Man brauchte also keinen Wirkautomaten. Der Teig war auch saurer, als wir es gewohnt waren, um einem Schimmelbefall vorzubeugen. Man kann aber sagen, was man will, das Russenbrot schmeckte auch, und überall war es nach der gleichen Technologie hergestellt.

Die Familie auf der Wanderschaft

Die Sache mit der gemeinsamen Nutzung des Hauses Semlerstraße 11 ging nicht lange gut. Es kam der Winter 1946/47, und wir mussten das Haus um den Jahreswechsel herum vollständig räumen. Das war an sich schon ein Problem, bei der herrschenden Wohnungsnot. Wir waren aber noch aus einem anderen Grund in einer schwierigen Lage. Am 19.12.1946 kam unsere Schwester Barbara Elisabeth auf die Welt, nun waren wir vier Jungen und ein Mädchen!

Wie damals üblich war es eine Hausgeburt, und unser Vater versuchte, so recht und schlecht die Familie zu versorgen. Wahrscheinlich war auch eine Tante da, die sich um unsere Mutter kümmerte. Mein Bruder Dieter und ich können uns jedenfalls an eine missglückte Nudelsuppe erinnern, die unserem Vater verkocht war. Dank unserer Bekannten, der Familie Stöckert, konnte unsere Mutter erst einmal bei ihnen unterkommen. Wir konnten in ein Einfamilienhaus in der Knochstraße gegenüber der Nähmaschinenfabrik Knoch einziehen, fanden dort aber keine Vorräte für die Heizung vor. Bekanntlich war der Winter 1946/47 wieder sehr hart, und das einzige Brennmaterial waren Holzkloben, die noch nass und zudem gefroren waren. Mein Bruder und ich hatten täglich die Aufgabe, soviel wie möglich in die üblichen Stücke zu sägen, die dann noch gehackt werden mussten. Wir schafften nicht viel am Tag, gerade mal soviel, wie wir am Tag verbrauchten. Aber zuvor musste das Holz hinter dem Kachelofen getrocknet werden. Ein großer Teil seiner Hitze ging für diesen Trockenprozess drauf. Wohl dem, der Birkenholz verbrennen konnte, denn das brannte auch im nassen Zustand wegen seines Gehaltes an ätherischen Ölen.

Dann kam noch das Problem mit den vielen Stromsperren, teils als Abschaltungen, teils als Verbote. Es wurde streng kontrolliert an Hand des Zählerverbrauchs. Ganz Schlaue sollen damals mittels Stecknadeln vor dem Zähler Strom entnommen haben. Irgendwie kamen unsere Eltern mit uns zurecht, wenn auch Schmalhans Küchenmeister war. Ich erinnere mich an dünne Suppen aus geschrotetem Weizen, in Wasser aufgekocht und mit sogenanntem Süßgetränk aufgewertet, das aus Wasser, Farbstoff und Süßstoff bestand. Als Brotaufstrich wurde Melasse verwendet, ein Rückstand bei der Zuckerherstellung.

Auf dem Wege zum Traumhaus

Meine eigenen Erinnerungen an die Zeit 1946-48 sind sehr dünn. Irgendwie wurde von meinen Eltern akzeptiert, dass die Oberschule für mich die Hauptsache war, auch als sie mit der Fortführung des Neubaus in der Gorndorferstraße begannen. Mit 16 Jahren war ich in ihren Augen sicher zu jung, um in die Überlegungen rund um den Hausbau einbezogen zu werden. Ich habe meinen Bruder Dieter befragt, der mir einige Fakten übermittelt hat, die ich im Folgenden nutzen werde. Allerdings ist Dieter 4 Jahre jünger als ich und damals als 12-Jähriger noch weniger Mitglied eines möglichen Familienrats. Wenn ich so zurückblicke, dann bewundere ich den Mut meiner Eltern, 1939, also mit knapp 30 Jahren, ohne finanziellen Rückhalt, nur auf bessere Chancen vertrauend, solch ein Abenteuer zu beginnen. Nach dem Krieg hatten wir zwar einen gewissen Rückhalt aus dem Erlös der „Mehlreserve", aber die Situation in Bezug auf die Baustoffe war eher schlechter als vor dem Krieg. Alles war kontingentiert. Wenn man Ziegel haben wollte, dann konnte man sie aus der Ziegelei in Graba bekommen, musste aber mitarbeiten, was unser Vater tat. Für das Holz der Balkenlagen und des Dachstuhls bekamen wir vom Forstamt eine Fällgenehmigung im Wald oberhalb Eybas. Irgendwer fällte auch die Bäume, aber als sie abgeholt werden sollten, waren sie gestohlen. Also das ganze noch einmal! Neben ordentlichen Ziegeln wurden auch ungebrannte Lehmziegel verarbeitet für nichttragende Wände. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir, mein Bruder Dieter und ich, dabei geholfen. Ob es nun unsere Unerfahrenheit war oder die Materie selbst, jedenfalls stürzte eine solche Zwischenwand im Dachgeschoss ein.

Ursprünglich sollte das Haus ein normales 1. Stockwerk haben für unsere große Familie als Wohnung. Es war aber abzusehen, dass das Geld nie und nimmer reichen würde, und so gab es auf dem Erdgeschoss nur ein ausgebautes Dachgeschoss. Dieter erinnert sich noch an eine Fahrt zu einer Ziegelei in Bischleben bei Erfurt. Es war kurz vor Weihnachten 1947, und die Ziegel mussten abgeholt werden, sonst wäre die Bezugsgenehmigung am 31.12.1947 verfallen. Dieter war der Beauftragte der Familie Beck, weil mein Vater offenbar keine Zeit hatte. Auch Splitterschutzsteine, die vor den Luftschutzkellern aufgebaut waren, wurden mit im Haus verbaut.

Das Haus wurde von einem Baumeister aus Gorndorf aufgebaut, mit dem es später Probleme mit der Bezahlung von angeblich noch offenen Rechnungen gab. Die Situation hatte sich für uns ja durch die Währungsreform verschärft. Allerdings konnten meine Eltern von der Sparkasse Saalfeld ein Darlehen erhalten, und es wurde auch eine Hypothek auf das Grundstück und das Haus gewährt mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Das kam uns wie eine Ewigkeit vor, monatlich Zinsen und Tilgungen zu zahlen. Damals reichte dieses Geld nicht, um alle Rechnungen zu bezahlen. Offenbar fehlte auch die Übersicht, denn es gab laufend Forderungen vom Baumeister und von den Handwerkern, die, wie damals üblich, wöchentlich bezahlt werden mussten. Da mussten einmal, auch ohne Wissen unserer Mutter, ihre Silberfüchse versetzt werden, das andere Mal borgte mein Vater, so erinnert sich Dieter, von einer alten Frau, die in der Nähe des Hohen Schwarms wohnte, 2000 Mark, vermutlich noch vor der Währungsreform. Etwas früher, bevor die Russen unsere Bäckerei übernahmen, tauschte mein Vater die moderne Brotteigteil- und Wirkmaschine in der Mühle in Unterwirbach gegen eine normale Wirkmaschine mit Zahlungsausgleich in Form von Brot und Mehl.

Gegen Ende der Bauzeit waren unsere Eltern gezwungen, mit dem Konsum einen Vertrag zur Übernahme der Bäckerei und des Ladens abzuschließen, um die Fertigstellung zu sichern. Unter diesen Umständen war keine hohe Miete zu erzielen, obwohl das Geschäft sehr gut ging. Unsere Eltern waren nun Angestellte beim Konsum, als Selbständige hätten sie mehr verdient. Wenn bei den Kunden irgendwelche Feierlichkeiten bevorstanden, konnte unser Vater seine Kunst als Konditor beweisen. Er besaß großes Geschick, Buttercremetorten zu garnieren, frei Hand und im wahrsten Sinne des Wortes im Handumdrehen. Er hielt nämlich die Tortenplatte mit der linken Hand, drehte sie auch allein mit der linken Hand und spritzte mit der rechten Hand die Garnierungen mit einer unglaublichen Sicherheit. Als Konditor hätte er große Chancen gehabt.

Im Juni 1948 machte ich das Abitur, wir wohnten damals in der Melanchthon-Straße in dem sogenannten Offiziershaus. Dann begann ich meine Tätigkeit in der Sternwarte Sonneberg von Oktober 1948 bis März 1949, darauf in der Universitäts-Sternwarte Jena bis zu meinem Studienbeginn im Oktober 1949. Von da an wurden meine Besuche zu Hause seltener. Wahrscheinlich kam ich nur dann, wenn wieder einmal Wäsche zu waschen war.

Im Laufe des Jahres 1949 müssen wir von der Melanchthon-Straße nach der Gorndorferstraße 26 umgezogen sein. An ein genaues Datum erinnere ich mich nicht, auch mein Bruder Dieter kann sich nicht erinnern. Das Leben spielte sich in einer großen Stube neben dem Laden ab, damit meine Mutter gleich „dienstbereit" war, wenn die Ladenklingel geläutet hatte. Die Zimmer im Dachgeschoss waren im wesentlichen Schlafzimmer für die Eltern und Kinder, die Betten dominierten. Unser Wohnzimmer wurde selten benutzt, nur wenn Besuch da war. Fernsehen war ja noch Jahre weit entfernt.

Unser Vater hatte wenigstens teilweise seinen Traum erfüllt, ein eigenes Haus gebaut zu haben. Er hoffte auch auf ein eigenes Geschäft, so wie es unsere Eltern 1939 geplant hatten. Die Anstellung beim Konsum war noch das Beste, denn in der Zeit der Lebensmittelmarken war der Umsatz in einer Bäckerei nicht sehr groß. Die Erwartungen hinsichtlich einer großen Kundschaft hatten sich erfüllt, sie wurden durch das große Neubaugebiet in Gorndorf sogar noch übertroffen. Ich erinnere mich daran, dass samstags großer Betrieb in der Backstube war. Es war damals immer noch üblich, dass die Kunden ihren Kuchen zum Backen brachten. Auch wenn das Backgeld für ein großes Kuchenblech nur 30 Pfennig war, so kam im Monat soviel zusammen, dass es für die Miete reichte.

Ende der Geschichte eines tüchtigen Bäckers

Über meine Jenaer Zeit habe ich mich in anderen Kapiteln geäußert. Die Geschichte des Bäckers Beck, unseres Vaters, endete am 26.12.1953, als er in der Klinik für Innere Medizin in Jena verstarb, erst 44 Jahre alt. Im Herbst 1953 bereitete ich mich auf meine Diplom-Prüfung vor, nachdem ich meine Diplomarbeit abgeschlossen hatte. Mitte Dezember hatte ich meine Prüfungstermine. In Saalfeld schien alles normal zu laufen. Vati hatte zwar Probleme mit dem Magen, aber eine Kur in Potsdam-Rehbrücke hatte iim, so erfuhr ich, gut getan. Da erhielt ich einen Telefonanruf meiner Mutter übermittelt, dass Vati in der Jenaer Klinik liege und operiert worden sei. Als ich mich dort bei dem Stationsarzt nach seinem Befinden erkundigte, machte man mir klar, dass wir auf das Schlimmste gefasst sein müssten. Die Operation sei an sich erfolgreich gewesen, man habe die Komplikationen eines Zwerchfellbruches in Ordnung bringen können. Die Operation sei aber leider erst sehr spät erfolgt, und es sei zu einer Harnvergiftung gekommen. Wenn ich zurückdenke, dann hätte unserem Vater vielleicht mit einer Dialyse geholfen werden können. Ob es damals solche Geräte noch nicht gab, weiß ich nicht.

Ich weiß auch nicht, ob ich ihm mit der Nachricht von meiner bestandenen Diplomprüfung eine Freude gemacht hatte. Vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wenn ich Bäcker geworden wäre, um das Geschäft weiterzuführen, wie es sein Vater in jungen Jahren getan hatte. Er fiel zeitweilig ins Koma. Die Letzte, die ihn bei Bewusstsein vorfand, war seine zukünftige Schwiegertochter, meine Verlobte. Er wusste, dass wir heiraten wollten, wenn ich mein Studium beendet hatte. Als wir uns im Oktober 1951 verlobt hatten, schien ihm das zu früh. Er wollte nicht so schnell Großvater werden. Nun blieb ihm die Sorge, was aus unserer Mutter, unserer Familie werden sollte. Am 2. Weihnachtsfeiertag war ich in Saalfeld, als ich zurückkam, war er aus dem Koma nicht wieder aufgewacht. Eine schwere Zeit stand vor unserer Mutter.

Wie ich als Student zu Zeiss kam…

Im Rahmen der Studienreform 1951 war festgelegt worden, dass alle Studenten nach dem 3. Studienjahr in den Sommerferien ein sechswöchiges Praktikum in einem wissenschaftlichen Institut oder in der Industrie zu absolvieren hatten. Für die Jenaer Astronomiestudenten war die Sternwarte Sonneberg am besten geeignet, um dort die Beobachtungspraxis kennenzulernen. Da ich aber bereits in Sonneberg als Praktikant 5 Monate lang tätig gewesen war (Oktober 1948 - März 1949), kam mir ein Angebot von Dr. Hartwig, dem wissenschaftlichen Leiter der Astro-Abteilung bei Zeiss, recht.

In der Astro-Abteilung war man nach der Demontage damit beschäftigt, das Vorkriegsprogramm wieder aufzunehmen und bewährte Geräte zu rekonstruieren. Zu diesen Geräten gehörte auch das Koordinatenmessgerät „Komess", eine der letzten bemerkenswerten Entwicklungen des bekannten Chefingenieurs der Astro-Abteilung Franz Meyer. Das Gerät war zwar schon vor mehr als 20 Jahren entwickelt worden, seine Konzeption jedoch war noch nicht von anderen Entwicklungen überholt. Davon wusste ich nichts, und die Vorlesung von Dr. Hartwig über „Astronomische Instrumentenkunde" hatte das Thema nicht näher beleuchtet.

Eines Tages, vermutlich im Laufe des Monats Mai 1952, musste ich mich im Büro von Dr. Hartwig vorstellen, das im 6. Stock des „neuen" Hochhauses, dem jetzigen Ernst-Abbe-Hochhaus, lag. Ich kannte das Hochhaus schon. Im Januar 1951 beobachteten wir, Dr. Güssow und ich, ein intensives Nordlicht, das wir gern fotografiert hätten. Von der Sternwarte aus störte das Licht der Häuser und Straßenlaternen. So riefen wir bei Zeiss an, dass es ein starkes Nordlicht gäbe und ob wir das vom Dach des Hochhauses beobachten und fotografieren dürften. Wir waren mit der Betriebswache verbunden, vielleicht sollte ich eher sagen, mit dem Pförtner. Ohne weitere Erklärungen oder Notwendigkeiten für Rückfragen bei Vorgesetzten wurde unserer Bitte zugestimmt. Einer der Pförtner begleitete uns zunächst in den Fahrstuhl.

Als der sich in Bewegung setzte, bekam ich merkwürdige Gefühle in der Magengegend. Später erfuhr ich, dass der Fahrstuhl mit 6 m/s Steiggeschwindigkeit einer der schnellsten Fahrstühle war. Kurioserweise gab es im Fahrstuhl ein Schild, dass die Fahrt nur in Begleitung des „Führers" gestattet sei. Da das Hochhaus 1938 gebaut worden war, musste ein Spaßvogel diese Formulierung gewählt haben.

Diesmal wusste ich, was ich im Fahrstuhl erleben würde, und es ging auch nur bis zum 6. Stock. Auf der Nordwest- und Nordseite des Hochhauses befanden sich das Astro-Vertriebs-Büro und das Arbeitszimmer von Dr. Hartwig. Der Leiter des Astro-Vertriebs war Herr Händel.

Dr. Hartwig erklärte mir meine Aufgabe: Das erste Koordinatenmessgerät Komess der Nachkriegsfertigung war gerade fertiggestellt, und es sollte erprobt werden. Abgesehen von einer allgemeinen Erklärung über die Funktionsweise gab es keine Prüfvorschrift mit methodischen Hinweisen.

Das Gerät war mit Glasmaßstäben ausgerüstet, die mittels Spiralmikrometer abgelesen wurden. Diese Messelemente waren bei Zeiss Standard, alle großen Feinmessgeräte waren so ausgerüstet. Also musste ich mir nur die entsprechenden Druckschriften und Gebrauchsanleitungen beschaffen. Glücklicherweise waren aber die Unterlagen von Dr. Arthur König erhalten geblieben, der das erste Koordinatenmessgerät seinerzeit untersucht hatte. Die Mappen standen mir zur Verfügung, womit ich auch Vergleichswerte hatte. Das Gerät selbst war im Südwerk aufgebaut, in einem kleinen Raum neben der Astro-Montagehalle im Bau 34 an der Otto-Schott-Straße. Ich sollte versuchen, in den vorgesehenen sechs Wochen Praktikum soviel wie möglich herauszufinden.

Im Anschluss an die Besprechung begleitete mich ein junges Mädchen, in meinen Augen ein ziemlich junges Mädchen, zum Fahrstuhl und zum Ausgang. Das veranlasste mich zu der frechen Frage, ob sie schon ausgelernt habe? Da kam ich aber schlecht an, selbstverständlich! So begegnete ich Anita Karliczek, die eine erfolgreiche Entwicklung vom Industriekaufmann zur Abteilungsleiterin im Astro-Vertrieb nahm. Ab und zu erzähle ich diese Geschichte, so auch bei ihrem 40. Dienstjubiläum im Jahre 1990. Wir hatten viele Jahre sehr gut zusammengearbeitet.

Worauf kam es bei der Prüfung eines Koordinatenmessgerätes an? Zunächst musste alles funktionieren: die Bewegungen, die Beleuchtungen, die Abbildung der Objekte auf der Fotoplatte und der Maßstäbe. Für die einzelnen Elemente gab es Prüfmethoden und Prüfprotokolle. Für das Zusammenspiel der Elemente gab es ebenfalls Prüfmethoden und Toleranzwerte.

Insgesamt betrachtet ist auch das beste Messgerät nicht frei von Fehlern, vor allem, wenn man an der Grenze des physikalisch Möglichen messen will. Ein Präzisionsmessgerät muss so beschaffen sein, dass seine systematischen Fehler für lange Zeit konstant sind und sich mit einer Genauigkeit bestimmen lassen, die um eine Größenordnung genauer als der Fehler selbst ist.

Am besten ist es, wenn das Gerät so konstruiert ist, dass es keinen Verschleiß bei den Messelementen gibt. Das Komess war mit Maßstäben mit optischen Mikrometern ausgerüstet. Das war ein großer Vorteil gegenüber den Koordinatenmeßgeräten mit Präzisionsspindeln, die nicht nur als Maßverkörperung sondern auch als Bewegungsmechanismen dienten. Die Genauigkeit der Maßstäbe lag bei +/- 2 Mikrometer, verglichen mit einem geeichten mm-Maßstab. Bei einer Spindel gab es periodische und fortschreitende Fehler, beim Maßstab fortschreitende und beim Spiralmikrometer periodische Fehler. Das Spiralmikrometer musste den Millimeterintervallen angepasst werden, der entsprechende Fehler heißt Run. Dann kam es auf die Rechtwinkligkeit der Achsen an. Die waren bei dem Komess durch zwei Stahllineale definiert, die an dem Plattenrahmen befestigt waren. Der Winkel zwischen ihren Gleitflächen sollte weniger als 10 Bogensekunden von 90°, die Stahllineale selbst sollten über eine Länge von 300 mm weniger als 3 Mikrometer von der Geradlinigkeit abweichen.

Entscheidend für die Zuverlässigkeit der Bestimmung der sogenannten Gerätekonstanten, wenn sie solche sind, waren die Prüfmittel. Für die Maßstäbe gab es, wie erwähnt, Prüfprotokolle. Als ich diese genauer studierte, stellte ich eine Diskrepanz fest. Die Fehlerwerte waren in Einheiten von 0,1 Mikrometer angegeben, aber die Genauigkeit der Messungen lag bei dem oben erwähnten Wert. Über diese Diskrepanz konnte mir die Zentrale Prüfabteilung Auskunft geben, deren Leiter Dipl.Ing. Kiltz mir bereitwillig und geduldig Rede und Antwort stand. Man war offenbar auf solche Fragen vorbereitet, denn an der Wand hing ein Spruch, nachdem der Jüngling das Tausendstel erreichen will und sich als Greis mit dem Hundertstel zufrieden gibt. Ich gab mich aber nicht zufrieden und untersuchte später diese Problematik. Vorerst musste ich aber zur Kenntnis nehmen, dass die Angaben auf dem Prüfprotokoll eine gewisse Absicherung darstellten, ein Eingrenzen der Fehler. Andererseits waren die Ansprüche an die Feinmessgeräte nicht so hoch, weil die Einstellgenauigkeit an den zu vermessenden Werkstücken nicht so hoch war.

Die Einstellgenauigkeit war nur ein Kriterium für die Leistungsfähigkeit eines Koordinatenmessgerätes. Durch direkte Beobachtung mit Meridiankreisen oder Passageinstrumenten erreichte man Genauigkeiten in der Größenordnung von Bogensekunden. Bei der fotografischen Astrometrie kam es auf die Brennweite an, die den sogenannten Plattenmaßstab bestimmte. Die Astrographen des internationalen Unternehmens „Carte du Ciel" hatten eine Brennweite von 3440 mm, d.h. eine Bogenminute entsprach einem Millimeter bzw. eine Bogensekunde entsprach rund 17 Mikrometer. Der Durchmesser der schwächsten Sterne auf einer Fotoplatte lag in der Größenordnung von 50 Mikrometer. Hier spielten sowohl die Abbildungsqualität als auch die Luftunruhe, das sogenannte Seeing, eine Rolle, abgesehen von der Lichtstreuung in der fotografischen Schicht. Nun ist aber das Bild des Sternes auf der Fotoplatte nicht scharf definiert. Wenn man es mit etwa 10- bis 20-facher Vergrößerung betrachtet, dann entspricht es mehr einem Kugelsternhaufen in der Ansammlung der Körner der fotografischen Schicht. Die extrem lichtempfindlichen Astro-Emulsionen waren nämlich sehr grobkörnig.

Die Einstellgenauigkeit ist subjektiv bedingt, was den Zielvorgang betrifft. Hier spielte auch die bequeme, ermüdungsarme Beobachtung eine Rolle, was bei dem Komess gewährleistet war. Man konnte sich voll auf das Objekt konzentrieren, der Plattenwagen war frei beweglich. Die Feineinstellung war mit dem Handklotz verbunden, mit dem der Plattenwagen auf einer großen Glasplatte zeitweilig fixiert wurde. Das Umschalten zwischen Platten- und Maßstabsbeleuchtung war nur ein Handgriff, später mittels Fußschalter noch bequemer. Damit war auch eine hohe Messgeschwindigkeit möglich, was sehr wichtig war, wenn man große Mengen von Sternen vermessen musste.

Ich stellte fest, dass „echte" Sternaufnahmen nicht geeignet waren, verlässliche Aussagen über die Reproduzierbarkeit des Zielvorgangs zu gewinnen. Daher ließ ich mir von den Monteuren des Komess eine Platte mit künstlichen Sternen herstellen. Aus Lackspritzern entstanden kreisrunde, scharf definierte „Sternscheibchen" mit hohem Kontrast, die sich wesentlich besser einstellen ließen. Die Zielmarke des Komess war nicht ein Strichkreuz sondern eine Anordnung ineinander geschachtelter Quadratnetze. Diese Anordnung ermöglichte es, dass man sie mit Hilfe von Lichtspalten sehr genau symmetrisch einstellen konnte. Während man bei echten Sternen höchstens 5 Mikrometer erreichte, gelang es mir, mit den künstlichen Sternen die Streuung der Einstellung unter 2 Mikrometer zu bringen.

Nun muss man sehr aufpassen, dass man sich bei den Messungen nicht selbst betrügt. Jede Messung muss eine vollständig neue Messung sein, unabhängig von der vorhergehenden. Die Messwerte müssen so notiert werden wie sie kommen, nicht wie man sie aus der vorhergehenden Messung erwartet. Dann gilt der Grundsatz „Eine Messung ist keine Messung!". Also bewegte ich zwischen den Messungen den Plattenwagen, verstellte das Spiralmikrometer und kümmerte mich nicht um die bisherigen Meßwerte. Die Einstellung des Spiralmikrometers auf den Maßstab war sehr bequem und genau. Der Maßstabsstrich wurde mit einer aus Doppelstrichen gebildeten archimedischen Spirale „eingefangen", wobei wieder durch den Lichtspalt eine sehr genaue Reproduzierbarkeit gewährleistet war. Aus häufigen Wiederholungsmessungen ergab sich ein Wert besser als 0,1 Mikrometer.

Alle diese Erfahrungen konnte ich nicht in kurzer Zeit gewinnen. Dr. König hatte das Gerät sehr gründlich untersucht, und das wollte ich auch. Neben den Literaturangaben hatte ich auch die Rechenschemata, mit denen ich mich erst vertraut machen musste. Hinzu kam, dass ich kein erfahrener Messtechniker war. Es stellte sich bald heraus, dass die sechs Wochen Praktikum nicht reichten, um mein Programm zu absolvieren. Dr. Hartwig hatte nichts dagegen, dass ich noch drei Wochen anhängte.

In meinem Abschlussbericht konnte ich feststellen, dass das Komess zumindest den Qualitätsstand wie seine Vorgängergeräte vor 20 Jahren hatte. Einige Parameter, wie der Winkelfehler der Stahllineale, waren besser. Es schien aber zweckmäßig zu sein, noch eine genauere und gründlichere Untersuchung durchzuführen, auch von der eigentlichen Praxis her. Im Einvernehmen zwischen Prof. Lambrecht und Dr. Hartwig bekam ich diese Aufgabe als Thema für meine Diplomarbeit.

Der Übergang vom Praktikum zur Diplomarbeit ist eine übliche Praxis. Wenn man Glück hat, kann man sogar noch eine Doktorarbeit anhängen. Mein Glück war, dass ich etwas Konkretes zu untersuchen hatte und dass mein Interesse an der Messtechnik genau dazu passte. Ich bekam keine weiteren Vorgaben und konnte mir selbst überlegen, welche Fragen ich noch ergründen und beantworten wollte. Ich hatte etwa ein Jahr Zeit einschließlich der Niederschrift der eigentlichen Diplomarbeit. Das bedeutete, dass ich, wenn alles gut ginge, sogar mein Studium schon nach vier Jahren abschließen könnte. Das hatte noch eine persönliche Komponente: Seit Oktober 1951 war ich mit der Kindergärtnerin Ingeborg Arndt verlobt, und wir wollten nach Abschluss meines Studiums heiraten.

Zur Vertiefung der Untersuchung wollte ich mich mit dem Temperaturverhalten des Gerätes beschäftigen, die Genauigkeit der Maßstäbe überprüfen, echte Sternaufnahmen auswerten und alles durch längere Messreihen untermauern.

Während dieser Zeit (1952/53) war gerade der Bau der Astro-Halle (Halle 2) fertiggestellt worden. Im vorderen, nördlichen Teil war die Mechanikwerkstatt mit der hohen Endmontagehalle für das 2-m-Spiegelteleskop der Akademie der Wissenschaften untergebracht, im hinteren, südlichen Teil die Astro-Optikwerkstatt. In einem kleinen Raum wurde das Komess aufgebaut und die Heizung voll aufgedreht, so dass die Raumtemperatur nahe bei 30° C lag. Bei diesen Temperaturen absolvierte ich ein vollständiges Testprogramm. Dann wurde die Heizung abgestellt, bis die Temperatur unter 15° C lag, und ich wiederholte das Programm. Inzwischen hatte ich auch eine Einrichtung, um die Geradlinigkeit der Lineale prüfen zu können. In einer an zwei Seiten offenen Hülse war ein dünner Faden aus Molybdändraht gespannt, der nur 30 Mikrometer „stark" war. Molybdän hatte eine gewisse Elastizität, so dass es zuverlässig und anhaltend gespannt werden konnte. Wie sehr man den Draht auch gespannt hätte, es wäre nie gelungen, ihn exakt gerade zu spannen, auf Bruchteile von Mikrometern genau. Hier half wieder der alte Trick, in zwei Lagen zu messen, in dem die Hülse um 180° in ihren Lagern verdreht wurde. Das Mittel aus beiden Lagen war frei von Fehlern, abgesehen von den Messfehlern. Diese waren wieder sehr gering, die Streuung der Messwerte lag unter 0,1 Mikrometer. Die Strichfigur hatte nämlich an vier Seiten schmale Rechtecke, in die der Draht wieder so gut hineinpasste, dass ich den Lichtspalt zur genauen Einstellung benutzen konnte. Dann war noch interessant, ob sich an der Befestigung der Lineale infolge des wechselnden Temperatureinflusses etwas getan hatte.

Hier sei eine Bemerkung eingeschoben, dass ich natürlich nicht allein war, wenn ich mich mit dem Komess beschäftigte. Ich hatte bald guten Kontakt mit den Feinmechanikern, die das Gerät montiert und justiert hatten. Die drei Kollegen Hans Wohlmacher, Max Kuppel und Fritz Heineck hatten den Spitznamen „Die Kellerasseln", weil ihre Werkstatt in einem Keller im Hauptwerk in dem Gebäude lag, das sich längs der Carl-Zeiss-Straße erstreckte. Wenn man vom Hof kam, um in Richtung Ehrenhalle im Hochhaus zu gehen, führte eine Steintreppe in den Kellergang, und gleich daneben war die Werkstatt, im nächsten Raum war eine Schneckradschneidmaschine.

Ich verstand mich sehr gut mit den drei Kollegen und hatte bald großen Respekt vor ihren Fähigkeiten. Hans Wohlmacher war ein ganz ruhiger Typ, obwohl seine Hände leicht zitterten. Seine Spezialität war die Montage und Justierung der Stahllineale. Es war wichtig, dass diese völlig spannungsfrei waren. Ich erinnere mich, wie er mir erzählte, dass die Rohlinge zum Altern im Freien Wind und Wetter ausgesetzt waren. Die exakt geschliffenen Stahlkörper von etwa 25x25 mm² Querschnitt und etwa 320 mm Länge waren mit zwei Schrauben an dem Plattenrahmen befestigt. Ihre Lage wurde durch Erhebungen definiert, die dann durch sorgfältiges Läppen so abgearbeitet wurden, bis die geforderte Toleranz für den Winkel zwischen den Linealen eingehalten oder unterboten wurde.

Als Messmittel diente ein Doppelkollimator, zur Umlenkung des Lichts waren Planspiegel an die Linealflächen angesprengt. Eine solche Justierung war nicht die Arbeit eines Tages. Zwischen den Arbeitsschritten musste der Plattenrahmen „stehen", um eventuelle Spannungen abzubauen. Max Kuppel und Fritz Heineck waren auf die optische Justierung spezialisiert. Der Grundkörper des Komess war ein umgedrehter flacher Trog von etwa 1100 mm Durchmesser, in dem die Optik in zwei Ebenen untergebracht war. Eine Ebene für die Plattenbetrachtung, die andere Ebene für die Maßstabsbetrachtung und -ablesung. Über Teilungswürfel wurden die Bilder ins Okular geleitet, abwechselnd beleuchtet und somit getrennt zu betrachten. Bei der Maßstabsjustierung kam es vor allem auf den erwähnten Run an: Das Spiralmikrometer musste so justiert werden, dass sein Intervall von 0 bis 10 genau mit dem Millimeterintervall übereinstimmte.

Nachdem ich die Untersuchungen in der Halle 2 abgeschlossen hatte, wurde das Gerät in das Gebäude der Universitäts-Sternwarte im Schillergässchen umgesetzt. Ich hatte dort meine „Studentenbude" - sehr bequem, ich konnte in Hausschuhen zur Vorlesung gehen! Der einzige Nachteil für mich war, dass der Raum nur etwa 1.95 m hoch und die Türen noch niedriger waren. Im Vorraum, noch bequemer, wurde das Gerät aufgebaut. Leider liegt dieser Raum auf der Südseite, und es musste etwas getan werden, um stabile Temperaturbedingungen zu erreichen.

Ich überlegte mir eine Einhausung des Gerätes, die das ermöglichen würde. Es wurde ein Gerüst aus Kanthölzern aufgebaut, etwa 2x2 m² im Grundriss und etwa 1,8 m hoch. Das Gerüst hatte einen Rahmen für eine schmale Tür, die ebenfalls aus Kanthölzern bestand. Die Struktur wurde doppelseitig mit Plastefolie bespannt, womit eine Wärmedämmung erzielt wurde. Ich musste nun noch bedenken, dass ich mit meiner Körperwärme während der länger dauernden Messungen die Luft im Innenraum erwärmen würde. Ich konnte eine Heizmatte von 40 Watt Leistung auftreiben, was etwa meiner Wärmeproduktion entsprach. Diese Heizung war eingeschaltet, wenn ich nicht beim Messen war und ausgeschaltet, wenn ich meine Arbeit aufnahm. Durch sehr genaue Körperthermometer konnte ich kontrollieren, dass meine Idee funktionierte.

In der Sternwarte konzentrierte ich mich auf die astronomische Erprobung. Die Universitäts-Sternwarte Bonn hatte mir freundlicherweise Originalaufnahmen mit dem langbrennweitigen Bonner Refraktor überlassen, die ich bearbeitete. Ich konnte die Testmessungen an den scharf definierten Lackspritzern mit den echten Sternmessungen vergleichen.

Ein Problem hatte mich noch interessiert, das ich durch entsprechende Messreihen klären wollte. Es ging um die Genauigkeit der Maßstäbe. Zunächst hatte ich beim Studium der Fachliteratur herausgefunden, welche Vorläufer das Komess hatte. Es waren Messgeräte mit Präzisionsspindeln, die einen großen Aufwand bei der Fertigung erforderten. Ich hatte erfahren, dass es bei der eigentlichen Maßverkörperung nicht darauf ankam, genau dem Eichmaß des Meters zu entsprechen. Es kam nur auf das Verhältnis an, weil bei den astrometrischen Beobachtungen ohnehin durch die Vermessung von Referenzsternen der Plattenmaßstab in Bogensekunden/mm ermittelt wird. Dabei wird der sich eventuell ändernde Einfluss der Brennweite eliminiert. So kam es auch bei den Maßstäben nicht darauf an, dass der Längenfehler unter einem Wert von 3 Mikrometern lag, es kam nur darauf an, dass er einen linearen Verlauf hatte.

Dann wollte ich versuchen, etwas mehr über die einzelnen Maßstabsfehler herauszufinden. Bei der Fertigungskontrolle wurde durch Vergleich mit einem geeichten Maßstab der Abstand des jeweiligen Millimeterstrichs von dem Ausgangsstrich bestimmt. Ich hätte dieses Prinzip abwandeln können, indem ich einen geeichten Maßstab auf dem Plattenwagen montiert hätte. Der Aufwand dafür erschien mir zu hoch. So überlegte ich, ob ich nicht das Spiralmikrometer zu Hilfe nehmen könnte, mit dem man Intervalle sehr genau, bis auf 0,1 Mikrometer, bestimmen konnte. Das wurde bei der Justierung des Run benutzt.

So berechnete ich zuerst die Abweichungen von den Millimeterintervallen, indem ich die jeweils aufeinander folgenden Maßstabsfehler in Rechnung stellte. Dann bestimmte ich mit Hilfe von zahlreichen Nullintervallen die Größe des Run und damit den Nullpunkt meiner Skala. Anschließend wurde Millimeter für Millimeter gemessen, wobei ich drei voneinander unabhängige Messreihen aufstellte. Die Differenzen der Messreihen waren nicht groß, so dass die Mittelwerte einigermaßen zuverlässig waren. Dann bildete ich aus den berechneten und den gemessenen Intervall-Differenzen ein Korrelationsfeld.

Zu meiner Überraschung gab es kein Streufeld um die 45°-Linie. Die vermittelnde Gerade lag flacher, bei etwa 30°. Nun lassen sich große Abweichungen zuverlässiger als kleine bestimmen, die großen Abweichungen vom Intervall waren sicher real. Was ich festgestellt hatte, war aber eher akademisch, also für die Praxis ohne Bedeutung.

Das Ergebnis meiner Diplomarbeit bestätigte die hervorragende Qualität der Konzeption und der Realisierung des Gerätes. Alle Parameter wurden übertroffen, und es gab auch keinerlei Probleme beim Langzeitgebrauch. Die gerätebedingten Fehler lagen in ihrer Gesamtwirkung unter 2 Mikrometer, spielten also bei der Reduzierung der Sternaufnahmen zumeist keine Rolle. Mein Erfahrungsbericht enthielt eine Reihe von Empfehlungen für die Weiterentwicklung, so z.B. für einen binokularen Einblick und einen Fußschalter. An der eigentlichen Messtechnik hatte ich nichts auszusetzen. Bis auf die Mühsal, für jede Messung jeweils einen siebenstelligen Zahlenwert aufzuschreiben. Das eigentliche Messen war keine Belastung.

Meine Zeit mit Dr. Hartwig endete abrupt im Februar 1953. Hierzu noch eine kleine Episode. Meine Verlobte hatte im Universitäts-Kindergarten Knebelstraße 2 1950 ihr Praktikum gemacht, und dort hatte ich sie auch kennengelernt. Sie war nach Abschluss ihres Studiums im Sommer 1951 zuerst Leiterin eines Kindergartens in Bodelwitz bei Pößneck, bis sie sich nach Jena versetzen ließ, „weil sie in Jena heiraten wollte". Sie bekam eine Anstellung in dem gleichen Kindergarten. Dr. Hartwig wusste das. Er hatte zwei Kinder im Vorschulalter und hätte es gern gesehen, wenn sie wenigstens halbtags im Kindergarten sein könnten.

Da es immer wegen Krankheit oder Urlaub eine Fluktuation der Kinderzahl gab, gewährte man einen gewissen Spielraum bei der Größe der Gruppen. Meine Verlobte stimmte zu, und so gingen die Hartwigs-Kinder in den Kindergarten. Sie benahmen sich ordentlich. Aber eines Tages berichtete mir meine Verlobte, dass sie im Kindergarten erzählt hatten, dass ihre Familie bald nach dem Westen gehen würde.

Ich war erschrocken, glaubte jedoch nicht daran, dass Dr. Hartwig eine so gute Stelle bei Zeiss aufgeben würde. Bei der nächsten Gelegenheit berichtete ich Dr. Hartwig von den Äußerungen seiner Sprösslinge und erklärte in aller Unschuld, dass ich sie nur für Phantastereien hielt. Ich empfahl aber, sie entsprechend zu belehren, damit ihre Eltern keine Schwierigkeiten bekämen. Einige Zeit später saßen die Mitarbeiter der Sternwarte zusammen und klönten über dieses und jenes. Das Thema „Nach dem Westen abhauen" kam auch zur Sprache, und ich erzählte meine Story über den Kindermund. Dr. Güssow schaute mich groß an und erzählte, dass die Hartwigs weg seien. Da hatte ich den künftigen Chef verloren, denn Hartwig hatte mir angedeutet, dass er einen tüchtigen Mitarbeiter gebrauchen könnte.

Im Sommer 1953 kam der 17. Juni mit allen seinen Folgen. Aber ich musste meine Diplomarbeit zusammenschreiben und mich auf die Prüfungen vorbereiten. Da mir Prof. Lambrecht in der Sternwarte keine Assistentenstelle, vielmehr nur eine Aspirantur anbieten konnte, mit 400 Mark Stipendium, interessierte mich eine Anstellung bei Zeiss mehr, wo ich wenigstens ein Gehalt von 720 Mark bekommen würde. Schließlich wollten wir heiraten, und so üppig war das Gehalt meiner gegenwärtigen Zukünftigen auch nicht.

Inzwischen waren Dr. Güssow und Prof. Lambrecht als freie Mitarbeiter bei Zeiss unter Vertrag für die Astro-Abteilung. Güssow war tätig und Prof. Lambrecht gab seinen Namen. Das besserte durchaus meine Aussichten auf eine Anstellung bei Zeiss, denn nun wurde umso mehr ein Mitarbeiter benötigt.

Mein Diplom erhielt ich am 16.12.1953 und meine Tätigkeit bei Zeiss begann am 18.1.1954. Als ich Dr. Güssow fragte, was denn eigentlich meine Aufgabe in dem größeren Rahmen sei, gab er mir eine Antwort wie das Orakel zu Delphi. Ich solle so eine Art Filter für ihn sein. Da fragte ich denn doch, ob es ein Filter sein sollte, der, wie beim Kaffeefilter, das „Gute" durchlassen, oder wie beim Goldwaschen das Sieb, das das „Gute" zurückhalten sollte. Seine Antwort war: „Na beides!" Und nun wusste ich ganz genau, was vor mir lag! Aber das Thema Koordinatenmessgerät würde mich in den nächsten 40 Jahren nicht loslassen.

Über eine Reise nach Indien und Zeiss-Planetarien

Wenn einer eine Reise macht, dann kann er was erzählen! Reisen sind ein bedeutender Teil meines Berufslebens gewesen. Dazu hat sich mein Mitarbeiter und Mitstreiter Dr. Karl-Heinz Weßlau anlässlich meines 25. und 40. Berufsjubiläums umfassend geäußert, weshalb ich seine Reden diesen Memoiren sozusagen als von außen Gesehenes kommentarlos hinzufügen werde. Ich werde jetzt damit anfangen, wie ich Reisender in Sachen Zeiss-Astro wurde, und das ist ein großes Kapitel. Mit meiner ersten längeren Auslandsreise nach Indien hängt auch die Begegnung mit dem indischen Ministerpräsidenten Jawarahall Nehru zusammen, aber das ist eine andere Geschichte.

Im Frühjahr 1955 bekam ich die Mitteilung, dass für die erste große internationale Ausstellung in Indien, die Indian Industries Fair, ein Klein-Planetarium das Zentrum des DDR-Pavillons bilden sollte. Ich sollte geeignete Vorschläge für die Gestaltung des Messestands machen. Indien spielte eine wichtige Rolle in der Außenpolitik der DDR, die demzufolge auch ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten dort betont darstellen wollte. Das Kleinplanetarium war damals rekonstruiert worden, nachdem es ursprünglich für die Ausbildung in der Navigation nach Sternen für die Luftwaffe und die Marine entwickelt worden war. Meine erste Bemerkung in einer Beratung über das Zeiss-Programm war, dass ich das Kleinplanetarium als stilles Exponat nicht für geeignet hielt, das Zentrum der Ausstellung zu bilden. Wenn wir es zu einem Zentrum machen wollten, dann müssten wir es in Funktion vorführen. Gut! Und wie? In einer Kuppel? Ja, in einer Kuppel, die leicht aufzubauen sein musste.

Wir hatten allerdings nicht viel Zeit für eine technisch ausgefeilte Konstruktion. Dann mussten wir noch die indischen Verhältnisse berücksichtigen: der DDR-Pavillon war eine leere Halle, in die die Kuppel passen musste. In einer Beratung im Astro-Konstruktionsbüro mit Karl Röschke, der die Gruppe Planetarien leitete, kamen wir schnell zu einem Entschluss. Es sollte eine Leinwandkuppel nach dem Regenschirm-Prinzip werden, mit 6 m Durchmesser.

Auf einer größeren Zahl von Astro-Säulenstativen ruhte ein Ring-Rohr, aus Segmenten zusammengesetzt. Die Leinwandkuppel war aus Bahnen zusammengenäht, die sich nach oben verjüngten und im Zenit an einer Scheibe befestigt waren. Von dieser Scheibe gingen die Metallstäbe von etwa 4 mm Stärke aus, sie waren dort eingespannt. Am unteren Ende wurden die Stäbe in entsprechenden Öffnungen im Ring-Rohr aufgenommen.

Innerhalb kurzer Zeit war die Kuppel fertiggestellt, denn sie musste per Schiff nach Indien verfrachtet werden. Sie sollte Anfang September in Neu Delhi sein, mit etwa 8 Wochen Transportzeit also etwa Mitte Juni versandfertig sein. Die Erprobung in der Astrohalle war erfolgreich.

Mit meinem Vorschlag hatte ich mich stärker in den Vorgang eingebracht, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Ein Planetarium musste aufgebaut und vorgeführt werden, man benötigte Jemanden, der dies konnte und außerdem noch die englische Sprache beherrschte. Als "gelerntem" Astronomen war mir die Sprache vertraut, weil die meisten Veröffentlichungen in englischer Sprache erschienen. Ich hatte mich schon seit meiner Schulzeit für das Englisch-Amerikanische interessiert. Originaltexte von Steinbeck, Wolfe, Hemingway und Faulkner hatte ich regelrecht durchgearbeitet, die mir ein ehemaliger Schulfreund aus Essen im Tausch gegen Reclam-Hefte geschickt hatte. Dann hatte ich Übersetzungen aus Sky & Telescope-Artikeln gemacht, um den Kollegen die neuesten Entwicklungen der westlichen Welt näher zu bringen. Und immer den amerikanischen Soldatensender AFN gehört, wodurch ich ein Gefühl für die Sprache bekam, wie sie "normale" Leute sprachen. Das Englisch des BBC war mehr eine Theatersprache.

Die Vorbereitung für die Auslandsreise war nicht ohne Komplikationen. Ich wurde nämlich krank, und meine Beschwerden waren nicht leicht zu diagnostizieren. Es stellte sich dann eine ziemlich üble Gastritis heraus, sogar mit dem Verdacht auf ein Zwölffingerdarmgeschwür, die mich für längere Zeit flach legte. Mit Rollkuren versuchte mein Arzt, der spätere Chefarzt der Zeiss-Poliklinik, Dr. Trebing, meine Beschwerden in den Griff zu bekommen. Die Ursache? Vegetative Dystonie! Managerkrankheit! Ich lebte von ungesüßtem Pfefferminztee und Zwieback, mehr konnte ich nicht vertragen. Und der Reisetermin rückte immer näher. Es gab eigentlich keine Alternative, kurzfristig wäre es schwer gewesen, einen Ersatzmann zu finden.

Zwischendurch hatte ich mich mit einem profunden Indienkenner beraten. Georg Senf, technischer Kaufmann bei Zeiss, war vor dem Krieg in Calcutta längere Zeit bei der Zeiss-Vertretung tätig gewesen und während des Krieges in Indien interniert worden. Herr Senf, inzwischen im Auslands-Vertrieb von Carl Zeiss Jena tätig, war auch für die Warengruppe Astro verantwortlich. Ich hatte Bedenken, ob ich in Indien mit angemessener medizinischer Versorgung rechnen könne, falls es sich doch nicht nur um nervöse Magenbeschwerden handeln sollte. Er beruhigte mich, es gebe hervorragende Krankenhäuser und qualifizierte Ärzte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Mein Arzt meinte auch, dass er es verantworten könne, mich wieder "gesund zu schreiben", top fit war ich nach der langen Diät ohnehin nicht.

Die Reise sollte Anfang September beginnen. Mit Günter Heckel und Hans-Joachim Schuch gehörte ich zum "Vorauskommando", weil wir ja beim Aufbau der Kuppel mithelfen sollten. Heckel und Schuch waren technische Kaufleute der jüngeren Generation, die nach dem Abitur bei Zeiss zusätzlich zu ihrer kaufmännischen Ausbildung noch als Feinmechaniker ausgebildet wurden, damit sie vielseitig auch im Service eingesetzt werden konnten. Es war damals üblich und möglich, einem technischen Kaufmann den Aufbau und die kommerzielle Betreuung einer Ausstellung mit Geräten der verschiedensten Warengruppen zu übertragen.

Zu Hause blieb meine Frau mit unserem ersten, sechs Monate alten Sohn Bernard, mit den ganzen Problemen des kommenden Winters, weil vor Ende Dezember überhaupt nicht mit meiner Rückkehr zu rechnen war. Es wurden dann fünf Monate, ehe ich wieder nach Hause kam.

Vor unserer eigentlichen Abreise mussten wir nach Berlin ins Regierungskrankenhaus, um uns dort unser Quantum an Impfungen gegen Typhus, Paratyphus und Cholera abzuholen. Ich hatte einen Rochus gegen Impfen, denn bei der letzten Impfung als Schulkind gegen die Pocken hatte ich abgebaut. Ich befürchtete, ähnliches würde sich wiederholen, zumal ich ziemlich schwach auf den Beinen war. Günter Heckel dagegen berichtete, wie er ohne große Probleme in Italien im Schützenloch an vorderster Front gegen Malaria geimpft worden sei. Ich stand die Sache durch, weil es mir gleich war, wie man mir den Inhalt einer Kanüle in den Rücken spritzte, Günter Heckel sah sich die Sache bei seinem Vordermann genau an und kippte um!

Dann stand mir das nächste Abenteuer bevor, der erste Flug ab Prag mit einer Chartermaschine der AIR INDIA, einer viermotorigen Superconstellation, einer für damalige Zeit modernen Maschine.

Ich hatte von Kurt Tittelbach, ebenfalls im Auslands-Vertrieb tätig und für Indien verantwortlich, nur Loblieder von seiner kurz vorher erfolgten Bekanntschaft mit einem solchen Flugzeug gehört. Er schwärmte vor allem von der „kostenlosen" üppigen Verpflegung, die es quasi am laufenden Band gab, in der Zeit der Rationierung der Lebensmittel eine wahre Verlockung!

Vorher mussten wir mit der Bahn nach Prag fahren, im Schlafwagen. Die Nachwehen der Impfung waren ziemlich schmerzhaft, so dass keiner zum Schlaf kam. Dann fuhren wir zur Indischen Botschaft, um dort unser Visum abzuholen. Am Nachmittag sollte der Flug beginnen.

Die erste Flugetappe führte nach Zürich. Der Start verlief fast unbemerkt, und in einer Stunde etwa landeten wir. Auf dem Wege in den Transitraum bemerkte ich, dass das Dröhnen der Motoren immer noch anzuhalten schien und dass ich inzwischen schwerhörig geworden war. Ich hatte nicht gewusst, dass es notwendig ist, für den Druckausgleich zu sorgen, und die Start- und Landebonbons gab es damals noch nicht.

Wir hatten Taschengeld für die Reise bekommen, zwei Englische Pfund, mit denen wir Postkarten, Süßigkeiten oder sonst etwas kaufen konnten, im Gegenwert von etwa 20 DM.

Da der Abflug von Prag am Nachmittag erfolgt war, kamen wir mit dem Transitaufenthalt in den frühen Abend, wo das Flugzeug dann in Richtung Cairo startete. Wir hatten einen Flug von etwa 4 bis 5 Stunden vor uns, zuerst über die Alpen in Richtung Mailand und dann irgendwie übers Mittelmeer.

Zum Abendessen gab es Hammelkoteletts, aber ehe wir so richtig das Essen genießen konnten, mussten wir uns anschnallen, weil wir in eine Gewitterzone kamen. Für Neulinge im Luftverkehr war das eine unangenehme erste Erfahrung.

Inzwischen habe ich schon einige Gewitterflüge erlebt und meine eigene Taktik entwickelt, die etwas brenzlige Situation mental zu entschärfen. Der erste Trost, den man sich selbst zuspricht, ist, dass ein Blitz sehr selten in ein Flugzeug einschlägt, und wenn, wenig Schaden anrichtet. Das zweite tröstende Element ist, dass man keinen Donner hört oder gar die oft detonationsartigen Schläge, wenn ein Blitz in der Nähe eingeschlagen hat. Man sieht nur die Blitze, und wenn man die Augen schließt, könnte man meinen, man flöge durch eine Turbulenzzone. Damals über dem Mittelmeer hielt ich mich krampfhaft am Sessel fest, um das Auf und Ab besser zu vertragen. Ich glaube, nach einer Stunde hatten wir das Gewitter hinter uns und waren erleichtert, dass das Hammelkotelett sich nicht wieder gemeldet hatte.

Gegen Mitternacht sollten wir in Kairo zwischenlanden. Bei zwei Stunden Zeitdifferenz betrug die Flugzeit wahrscheinlich 4 Stunden mit der relativ langsamen Propellermaschine mit Kolbenmotoren. Wir wurden in den Transitraum geleitet und erhielten Erfrischungen von Kellnern, die nach unserem ersten ungeübten Blick in Nachthemden gekleidet waren.

Was wussten wir damals, in der Vor-Fernsehzeit und ohne Reisezeitschriften, wie man sich im Orient zweckmäßig kleidete! Unsere Vorstellungen für eine passende Kleidung in Indien hatten wir übrigens aus Filmen, wie „Der Tiger von Eschnapur" oder „Das Indische Grabmal". Danach müsste ein Europäer in Indien mit einem Khaki-Anzug gekleidet sein und zum Sonnenschutz einen Tropenhelm tragen! Als wir bei einer Delegationsbesprechung solche Vorstellungen entwickelten, lachte man uns aus. Wir bekämen genug Spesen und sollten uns im Lande passende Kleidung fertigen lassen.

In der Zwischenzeit schwitzte ich allerdings in einem neuen Anzug, der aus SOMOLANA, SOwjetisch-MOngolische Wolle (LANA), gefertigt war. Seine Besonderheit bestand darin, was ich bald in Indien merkte, in der tropisch-feuchten Luft sich voll Feuchtigkeit zu saugen, so dass man das Gefühl hatte, der Stoff wäre durch Wäschestärke versteift.

Die Transitzeit in Kairo währte bis etwa 3 Uhr Ortszeit. Dann ging der Flug weiter, dem Morgen entgegen. Kurz nach dem Start schlief ich ein, trotz des Dröhnens der vier Motoren des "Schnellsten Fliegenden Traktors der Welt", wie die Super-Constellation genannt wurde. Nach zwei Stunden leuchtete die aufgehende Sonne in die Kabine, und ich wachte dadurch auf. Wir hatten das Rote Meer schon längst überflogen, unsere Reisegeschwindigkeit war rund 500 km/h. In 4000 m Höhe hatten wir klare Sicht zum Boden auf die Wüstengebiete der arabischen Halbinsel, und wir bestaunten die endlosen Dünenberge, die sich von Horizont zu Horizont aneinanderreihten, aber ständig ein anderes Bild boten. Etwas Abwechslung in das Luftbild brachte der Flug längs des Persischen Golfs. Dann kam der Indische Ozean, dessen Teil man dort das Arabische Meer nennt, und das Wetter änderte sich allmählich. Nach etwa 6 Stunden Flugzeit kamen wir in Wolkenfelder, und die Maschine musste auf 6000 m Höhe steigen, um über die Wolken zu kommen. Das gelang nicht immer, und wir hatten einen Vorgeschmack auf das Monsunwetter, als wir uns dem Flughafen Bombays näherten. Durch die Wolkenlücken hatten wir gute Bodensicht, hier und da gab es auch größere Cumulus-Wolken, und wegen eines Gewitters in Flugplatznähe drehten wir einige Runden, bevor es zur Landung kam.

Die DDR-Delegation wurde gebührend von den Mitarbeitern der Handelsvertretung in Bombay begrüßt, sogar mit Blütenkränzen geschmückt. Eigentlich sollte die gesamte Mannschaft weiter nach Neu Delhi fliegen, um dort endgültig Station zu machen. Zu meiner Überraschung wurde mir mitgeteilt, dass ich nicht mitfliegen, sondern nach einem kurzen Aufenthalt in Bombay nach Kalkutta weiterfliegen sollte. Es handele sich um ein Groß-Planetariums-Projekt für Kalkutta, und ich solle mit dem Auftraggeber Kontakt aufnehmen. Ich war etwas überrascht, denn in Jena hatte man mir nichts von einem solchen Projekt gesagt, für das ich mich hätte vorbereiten können.

Ich wurde in einem kleinen Hotel „Ambassador" untergebracht, das in der Nähe der Uferstraße und Promenade lag. In diesem Hotel wohnten einige Mitarbeiter der DDR-Handelsvertretung und andere DDR-Dienstreisende, so dass wir nicht uns selbst überlassen waren. Mein Zimmer teilte ich mit dem „Brigadeleiter" der Gruppe vom DIA (Deutscher Innen- und Außenhandel) Feinmechanik-Optik, dem auch die Zeiss-Gruppe unterstellt war. Er begleitete mich auf meinen ersten Erkundungszügen in Bombay.

Trotzdem hatte ich gleich zu Beginn ein kleines Problem. Ich stellte fest, dass in meinem Badezimmer keine Seife war und wusste nicht, dass ich nur nach dem Zimmer-Boy hätte rufen müssen, der mir ein Stück Seife gegen einen kleinen Bakschisch gebracht hätte. So fragte ich, wo man am Samstagabend Seife kaufen könnte. Das wäre nicht schwierig. Gegenüber vom Hotel gebe es eine „24-Hours-Dispensary", eine Drogerie, die dauernd geöffnet sei. Dort könnte ich die Seife kaufen. So fragte ich den Verkäufer in meinem ungeübten Englisch nach Seife und bekam mehrere Stück zur Auswahl, von Sorten, die ich noch nicht einmal aus Annoncen kannte. Die Seife war ziemlich teuer. Das Stück kostete umgerechnet zwischen 5 und 10 DM, für die damalige Zeit ungeheuer viel. Ich wählte schließlich eines der unteren Preisklasse, zähneknirschend. Als ich später vom Abenteuer meines ersten Einkaufs berichtete, erfuhr ich, dass man mir teure Import-Seife angedreht habe. Erstklassige indische Seife, nach amerikanischer Lizenz hergestellt, koste höchstens 1 DM das Stück.

Die Unterkunft war, wie in Indien seinerzeit üblich, mit „Board and Lodging" gebucht, d.h. volle Verpflegung mit Übernachtung. Die Hotelpreise kommen einem heute nahezu paradiesisch vor. Wenn ich meinem ersten Brief an meine Frau trauen soll, dann kostete das Zimmer pro Person 20 Rupees für die Vollpension. Unser Tagesgeld betrug 50 Rupees, so dass wir in der Tat einigen Spielraum hatten, um uns einzukleiden. Ein Paar handgearbeitete Schuhe kosteten 20 bis 30 Rupees, eine Hose 60 bis 90 Rupees, ein Buschhemd 15 Rupees und eine Krawatte 6 Rupees. Ein Kinobesuch auf dem besten Platz 2,75 Rupees. Auch die Dienstleistungen waren billig, fünf Hemden waschen innerhalb von 24 Stunden kostete nur 1 Rupee.

Board and Lodging war einfach, weil man kein Restaurant zu suchen brauchte, andererseits etwas kompliziert für den Newcomer. Das erste Problem war die Speisekarte, auf der die Gerichte in französischer Sprache verzeichnet waren. Was wusste ich damals, was ein Consommé oder eine Entrecote war. Es dauerte auch einige Zeit, bis ich den Aufbau der Speisekarte verstanden hatte, die das Menü verzeichnete. Zuerst standen zwei Suppen zur Auswahl, eine kalt, die andere heiß. Dann kam eine Vorspeise, meist ein Fischgericht. Danach gab es zwei Fleischgerichte zur Auswahl, mit Beilagen nach Wunsch, Kartoffeln waren auch nur Beilagen. Nach einem Dessert gab es zum Schluss Kaffee oder Tee. Das war das Dinner-Menü am Abend, zum Lunch gab es eine leichtere Variante.

Am Morgen gegen 6.00 Uhr kam der Boy mit „Morning Tea, Sahib!". Serviert wurde sehr starker Tee, den man nur mit einer Unmenge an Zucker und Sahne genießen konnte. Dazu gab es eine Banane und einige Kekse. Das Frühstück war Englisch: Gekochte Haferflocken mit Milch oder Cornflakes, Orangensaft, frisch gepresst, oder eine halbe Grapefruit, Spiegel- oder Rühreier mit Speck oder Schinken, Toast, Butter, Marmelade, Tee oder Kaffee. Es war eine Lust zu leben, ohne Lebensmittelkarten.

Das Wetter war noch das der Monsun-Zeit, feucht-heiß mit häufigen Gewitterschauern, sehr intensiv, aber örtlich begrenzt. Das Hotelzimmer besaß als einzige Milderung der hohen Temperaturen einen Deckenventilator. Man hatte uns aber gewarnt, unbedeckt zu schlafen, weil man sich leicht erkälten könnte.

Der Speisesaal war klimatisiert, nach einem dort hängenden Thermometer auf 25° Celsius. Wenn man den Speisesaal betrat, fror man zunächst, verglichen mit den 30 bis 35° Celsius Außentemperatur. Nach einer Weile hatte man sich daran gewöhnt, das Abendessen dauerte etwa eine Stunde. Wie ein Schock wirkte danach wieder die Außenluft, und auch ein Spaziergang längs der Uferpromenade brachte keine Erfrischung.

Der zweite Tag in Indien war ein Sonntag, der 4. September 1955. Nach dem Frühstück wollte ich Bombay erkunden. Die Kollegen von der Handelsvertretung sagten uns, es wäre nicht weit ins Zentrum, man könnte es zu Fuß erreichen, wir sollten aber nicht allein gehen. Auch einige Ratschläge gab man uns mit auf den Weg. Auf der Straße würden Obdachlose liegen, die sollten wir nicht beachten. Wir sollten auch Bettlern gegenüber vorsichtig sein, sonst könnten wir uns vor ihnen nicht retten. Dann sollten wir keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Wenn überhaupt, wäre ein Taxi die angemessene Weise, größere Entfernungen zurückzulegen. So begann der Sonntagsspaziergang der Neuankömmlinge.

Als wir die Straße entlang gingen, betrachteten wir neugierig alles, was zu sehen war. Die Häuser konnte man als modern abezeichnen, allerdings merkte man den Einfluss des feuchten Klimas an schwarzen, offenbar vermoderten Wandflächen. Die Palmen vor allem und die tropische Vegetation waren für uns neu. Dann mussten wir beim Überqueren der Straße aufpassen, denn es herrschte englischer Links-Verkehr. Es dauerte ziemlich lange, bis wir uns daran gewöhnt hatten, erst nach rechts zu schauen und dann nach links. Der Verkehr war dicht, alle möglichen Vehikel der verschiedensten Jahrgänge belebten die Straße. Die Hupe war das wichtigste Bauteil der Fahrzeuge.

Es dauerte auch nicht lange, und wir waren von Straßenhändlern umringt, die uns Schweizer Uhren und Schmuckringe „mit echten Rubinen" zu erstaunlich niedrigen Preisen anboten. Als wir uns erkundigten, woher die Ware stamme, wurde Aden genannt, wo man in einem Freihafen billig einkaufen könne. Ich selbst war skeptisch, ob es sich nicht um Diebesgut anstatt von Schmuggelware handelte. Und ob ein Goldring mit echtem Rubin für 10 DM wirklich das war, was er sein sollte, war sehr fraglich. Wir wimmelten die Händler ab und ersparten uns eine erste Enttäuschung.

Später erfuhren wir von den Tricks der Verkäufer, die eine echte Schweizer Uhr präsentieren, sie sogar öffnen, damit man das echte Uhrwerk sieht. Hat man die Uhr dann erworben, kann es passieren, dass die echte Uhr gegen ein Falsifikat ausgetauscht wurde, im schlimmsten Fall sogar gegen eine Uhr ohne Uhrwerk. Bessere Chancen hatte man bei den ansässigen Uhrmachern. Ich kaufte mir später in Kalkutta meine erste Schweizer Armbanduhr, die fast Chronometergenauigkeit hatte und nur etwa 150 DM kostete. Erst nach etwa 20 Jahren kündigte sie ihren Dienst auf, weil das Aufzugszahnrad abgenutzt war.

Gleich zu Beginn unseres Spaziergangs fielen uns größere rote Flecke auf dem Weg auf, wie getrocknetes Blut, wofür wir keine Erklärung hatten. Schließlich erfuhren wir, dass die Inder häufig Betel kauen und dabei ein rötlicher Saft entsteht, der dann ausgespuckt wird. Es dauerte nicht lange, bis wir gemerkt hatten, dass man in einem tropischen Land mit großen ökonomischen Problemen nicht einen europäischen Standard an Hygiene erwarten kann. Es gab aber immer wieder Irritationen, z.B. wenn das Ungeziefer zwar so aussah wie in Europa, jedoch viel größer war.

Meinem ersten Brief nach hatte ich einen deprimierenden Eindruck von der Fahrt durch die Vororte der 4-Millionen-Stadt Bombay vom Flugplatz zum Hotel. Was man da sah, musste einen „zivilisierten" Menschen erschüttern. Ich hatte den Eindruck, dass ein Viertel der Menschen bettelt, ein Viertel Straßenhändler von oft ominöser Art und ein Viertel Bedienstete sind. Aber das war die Sicht des arroganten Westlers.

Wir hatten das Thema Bildungsgrad schon einmal bei einer der zentralen Vorbesprechungen diskutiert. Man berichtete uns, dass es in Indien über 80 % Analphabeten gebe. Das erschien viel, aber der umgekehrte Schluss wurde oft verdrängt, dass 20 % und damit rund 40 Millionen gebildete Inder eine schwere Aufgabe nach der langen englischen Herrschaft übernommen hatten.

Nach dem Mittagessen hielten wir Siesta. Nach einem alten indischen Sprichwort gehen um die Mittagszeit „only mad dogs and Englishmen" auf die Straße. Nachmittags spazierten wir am Meer entlang und merkten später den Unterschied zwischen der Dämmerung in niederen und höheren geographischen Breiten. Nach den Temperaturen war es Sommer und wir verbanden damit einen langen Tag mit einer allmählichen Dämmerung. In Bombay waren wir dem Äquator schon so nahe, dass die Dämmerung nur sehr kurz war, gegen 18.30 Uhr war es schon dunkel, abgesehen von den Straßenbeleuchtungen und den Neon-Röhren an Geschäften, Restaurants und Kinos.

Es gab viele Kinos, in denen auch westliche Filme gezeigt wurden, natürlich in englischer Sprache. Man konnte anspruchsvolle Filme sehen, aber auch Hollywood-Komödien oder Western-Filme. Einige Mitarbeiter der Handelsvertretung hatten ihre Familien mit und wohnten alle in einem Haus, was beinahe ein Ghetto war. Sie durften keine Kontakte zu anderen Ausländern haben, auch nicht zu solchen aus den „Bruderländern". Fernsehen gab es nicht, Radioempfang war nur über Kurzwelle möglich. Eine zusätzliche Schwierigkeit war, dass die frischgebackenen DDR-Auslandskader kaum englische Sprachkenntnisse hatten. Im Büro kam man mit Dolmetschern zurecht, aber privat war man hilflos. So hatten Filme mit viel „Action" den meisten Zuspruch, weil man im Western ohnehin die Schurken leicht von den Guten unterscheiden kann.

Ein Problem gab es noch in Bombay, das mich selbst aber wenig berührte. Bombay war, obwohl klimatisch ziemlich feucht, eine „trockene" Stadt, es herrschte Prohibition. Bier oder Schnaps erhielt man nur auf Lizenz, ein Greuel für eingefleischte deutsche Biertrinker! Dazu später noch eine kleine Story!

Bis zu meiner Abreise nach Kalkutta am 7.9. konnten wir in Bombay noch etwas Sightseeing machen. Die vornehmste Gegend der Malabar Hills war ebenso unser Ziel wie die Türme des Grauens, wo die Sekte der Parsees ihre Toten mit Hilfe der Geier „bestattete". Taxifahrten waren billig. Man musste aber auch damit rechnen, dass man erst über Umwege sein Ziel zu höheren Kosten erreichte.

Meine erste Inlandsreise führte mich mit der Bahn nach Poona, wo ich ein Kleinplanetarium der amerikanischen Firma Spitz zum ersten Mal aus der Nähe betrachten konnte. Es war ziemlich einfach konstruiert, sein Erfinder Armand Spitz, den ich später 1959 in New York kennenlernte, hatte mit einem Papp-Körper angefangen, in den er Löcher für eine Lochprojektion gestochen hatte. Das Modell A hatte noch viele Ähnlichkeiten mit dem „Original", und die Spitzgeräte hatten eigentlich nur in den USA eine gewisse Chance, weil uns der Zugang zum dortigen Markt aus politischen Gründen und wegen des hohen Zolls sehr erschwert war.

Die Reise nach Kalkutta sollte ich nicht allein antreten. Zur Unterstützung würde ein Mitarbeiter der Handelsvertretung mitkommen. Eine große Hilfe war er nicht, wie sich bald herausstellte. Seine englischen Sprachkenntnisse waren rudimentär, aber er hatte schon etwas Indien-Erfahrung.

Meine Aufgabe würde sein, mit der Firma Birla, einem der größten Privat-Unternehmen in Indien, Kontakt aufzunehmen. Der Hauptsitz der Firma war in Kalkutta, und man war an einem Auftrag für ein großes Stahlwerk interessiert. Zum Dank für den Auftrag wollte Birla der Stadt Kalkutta ein Planetarium schenken, und ich sollte versuchen, diesen Auftrag für Carl Zeiss Jena zu sichern. Wie schon erwähnt, war ich auf meine Aufgabe nicht vorbereitet. Ich hatte weder Druckschriften noch Angebote, nicht einmal eine Visitenkarte konnte ich übergeben, um mich zu legitimieren. Aber ich hatte eine gute Chance, da ich vor Ort war und voraussichtlich genügend Zeit haben würde.

Der Flug von Bombay nach Kalkutta dauerte fünf Stunden. Wir flogen in einer zweimotorigen VIKING in relativ niedriger Höhe und konnten sehr schön die Landschaft und die Vegetation beobachten. Ich erinnere mich besonders an die terrassenförmig angelegten Reisfelder, die wir gut erkennen konnten, und die Palmenwälder. Gegen 13.00 Uhr landeten wir in Kalkutta, und die feucht-heiße Luft kam uns noch unangenehmer als in Bombay vor, wo immer eine Meeresbrise eine gewisse Abkühlung zu bringen schien. Der Flughafen von Kalkutta liegt in einer Sumpfgegend, und der modrige Geruch beim Verlassen des Flugzeugs war wenig einladend.

Mein Begleiter übernahm sofort die Initiative und kümmerte sich um eine Fahrgelegenheit in die Stadt. Ob es einen Zubringerbus in die Stadt gab, wusste ich nicht, wir sollten auch nicht mit öffentlichen Massenverkehrsmitteln fahren. Die Auswahl an Taxis war nicht groß. Uns blieb nur ein Methusalem von einem amerikanischen Straßenkreuzer, der offenbar noch von der Kriegszeit übrig geblieben und ziemlich heruntergekommen war. Der Fahrer war ein Sikh, was sofort an dem Turban und dem ungeschorenen Haupt- und Barthaar zu erkennen war - die meisten Taxifahrer waren Sikhs.

Das Auto war eine „Rostlaube", was wir schon beim Einsteigen merkten, als die Türen nur mit Wucht ins Schloss fielen. Einen Zündschlüssel gab es nicht, mit einem blanken Draht wurde die Zündung aktiviert. Von einem Taxometer keine Spur, auf den man sich sonst hätte verlassen können. Wir waren unserem Schicksal ausgeliefert.

Nach einer halben Stunde etwa kamen wir an unserem Bestimmungsort an, dem „Grand Hotel" in der Chowringhee Road, gegenüber dem Maidan gelegen, einem riesigen Parkgelände. Mein Begleiter wusste ungefähr, was eine Taxifahrt vom Flugplatz kosten würde, und war daher erstaunt, als er den mehr als doppelten Preis zahlen sollte. Es gab eine große Diskussion. Der Sikh bedeutete, dass er ja für die Fahrt zu seinem Stellplatz am Flughafen auch bezahlt werden müsse, was wir aber ablehnten. Der Streit setzte sich bis in die Hotelhalle fort, wurde aber durch den Empfangs-Chef abrupt abgebrochen, der den Taxifahrer aus dem Hotel wies.

Das „Grand Hotel" entsprach seinem Namen. Es war wesentlich größer als das „Ambassador", hatte es doch über 500 Zimmer. Davon waren viele bereits mit lokalen Klima-Anlagen, sogenannten Air-Conditionern, ausgerüstet, die, ins Fenster eingebaut, im Übrigen einen Höllenlärm machten. In dem „Grand Hotel" wohnte ich immer wieder, wenn ich nach Kalkutta kam, und ich war bald mit dem Hotel vertraut. Dazu später noch eine Story über Mungos.

Mein Begleiter hatte sich auf Kalkutta gefreut, weil man dort wieder etwas Alkoholisches zu sich nehmen könnte, und er hatte auch eine Adresse, wo wir außerdem etwas Unterhaltung finden würden, Musik und so weiter. Es sollte in dem Hotel „Bristol" sein. Wo das war, wussten wir nicht, spielte auch keine Rolle, wir würden sowieso im Taxi fahren.

In Indien brauchte man damals kein Taxi zu rufen, man stellte sich an den Straßenrand und schon war eins da! Das taten wir auch und hatten nur einige Schwierigkeiten, dem Taxifahrer unser Ziel begreiflich zu machen. Er fragte mehrmals und ließ uns dann einsteigen, fuhr 50 Meter und hielt an, wir wären am Ziel! Naja, besser als fünfmal um den Block gefahren.

Das Hotel war kein Hotel oder jedenfalls nicht mehr, dafür befand sich dort ein Tanzlokal, was wir bald feststellten, nachdem wir einen schummrigen Flur, in dem es merkwürdig roch, durchquert und uns ins Hochparterre begeben hatten. Die Kapelle spielte nicht schlecht die gängigen Schlager, bei denen ich mich ganz gut auskannte, dank AFN und Schlagerparade. Es herrschte reger Betrieb, und wir nahmen an einem kleinen Tisch Platz.

Was wir bestellen wollten, fragte sofort ein Kellner. Mein Begleiter bestellte einen Whisky, aber ich war eigentlich weder auf harte Sachen noch auf Bier eingestellt, einen Orangensaft wollte ich aber auch nicht bestellen. Da erinnerte ich mich an einen Schlager, der damals oft gespielt wurde: „If You ever come to Trinidad...!" mit dem Refrain: „Drinking Rum and Coca-Cola...!" und das bestellte ich, ohne zu ahnen, was das sein würde. Nach der üblichen Klassifikation war es ein Long Drink, in der Hauptsache Coca-Cola mit einem Schuss Rum.

Wenn ein solches Getränk gut gekühlt ist, kann man es als eine Erfrischung betrachten. Nachdem ich aber den ersten Schluck probiert hatte, war ich außerordentlich enttäuscht. Es war eine lauwarme Flüssigkeit, die etwas nach Hustensaft schmeckte, aber ich wollte es mir nicht anmerken lassen.

Das Publikum war „gemischt", darunter auch einige Matrosen. Die „Damen" waren sehr attraktive Asiatinnen, auch Anglo-Inderinnen. Als man uns fragte, ob wir Damenbegleitung haben wollten, lehnten wir „dankend" ab, weil wir ja nur etwas trinken und kein Abenteuer erleben wollten.

Eigentlich wussten wir nicht so richtig, in was für eine Spelunke wir geraten waren. Nach einer Weile beobachteten wir, dass sich eine der Schönen für eine Zeit mit ihrem Begleiter entfernte, dann aber allein wiederkam. Bald hatte sie einen neuen Begleiter und das Spiel begann von vorn! Und das kam uns doch etwas merkwürdig vor! Aus reiner Neugierde, quasi durch Forschungsdrang getrieben, beobachteten wir die Szene noch, bis es uns besser schien, das Lokal zu verlassen. Unsere erste Erfahrung in dem Sünden-Babel Kalkutta hatten wir gemacht, ohne „besondere Vorkommnisse"! Zu Fuß kehrten wir ins Hotel zurück und bereiteten uns auf unsere eigentliche Aufgabe vor, dem Besuch bei der Firma Birla Industries.

Das weitverzweigte Familien-Unternehmen wurde von mehreren Brüdern Birla geleitet. Einer dieser Herren, mit dem ich noch öfter zusammenkommen sollte, hatte den Auftrag, sich um die Planetariumsangelegenheit zu kümmern. Mangels einer Visitenkarte stellte ich mich mit einer Bildpostkarte vom Jenaer Planetarium als dessen Deputy Director vor und wurde freundlich empfangen. Mr. Birla erläuterte mir die Absicht, ein Planetarium in Kalkutta zu errichten und damit die Tradition indischer Astronomen fortzuführen. Ich erklärte ihm, dass ich wegen des Aufbaus und des Betriebs eines Zeiss-Kleinplanetariums längere Zeit in Neu Delhi sein würde. Um das Angebot und die erforderliche Beratung würde ich mich kümmern und dann  wieder nach Kalkutta zu weiteren Besprechungen kommen.

Es war meine erste kaufmännische Aktivität, und auch auf dem Planetariumsgebiet konnte ich mich nicht als Experte bezeichnen. In Jena lief das Zeiss-Planetarium praktisch nebenher, als ein Teil der Astroabteilung. Dr. Fritz Heiland, ein ehemaliger Jenaer Lehrer, trug die Last der meisten Vorträge. Als Bedienungspersonal waren erfahrene Mechaniker, wie Walter Gebauer und Heinz Gitschat, eingesetzt, die nicht nur die Wartung, sondern gelegentlich auch Vorträge übernahmen.

Das Planetariumsgeschäft hatte sich auch noch nicht so wie vor dem Krieg entwickelt. Allerdings war das erste neue Großplanetarium von Carl Zeiss Jena nach Stalingrad/Wolgograd geliefert worden, in einer weiterentwickelten Ausführung. Ing. Fritz Pfau, der unter Bauersfeld und Villiger das Zeiss-Planetarium in die Form gebracht hatte, die dann charakteristisch wurde, hatte bei der Rekonstruktion maßgeblich mitgewirkt. In Jena waren keine Konstruktionsunterlagen mehr vorhanden, diese waren mit den Amerikanern nach dem Westen gegangen. Lediglich die ausführliche Gerätedokumentation und das Jenaer Planetarium als Studienobjekt waren der Ausgangspunkt für die Jenaer Entwicklung und Fertigung, die auf diese Weise offener für technische Weiterentwicklungen war. Ing. Gerhard Vogel, der dann die Nachfolge von Pfau antrat, führte z.B. die stufenlose Regelung der Planetariumsantriebe und später viele Verbesserungen und Neuerungen ein. Dadurch war der Vorsprung des Jenaer Planetariums gegenüber der Oberkochener Fertigung und auch gegenüber der Konkurrenz in den USA und Japan begründet.

Nach der Besprechung bei Birla machte ich mich, nun allein, auf den Weg nach Neu Delhi, wieder in einem kleinen zweimotorigen Flugzeug. Die Flugroute führte längs des Ganges. Wegen der geringen Flughöhe konnte man viele Details des überflogenen Gebiets erkennen. Ich kam mit dem Flugkapitän ins Gespräch, dem ich mein Interesse für die Navigation darlegte, als Astronom. Er lud mich in die Pilotenkanzel ein und zeigte mir, dass bei gutem Wetter einfach nach Sicht geflogen wird. Auf einer Streckenkarte mit einem Maßstab ähnlich einem Messtischblatt konnte ich nun sehr genau das Gelände mit der Karte vergleichen. Ich habe es später oft bedauert, dass die Flugpassagiere keine Möglichkeit haben, während des Fluges so genau über die Route und das überflogene Gelände informiert zu werden. Erst mit der Bildschirmtechnik in den modernsten Maschinen der Neuzeit kann man die Neugier in „real time" befriedigen.

In Neu Delhi hatten inzwischen die anderen Mitglieder der ersten Gruppe ihre Quartiere bezogen und sich mit den Gegebenheiten vertraut gemacht. Bei meiner Ankunft in Neu Delhi wusste ich nicht, wo unsere Uinterkunft war. Ich fuhr also mit einem Taxi zum Messegelände und traf dort meinen Kollegen Günter Heckel, der dort Dolmetscherdienste beim Bautrupp leistete. Er schien schon völlig akklimatisiert zu sein: Khaki-Hosen und -Hemd, neue Schuhe und schon braungebrannt. Ich blieb dort, bis wir mit einem Omnibus zu unserem Wohnhaus fuhren. Unsere Gruppe war in einem Vorort von Neu Delhi in gemieteten kleinen Häusern untergebracht. Die Vertreter des DIA Feinmechanik/Optik, zu dem wir gehörten, wohnten in einem einstöckigen Haus, wie üblich mit Flachdach, auf dem man im heißen Sommer im Freien schlief. Wir drei Zeissianer hatten ein Zimmer im Erdgeschoss, mit einem kleinen Duschraum mit WC. Der Fußboden war aus Terrazzo, wegen der vielen Insekten leichter sauber zu halten. Außer den drei Betten, Tisch, Stühlen und Schrank war nichts im Raum, was uns aber nicht störte. Günter Heckel war der einzige von uns, der „Auslandserfahrung" hatte. Er war nämlich als junger Leutnant in Italien in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte dort als Dolmetscher ein anscheinend herrliches Leben geführt. Er verglich ständig die Lebensumstände in Neu Delhi mit denen in Italien, und vor allem das Ungeziefer erregte seinen Zorn. Zugegeben, sowohl von der Anzahl als auch von der Größe her waren die Insekten nicht gerade angenehme Zeitgenossen.

Wir wurden in einem Haus in der Nähe verpflegt, auf englische Art. Das Essen kam aus dem Restaurant des nahegelegenen Inlandsflugplatzes, wobei es einige Zeit dauerte, bis alles in die Reihe kam. Eigentlich begann der Tag noch früher mit dem üblichen „Morning Tea". Gegen 6.30 Uhr kam auch bei uns der Boy ans Bett und servierte den sehr starken Tee. Zum richtigen Frühstück gab es die gleiche Auswahl wie im Hotel. Mittags wurden ebenso wie abends mehrgängige Menüs serviert. Das war ein Luxus, wenn man bedenkt, dass es in der DDR noch Lebensmittelkarten gab.

Einige Worte zu der beruflichen Zusammensetzung der DDR-Delegation. Die Aufgabe bestand darin, einen Pavillon für die Internationale Industrieausstellung aufzubauen und die Exponate aufzustellen. Außerdem waren natürlich während der Zeit der Ausstellung die Exponate zu betreuen und Verkaufsverhandlungen zu führen. Die erste Gruppe der Delegation bestand aus Bauhandwerkern mit Messeerfahrung, und ich gehörte mit dazu, weil auch unsere Planetariumskuppel mit in der ersten Phase aufgebaut werden musste. Wahrscheinlich wäre es billiger gewesen, den Ausbau der Halle von einheimischen Handwerkern erledigen zu lassen, aber es gab damals keine Erfahrungen dazu. Soweit ich mich erinnere, war diese Ausstellung die erste DDR-Ausstellung im „kapitalistischen" Ausland. Die Ansprüche der Handwerker an das Essen waren nicht hoch, sie waren ja an Baustellen- oder Kantinenessen gewöhnt. Die Hauptsache war, dass es mittags schnell ging, damit man noch etwas Zeit für ein Nickerchen hatte.

Wir drei Zeissianer gehörten zu den wenigen, die über Grundkenntnisse der englischen Sprache verfügten, so dass wir auch als Dolmetscher oder Vermittler eingesetzt wurden, z.B. wenn es Verhandlungen mit dem Architekten des Pavillons oder dem indischen Zoll ging. Meine Sprachkenntnisse verbesserten sich also, wobei es manchmal etwas schwierig war, die indisch-englische Sprechweise zu verstehen. Zu meiner täglichen Lektüre gehörte das Studium zweier Zeitungen, der „Times of India" und dem „Statesman". Als erstes wurde das Kinoprogramm studiert, denn das war unsere einzige Unterhaltung. Dann interessierte der Wetterbericht. Nachrichten aus Europa waren eher spärlich. Die Zeitungen kamen früh gegen 6 Uhr, und ich holte sie mir als erster und las sie im Bett. Der nächste Luxus war die Trockenrasur mit einem Philips-Elektrorasierer, ebenfalls schon im Bett erledigt. Dann kam, abgestimmt mit meinen Zimmergenossen, das hygienische Ritual mit Dusche, selbstverständlich lauwarm, wie üblich aus dem Sammelbehälter auf dem Dach.

Wie ich aus meinen Briefen entnehmen kann, herrschte kein Hochbetrieb für uns. Die üblichen Besprechungen fanden entweder im Haus mit der Brigade oder auf der Baustelle statt. Die DDR-Gruppe war eine der ersten ausländischen Gruppen. Wir fanden eine große leere Halle vor, die dann das gesamte Angebotsprogramm des DDR-Außenhandels aufnehmen sollte. Die Ausstellung hatte insofern eine besondere Bedeutung, als die DDR von der indischen Regierung als souveräner Staat anerkannt war und der Warenaustausch im Rahmen eines Clearing-Kontos erfolgte, also keine freien Devisen benötigt wurden. Daher waren Geschäfte mit der DDR aber auch mit der UdSSR besonders interessant.

Bei der Ausgestaltung der Halle wurde nicht gespart, um entsprechenden Eindruck zu machen. Vom Standpunkt der Versorgungslage in der DDR wurde sogar ein ziemlicher Luxus getrieben. So waren die Wände der Halle mit echter Seide bespannt. An den Eingängen der Kuppel des Klein-Planetariums waren dichte Vorhänge aus schwerem Wollstoff angebracht, und für die Silhouette des Panoramas verwendete ich schwarzen Seidensamt.

Inzwischen hatten wir mit der Handelsvertretung der DDR in Bombay das weitere Vorgehen in der Planetariumsangelegenheit Kalkutta beraten. Ich sollte nach Bombay fliegen und Kontakt mit der Vertreterfirma von Carl Zeiss Jena, der Firma Gordhandas Desai Ltd., aufnehmen, um ein Angebot zu erarbeiten. Ich wurde von Günter Heckel begleitet, weil es das Reglement vorschrieb, dass mindestens zwei DDR-Bürger „sich auftragsgemäß von der Truppe entfernen durften", und auch zur Unterstützung in kaufmännischen Fragen.

Wir flogen mit dem Nachtflugzeug, weil das billiger war. Großes Gepäck hatten wir nicht, Zahnbürste und Rasierapparat waren das Wichtigste. Einen Schlafanzug brauchten wir auch nicht, und Wäsche zum Wechseln kauften wir uns bei Bedarf. Wir wohnten im Ambassador-Hotel und hatten es nicht weit zur Zeiss-Vertretung. Nachdem wir uns beim Direktor gemeldet hatten, wurden wir mit einem Mr. Gokhale bekannt gemacht. Zu meiner Überraschung kannte er sich relativ gut mit Planetariumsfragen aus, so dass es keine langen Vorreden gab. Das erste Problem, das wir hatten, war, geeignetes Briefpapier von Zeiss zu fabrizieren, denn das Angebot musste professionell aussehen. Das war insofern nicht einfach, weil zu dieser Zeit der Warenzeichenstreit mit Oberkochen im Gange war. In Jena hatte man versucht, mit einem modifizierten Linsenzeichen mit der Inschrift „Ernst Abbe" das Verbot des traditionellen „Carl Zeiss Jena"-Linsenzeichens zu umgehen. Ich war über den Stand der Angelegenheit nicht genau informiert und entwarf vorsichtshalber eine doppelte Variante, links oben „Carl Zeiss Jena", rechts oben "Ernst Abbe Jena". Zu meiner Überraschung waren die Briefbögen innerhalb eines Tages gedruckt. Das Angebot schrieb ich selbst, wobei ich mich nicht mehr erinnere, woher ich den Text hatte. Wahrscheinlich gab es aber schon einen Briefwechsel mit Jena.

Ursprünglich sollten wir nach Kalkutta weiter fliegen. Es wurde aber beschlossen, das Angebot erst einmal per Post zu übermitteln. Da wir für den Rückflug bei Tag fliegen wollten, mussten wir zwei Tage warten, bis Plätze frei waren. In dieser Zeit versuchte Günter Heckel, eine Erkältung mittels einer Flasche französischen Cognacs Marke „Hennessy" zu kurieren. Es war aber mehr eine Plage, bei der Hitze zusätzlichen Brennstoff zu konsumieren. Wir hatten die Flasche von der Zeiss-Vertretung erhalten, was illegal war, man benötigte eine persönliche Lizenz. Demzufolge musste die Flasche geleert werden, was wir aber nicht schafften - der Rest verschwand im Ausguss!

In Neu Dehli war es immer noch ziemlich heiß, wenn auch die trockene Hitze von 35° um die Mittagszeit sowieso mit der Siesta überbrückt wurde. Zu unserer Erheiterung wurde in den Zeitungen schon für warme Wollsachen für den Winter geworben. Gegen Ende September begann es heftig und anhaltend zu regnen, so dass schließlich das Wasser etwa 10 cm hoch in den Straßen und auf den Plätzen um unser Haus stand. Wir konnten nur mittels Taxi zwischen den Häusern verkehren.

Wir hatten inzwischen unseren Aufenthaltsort und seine Ausdehnung näher kennen gelernt. Wie der Name Neu Delhi schon zu erkennen gibt, gab es auch das alte Delhi mit den Sehenswürdigkeiten, wie dem Red Fort, das an das vorige Jahrhundert erinnert. Das neue Delhi war von den Engländern weitläufig auf dem Reißbrett geplant worden mit den Bauten der Kolonialregierung. Es entstanden aber auch moderne Gebäude mit Kinos und Geschäften an ringförmigen Plätzen. Der Bekannteste war der Connaught Place am Connaught Circus. Dort gab es mehrere moderne Kinos, die wir häufig besuchten. Da unsere Wohnung etwa 7 km entfernt lag, war es immer eine kleine Exkursion, an der sich mehrere Kollegen beteiligten, auch um die Taxikosten erträglich zu machen. Anschließend an den Film statteten wir dem in der Nähe gelegenen Café „Volga" einen Besuch ab. Für eine Rupie pro Person konnte man soviel Kaffee trinken, wie man wollte, und als Gebäck gab es sogenannte „Petit Fours", eine Köstlichkeit!

Bemerkenswert war auch der Turm des Qtab Minars, in dessen Nähe die bekannte eiserne Säule steht, die nicht rostet. Ganz in unserer Nähe befanden sich astronomische Beobachtungsanlagen des Radscha Singh, das sogenannte Jantar Mantar. Später konnte ich auch in Jaipur im Staate Radshastan die wesentlich größeren Anlagen dieser Art besichtigen, bei denen die Messgenauigkeit durch entsprechend große Dimensionen der Mauerwerke erzielt wird.

Wenn ich in meinen Briefen von damals nachlese, so ging es auf der Messe nur langsam vorwärts. In der Zwischenzeit hatte ich gelegentlich Dolmetscherdienste zu leisten. Meinen Wortschatz hatte ich durch die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften allmählich erweitert, und ich hatte auch Gelegenheit, meine Hör- und Sprechfähigkeit zu trainieren. Wir erhielten ab und zu Besuch von einer hübschen jungen Inderin namens Sheila, die von den Verwaltern der Häuser, in denen wir wohnten, als eine Art Betreuerin angestellt war. Vermutlich ging es mehr darum, ihr einen bezahlten Job zu besorgen, denn sie kam nur vorbei, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei und um die Boys zu kontrollieren. Die Verwalter, zwei Brüder, kamen auch ab und zu, und so konnten wir auch einiges über das Leben in Indien erfahren.

Eigentlich hätte ich schon während meiner Studentenzeit mehr über Indien erfahren können. Eines Tages fragte mich Professor Lambrecht, mein Lehrer, ob ich mir ein paar Mark verdienen wollte. Ich sollte dem Direktor des Pathologischen Instituts, Prof. Fischer, den Umgang mit dem Rechenschieber beibringen. Er wolle statistische Untersuchungen anstellen und die Berechnungen selbst durchführen. Das war eine leichte Übung, und Prof. Fischer war zufrieden. Wir unterhielten uns auch über andere Themen und so erfuhr ich, dass er als junger Marinearzt bei Ausbruch des 1. Weltkriegs in Tsingtau, dem deutschen Marinestützpunkt in China, stationiert gewesen war. Ich erzählte, dass ich an der englischen Sprache und Literatur interessiert sei, und erhielt von ihm ein englisches Taschenbuch geschenkt: „A Passage to India" von G. M. Forster, ein bekannter Roman, der später auch verfilmt wurde. Irgendwie war mir aber das Buch aus dem Sinn gekommen, und ich habe es erste später gelesen, nachdem ich den Film gesehen hatte.

Eines Abends nach unserem Abendessen kam ein Kollege ins Haus und erklärte mir, dass es eine Einladung für mehrere DDR-Kollegen zu einem Empfang bei einem einflussreichen Inder gebe und ich als Dolmetscher mitkommen sollte. Es blieb mir nichts anderes übrig als mitzukommen, da, wie ich schon erwähnt hatte, nur wenige Mitglieder unserer Delegation Englisch sprechen konnten. Das Anwesen lag neben der westdeutschen Botschaft und war festlich mit Lampions geschmückt. Vor dem Haus standen eine Unzahl Autos und sogar Polizei, die für Ordnung sorgte. Es waren etwa 30 Personen versammelt, darunter Parlamentsabgeordnete, Unionsminister und der Bürgermeister von Neu Delhi. Wir wurden von dem Hausherrn freundlich empfangen, und ich versuchte, so gut wie es ging, mit unserer Gruppe die DDR zu vertreten. Das Abendessen folgte noch, indisch-vegetarisch, fremdartig und höllisch scharf. Ich kam dann noch mit der jüngeren Schwester der Hausherrin ins Gespräch, die sich für Deutschland und für Musik interessierte, zwei Themen, die mir keine Schwierigkeiten machten.

Inzwischen ging es auf der Messe vorwärts mit dem Ausbau der Messestände. Für unsere Planetariumskuppel war die Hallenkonstruktion relativ günstig. Wir konnten sie an einem Stahlträger aufhängen, mussten aber vorher in die Decke ein Loch schneiden. Das war kein Problem, denn die Deckenverkleidung bestand aus dünnen Sperrholzplatten. Das rechteckige Loch sollte mich später noch irritieren.

Wie ich schon erwähnte, hatten wir für die Kuppel einen Ringträger vorgesehen, der auf Stahlständern ruhte. Die Kuppel musste aber lichtdicht gemacht werden, und so wurde drum herum eine Außenkuppel auf Holzständern aufgebaut. In Erwartung eines großen Besucherandrangs hatten wir doppeltbreite Eingänge und Ausgänge gegenüberliegend angeordnet, die mit dichten Wollstoffvorhängen abgeschlossen waren. Welch eine Verschwendung - Mantelstoff als Vorhangmaterial!

Den Aufbau der Kuppel hatten wir schon in Jena erprobt. Wir hievten die rund fünf Meter lange Schirmkonstruktion auf die entsprechende Höhe von etwa ebenfalls fünf Metern (zwei Meter Ständerhöhe und drei Meter Kuppelradius). Der kritische Moment war das Aufstülpen der Kuppel. Wie hatten einige „Schieber" bauen lassen, und mehrere Kollegen waren im Einsatz. Vorsorglich hatten wir noch ein Gewicht im Zenit angebracht, was sich dann bewährte und den erforderlichen Druck ausübte.

Es klappte alles im ersten Anlauf, und ich konnte mich daran machen, die Silhouette zu gestalten. Ich klebte etwa 30 cm breite Streifen von schwarzem Seidensamt auf dünne Pappe, insgesamt auf einer Länge von 19 Metern. Dann ging ich daran, mit einer Schere die Silhouette auszuschneiden, was soweit führte, dass ich Blutblasen an der Hand hatte. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sich nicht daraus eine Entzündung entwickelt hätte. So war ich mit geschientem Arm erst einmal nur zum Zuschauen da.

Der Aufbau des Kleinplanetariums selbst machte mir auch keine Probleme. Meine Kollegen Heckel und Schuch halfen mir dabei. Sie hatten allerdings auch noch ihr eigenes Exponateprogramm zu erledigen. Dann musste ich mich auf die Eröffnungsvorstellung vorbereiten. Es war selbstverständlich, dass auch unser Pavillon höchsten Regierungsbesuch bekommen würde.

Es war vorgesehen, das Kleinplanetarium nach Abschluss der Ausstellung als Geschenk der DDR an die indische Regierung zu übergeben. Formal würde das bereits bei der Eröffnung erklärt werden. Der indische Ministerpräsident Jawarhallal Nehru sollte während der Besichtigung des DDR-Pavillons auch eine Vorführung des Kleinplanetariums erleben. Ich musste mir nun einen interessanten kurzen Vortrag überlegen und mich auf eine Rede in englischer Sprache vorbereiten.

In der Aufbauphase konnte ich nur die Abendstunden nutzen, was dann bei der Arbeit bei Tageslicht kurz vor Eröffnung der Ausstellung zu einem kleinen Schreck führte. Als ich michnämlich nach einiger Zeit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, merkte ich, dass im Zenit der Kuppel ein quadratisches Stück schwach erhellt war. Wenn man in die Kuppel kam, merkte man es nicht, aber nach etwa einer halben Stunde. Was war die Ursache? Ich hatte schon erwähnt, dass wir in der Decke ein Loch anbringen mussten, damit wir die Kuppel an dem Hallenträger aufhängen konnten. Am Abend war es dort dunkel, aber am Tage kam von der Seite her Licht in den Zwischenraum zwischen Decke und Dach. Es war nichts mehr zu ändern, und ich tröstete mich damit, dass die meisten Besucher weniger als die erwähnte halbe Stunde im Planetarium sein würden.

Der große Tag kam heran, und ich war ganz schön aufgeregt. Mitten in meine „mentale" Vorbereitung meines Auftritts kam der Delegationsleiter und verlangte eine Generalprobe. Obwohl ich meinen Text noch nicht ganz intus hatte, war er zufrieden, und ich harrte der Dinge, die da kommen sollten. Seitens der DDR-Regierung war der stellvertretende Ministerpräsident Heinrich Rau nach Dehli gekommen, der außer dem Kleinplanetarium auch die „Gläserne Frau", das bekannte Exponat des Hygienemuseums Dresden, an die indische Regierung übergeben sollte.

Die Regierungsdelegation kam gegen 11.30 Uhr und sollte insgesamt nur 10 Minuten im Pavillon bleiben, davon etwa 3 Minuten im Planetarium. Es war also nichts mit einem 10-Minuten-Vortrag. So zeigte ich zuerst, wie es im Planetarium bei solchen Gelegenheiten üblich war, den Sternenhimmel des Eröffnungstages, den 29. Oktober 1955, und führte dann die Reise zum Nordpol vor. Das reichte offenbar, wegen der knappen Zeit, denn ich bekam ein entsprechendes Signal. Als Dank gab es sogar einen Händedruck von Nehru, der von der Wochenschau aufgenommen wurde, was ich aber vor Aufregung gar nicht merkte. Meine Mutter sah es dann im „Augenzeuge", der DDR-Wochenschau, und war ganz stolz auf ihren Sohn.

Wir hatten, wie zu erwarten war, nach der offiziellen Eröffnung am Nachmittag großen Zulauf, nicht nur von der indischen Bevölkerung, sondern auch von der Presse. Als ich bei einer Sondervorführung für die Journalisten gefragt wurde, ob ich auch „Fliegende Untertassen", UFOs, zeigen könnte, verwies ich auf den amerikanischen Pavillon nebenan. Meine Schlagfertigkeit wurde mit einem allgemeinen Gelächter belohnt. Zu den „Special Guests" gehörten auch der indische Staatspräsident, der König und die Königin von Nepal, zahlreiche Botschafter, Parlamentsabgeordnete usw. Ich bin sicher, dass ein Kleinplanetarium als bloßes Exponat kaum ein solches Interesse gefunden hätte. Am wichtigsten war aber, dass durch die Vorführung des Gerätes der Boden für das Planetarium Kalkutta vorbereitet wurde.

Nach den Pressemeldungen besuchten täglich etwa 50.000 Besucher die Ausstellung und mit Sicherheit besuchten mindestens 45.000 den DDR-Pavillon, der zu den besten im internationalen Vergleich gehörte. Es dauerte nicht lange und ich merkte, dass ich meine Vorführungen anders organisieren musste. Von Europa aus war Englisch die richtige Sprache für die Vorführungen, aber nur die Oberschicht in Indien sprach Englisch. Die Inder hatten Hindi als Amtssprache, dazu kamen aber noch zahlreiche Sprachen. Ich bemühte mich um einen Studenten, der Hindi sprach, und schon hatten wir einen besseren Zugang zu der Bevölkerung. Allerdings wäre es müßig gewesen, allzu hohe intellektuelle Ansprüche zu stellen. Das einfache Volk kam in großen Scharen, und ich hatte mehr damit zu tun, als Respektsperson für Ordnung zu sorgen. Bei größter Hitze stellten sich jeden Tag mehrere Tausend Menschen an und warteten geduldig oft über eine Stunde, bis sie das Wunder bestaunen konnten. Wir hatten keine Stühle für die allgemeinen Vorführungen. In der 6-m-Kuppel standen jeweils fast 100 Besucher dicht an dicht gedrängt.

Die Verhandlungen mit dem Birla Trust gingen auch während der Ausstellung weiter. Ich veranstaltete eine Sondervorführung für Mr. T. M. Birla, der in Begleitung eines anderen Großindustriellen die Ausstellung besuchte. Bei ihm war der Leiter des Birla-Büros in Neu Delhi, ein Captain T. P. Rajan, der die Gäste auf der Ausstellung führte. Er lud mich einige Tage später zu einigen Drinks in seine Wohnung ein. Günter Heckel begleitete mich, und wir wurden schon vor dem Haus von Rajan persönlich erwartet. Er stellte uns seiner Frau vor, später kamen auch noch ein Schotte, Vertreter einer Linoleum-Fabrik, und ein Tscheche, hochrangiges Mitglied der Handelsvertretung der CSR. Es war ein angenehmer Abend. Rajan schwärmte von dem Deutschland der Vorkriegszeit, das er als Student kennengelernt hatte. Er und seine Frau hatten viele Reisen unternommen und ihre Wohnung mit zahlreichen Souvenirs ausgestattet. Fast nebenbei wurde verabredet, dass ich demnächst nach Kalkutta fliegen sollte. Dort sollte ich bei der Vorbereitung der Verhandlung mit der Regierung des Staates Uddar Pradesh, in dem das Stahlwerk aufgebaut werden sollte, helfen und auch bei der Standortsuche behilflich sein. Es schien so, als ob unsere Chancen nicht schlecht standen.

Eigentlich sollte die Ausstellung bis Ende November gehen, und wir hätten vielleicht noch vor Weihnachten wieder nach Hause kommen können. Wegen des großen Erfolgs wurde sie erst bis Mitte Dezember und dann bis Anfang Januar verlängert. Aus ganz Indien kamen die Menschen nach Neu Delhi, und das Kleinplanetarium und der große Mensch, der es vorführte, waren auch überall bekannt. Ich bekam eine Art Spitznamen: Ich sei so groß wie der Qtab Minar, der große Turm. Kollegen, die nach Südindien gereist waren, um dort Gewürze für die DDR zu kaufen, wurden nach mir befragt.

Bei meinen Verhandlungen mit der Firma Birla musste ich vieles, natürlich in Absprache mit meinen beiden Zeiss-Kollegen, allein entscheiden. Es war im Orient allgemein üblich, um den Preis zu feilschen, und man hatte uns für unsere Einkäufe auf dem Basar entsprechende Ratschläge gegeben. Was sollte ich aber machen, wenn die technischen Gespräche glatt über die Bühne gegangen waren, offenbar auch die Konkurrenz nicht im Spiel war, und dann doch die Forderung nach einer Preisreduzierung um 1.000 engl. Pfund, dh. um rund 10.000 DM kam. So ging es mir bei der nächsten Kalkutta-Reise, während der in größter Freundlichkeit verhandelt worden war. Der Hausherr, einer der Brüder Birla, hatte mich persönlich zum Hotel zurück begleitet und fragte mich wegen eines solchen Preisnachlasses vor der Hoteltür. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als dass ich erklärte, keine Vollmacht dafür zu haben und eine Rückfrage in Jena nicht vor vier Wochen zu erwarten wäre.

Mitte Dezember veranstaltete die Delegationsleitung einen Busausflug nach Agra zum berühmten Taj Mahal, das als das Indische Grabmal auch in Deutschland bekannt war. Es war immer noch schönes Wetter, nicht mehr so warm am Tag, aber gegen Abend wurde es kühl und im Bus sehr luftig. Das Ergebnis war eine erhebliche Erkältung, die ich auch nicht so schnell wieder los wurde. Dadurch war ich nicht in der Lage, an einem Ausflug nach Simla im Staate Kashmir teilzunehmen. Ob ich daran meine Freude gehabt hätte, weiß ich nicht. Die „Bergreisenden" berichteten schaurige Dinge von der Fahrt in Richtung Himalaya, wie ich sie später auch in ähnlichen Regionen erlebte. Natürlich ging es in Serpentinen nach oben, aber die Straßen waren nicht breit genug, dass man an jeder Stelle hätte überholen können. Das findet man auch in den Alpen so. Auf der einen Seite steigt der Fels steil an, und auf der anderen Seite fällt er schroff ab. Kein Bordstein oder andere Sicherung beruhigt den Busreisenden. Das ist auch in den Bergen Kalifornien so, wie ich später erlebte. Aufwärts geht es auch noch einigermaßen sicher, aber abwärts wird es kritisch. Das wusste natürlich auch die indische Straßeninspektion, und so wurde jedes Fahrzeug vor der Abfahrt nach unten inspiziert. Es ging aber nicht so sehr um die Bremsen, vielmehr wurde geprüft, ob die Hupen laut genug waren. Schaurig war es auch, weil die Straße von Autowracks gesäumt war, die einst in die Tiefe stürzten.

Als Entschädigung durfte ich dann mit einem Kollegen aus Leipzig einen mehrtägigen Ausflug nach Jaipur im Staate Radschastan machen, wo mich besonders das Große Observatorium des Schahs Singh interessierte, wie ich schon erwähnte. Die Maharadschahs besaßen in Indien keine politische Macht mehr, dafür aber noch ihre Paläste, die man besichtigen konnte. Bekannt ist der Palast der Winde mit seiner interessanten Fassade. Wir besichtigten noch ein Fort außerhalb Jaipurs, und ich erlebte meinen ersten Ritt auf einem Elefanten.

Weihnachten kam, und es war immer noch Hochbetrieb auf der Ausstellung, andererseits begann die Planung der Abreise. Nahezu zeitgleich findet in Indien das Holi-Fest statt, und so wurde es eine ost-westliche Weihnachtsparty mit einem üppigen Diner, aber ohne Weihnachtsbaum.

Zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich noch einmal nach Kalkutta fliegen, um möglichst zu einer Auftragserteilung zu kommen. Ich hatte sogar schon den Flug gebucht, da kam der Birla-Vertreter Captain Rajan in unser Quartier und bat um eine Verschiebung der Reise auf Anfang Januar. Ich erklärte ihm, dass es für mich einige Problem gäbe. Die Rückreise würde ebenso wie die Anreise mittels Charterflug erfolgen, und es gäbe zwei feste Termine, der letzte um den 10. Januar herum. Dann begann ich, ein wenig zu pokern, man könnte es auch jammern nennen. Ich hätte keine Erlaubnis, ein Flugticket zu erwerben, und auch keine Mittel für einen Hotelaufenthalt, müsste also um diese Zeit Indien verlassen. Er hörte sich das an und versprach, mir sobald wie möglich wieder Bescheid zu geben. Ich glaube schon am nächsten Tag schickte er mir eine Nachricht. Die Firma Birla würde mir sowohl ein Flugticket zur Verfügung stellen als auch die Hotelkosten übernehmen! Da wusste ich, dass der Auftrag für das Planetarium Kalkutta so gut wie sicher war.

Nach der Abreise der zweiten Gruppe zog ich in ein kleines Hotel um und machte mir ein paar schöne Tage. Meine Hauptbeschäftigung war die Zusammenstellung des Reisegepäcks, das durch die Gewichtsbeschränkungen des Fluggepäcks genau überlegt werden musste. So kaufte ich erst einmal zwei Luftgepäck-Koffer aus Leder, die ein größeres Volumen als normale Koffer hatten. Einer davon nahm die Wäsche- und Kleidungsstücke auf, die ich während meines Aufenthalts gekauft hatte. Kurioserweise sei ein großer Beutel mit Nylonsocken erwähnt, die damals etwas Besonderes waren, auch wenn meine Frau zu Hause eine Unmenge Löcher zu stopfen hatte. Dann hatte ich herrliche Seidenstoffe, Stolas, Tischdecken und ähnliche Kostbarkeiten gekauft. Das Problem für die DDR-Bürger war nämlich, dass wir unsere Spesen in indischer Währung in Rupien ausgezahlt bekamen und die Rupie nicht in harte Währung konvertierbar war. Forum-Schecks und Genex-Konten gab es nicht. So hatten einige Kollegen Goldschmuck gekauft, aber das war irgendwie herausgekommen, und es gab einen großen Krach.

Unsere polnischen Kollegen hatten es besser. Sie erhielten ihre Spesen in Form von Travellerschecks in Englischen Pfund und konnten dann zu Hause quasi mit harter Währung sehr gut einkaufen. Wer sparsam gelebt hatte, konnte sich einen Wartburg kaufen!

Die Abschlussbesprechung mit den Vertretern der Firma Birla dauerte nicht lange. Ich bekam einen Brief, „Letter of Indent", dass die Firma Birla bei Carl Zeiss Jena ein Großplanetarium zu den vereinbarten Bedingungen (Preis und Termin) bestellen wird. Den Brief hätte man auch per Post nach Jena schicken können. So konnte ich das Ergebnis meiner Tätigkeit in Jena dem neuen Kaufmännischen Direktor Kurt Büttner direkt vorlegen.

Meine Heimreise sollte von Bombay nach Genf mit AIR INDIA führen, dann mit einem Inlandsflug nach Zürich und dann nach Prag. Die letzte Strecke mit VINDOBONA nach Berlin und schließlich mit dem D-Zug nach Jena. Wir stiegen gegen Mitternacht in Bombay bei einer Außentemperatur von plus 24° Celsius ins Flugzeug und kamen am Nachmittag nach zwei Zwischenlandungen in Bahrein und Athen bei minus 17° Celsius an. Einen Inlandsnachtflug gab es im Winter nicht, also erhielt ich ein Bahnticket Genf – Zürich und einen Voucher für eine Übernachtung im vornehmen „Hotel du Theatre".

Im Flugzeug nach Prag war auch eine Gruppe von DDR-Dienstreisenden, die ebenfalls längere Zeit im Orient an irgendeinem Elektroprojekt gearbeitet hatten, also mit Unmassen an Gepäck. In der Handelsvertretung der DDR in Prag war ich avisiert und erhielt zu allem Überfluss noch ein großes Paket aufgehalst, das in Berlin in Empfang genommen werden würde.

Der DDR-Zoll war zuerst ein wenig überrascht, wieviel Gepäck wir hatten, wurde dann aber friedlich, als wir erklärten, wie lange wir im Ausland waren.

Am nächsten Morgen kam ich völlig übermüdet in Jena an, zuletzt mit dem Bummelzug von Naumburg, völlig durchfroren. Und die Grippe ließ auch nicht lange auf sich warten.

Zeiss-Service in China

Die Astronomie verdankt viele Berichte über astronomische Ereignisse des Altertums den gewissenhaften Aufzeichnungen chinesischer Himmelsbeobachter. Verbürgte Nachrichten lassen sich bis in das 8. Jahrhundert vor der Zeitrechnung verfolgen. Es wurden auch Beobachtungen von Kometen und Finsternissen sowie Messungen der Länge des Sonnenschattens überliefert, die sogar bis in das Jahr 2296 v.d.Z. zurückreichen, jedoch nicht völlig gesichert sind. Zur Han-Zeit (etwa 200 v.d.Z. bis 200 n.d.Z.) stand die Chronologie und Astronomie in China in großer Blüte. Aus dieser Zeit sind uns Formelsysteme bekannt, die zur Berechnung von Neumonddaten, Planetenbewegungen, Mondfinsternissen und anderen kalendarisch wichtigen Begebenheiten dienten. Ältere Kalenderrechnungen lassen sich bis auf die Chou-Zeit (um 1100 v.d.Z.) und die Chronologie des Tse-Chuan, die die Jahre 723 bis 468 umfasst, zurückführen.

Aber auch im Mittelalter war die chinesische Astronomie aktiv, was man an den kunstvollen Instrumenten der alten Pekinger Sternwarte ermessen kann, die ich 1958 auf der Pekinger Stadtmauer und im Gelände der Sternwarte auf dem Purpurberg in Nanking besichtigen konnte.

Die moderne Astronomie in China ist jedoch zunächst fremden Ursprungs. Für die Bedürfnisse der westlichen Seefahrer entstand in Shanghai das Zi-Ka-Wei-Observatorium zuerst als meteorologische und später als Zeitdienst-Station. Um 1900 wurde dann von französischen Jesuiten etwa 40 km von Shanghai entfernt die Zo-Se-Sternwarte gegründet. Erst um 1930 wurde endlich in Nanking, der damaligen neuen Hauptstadt des Landes, die erste größere nationale Sternwarte auf dem Purpurberg errichtet. Die Sternwarte wurde von Zeiss mit modernen Beobachtungsgeräten ausgerüstet, die nunmehr auch astrophysikalische Arbeiten zuließen. Bald lähmte jedoch die japanische Besatzung die so günstig begonnene Entwicklung. Viele Geräte konnten zwar rechtzeitig verlagert werden, doch das eine oder andere wurde beschädigt oder verschleppt.

Nach der Gründung der Volksrepublik China konzentrierte sich der Wiederaufbau auf dem Gebiet der Astronomie zunächst auf die Sternwarte auf dem Purpurberg. Eine erste Spezialistengruppe der Astroabteilung des Jenaer Zeisswerkes unter Leitung von Ing. Willy Gerlach unterzog das Hauptgerät, ein 600-mm-Spiegelteleskop, einer gründlichen Überholung sowie Rekonstruktion, und stellte es wieder in Betrieb.

Eine zweite Arbeitsgruppe baute in Peking das neue Zeiss-Großplanetarium auf, das im Herbst 1957 eröffnet wurde. Als dritte Gruppe weilte der Verfasser mit zwei Angehörigen der Astrofertigungsabteilung, Max Kuppel und Herbert Blumentritt, im Frühjahr 1958 von März bis Juni in China, Nordkorea und der Mongolei im Rahmen des Kundendienstes von Carl Zeiss Jena. Die Hauptaufgaben der Gruppe waren, die bestehenden guten Verbindungen zu den chinesischen Astronomen zu vertiefen und zu erweitern, die inzwischen gelieferten Astro-Geräte aufzustellen oder zu überprüfen, die jüngeren Mitarbeiter der Institute in den Gebrauch und die Pflege der Geräte einzuweisen und für künftige Anschaffungen beratend zu wirken.

Während die zweite Gruppe noch mit der Transsibirischen Eisenbahn in 14 Tagen nach China gereist war und in vielen kleinen Etappen mit der kleinen IL 14-Propellermaschine zurückkehrte, konnten wir mit einem TU 104-Düsenflugzeug innerhalb von 24 Stunden mit mehreren Zwischenlandungen in Omsk, Swerdlowsk und Nowo-Sibirsk Peking erreichen. Dort wartete unser erstes Arbeitsziel auf uns, das Pekinger Zeiss-Planetarium.

Das Pekinger Planetarium konnte mit zu den schönsten und großzügigsten Anlagen seiner Art gerechnet werden, nach dem Stand der damaligen Zeit. Das Gebäude und die Projektionskuppel wurden in einer Gemeinschaftsarbeit mit dem Berliner Betrieb INEX-Industrieanlagenexport erbaut. Bei der Konzeption des Gebäudes wurde, so gut es ging, die unangenehme Wirkung der Staubstürme aus der Wüste Gobi berücksichtigt. Die Hauptfront liegt nach Westen, den Kuppelraum betritt man über ein Foyer und einen Wandelgang im Innern des Gebäudes. Rechts vom Foyer befindet sich eine Ausstellung von astronomischen Lehrmitteln, in der man mit Hilfe von sinnreichen und anschaulichen Modellen, Bildtafeln und graphischen Darstellungen eine Einführung in die Astronomie aller Zeiten erhält. Links vom Foyer befindet sich ein großer Kinosaal. Im Foyer beweist ein Foucault`sches Pendel die Erddrehung. Die Wände des Wandelganges sind mit Abbildungen versehen, wie man sich die Entwicklung der Raumfahrt der Zukunft vorstellt. Auf einer Empore findet man eine Ausstellung über die künstlichen Erdsatelliten, die sehr gut angelegt ist und durch z.T. selbstgebaute Modelle sehr instruktiv wirkt.

Der Kuppelraum hat einen Durchmesser von 23,5 Metern und besteht aus einer Außen- und Innenstahlnetzwerk-Kuppel. Die Projektionsfläche bestand zur Zeit unseres Besuches noch aus Leinwand, es war jedoch der Einbau einer perforierten Aluminiumfläche vorgesehen, wie sie im Jenaer Planetarium seit Anfang 1958 benutzt wurde und auch für die Planetarien in Kalkutta, Leningrad und Prag vorgesehen war. Eine Klimaanlage sorgt für Frischluft und für die Entfernung des Staubes, den die Besucher trotz vieler Vorkehrungen ohne ihren eigenen Willen mitbringen.

Das Vorführgerät wurde von Carl Zeiss Jena als drittes der Nachkriegs-Serie im Jahre 1955 geliefert. Die Aufgabe der Arbeitsgruppe bestand darin, die inzwischen erzielten Verbesserungen bei der Weiterentwicklung des Gerätes auch dem Pekinger Gerät zu Gute kommen zu lassen. So wurden z.B. die Fixsternprojektoren auf die neue, wesentlich natürlichere Helligkeitsskala umgestellt, die fortan ein Markenzeichen für die Jenaer Planetarien war.

Bei dieser Gelegenheit wurde natürlich auch der allgemeine Zustand des Gerätes gründlich überprüft, denn die klimatischen Bedingungen (sehr trockene Luft und hoher Gehalt an feinem Löß-Staub) und der ununterbrochene Einsatz des Gerätes seit der Eröffnung hatten irgendwelche Schwächen offenbart.

Das Planetarium wurde monatlich von über 90.000 Personen besucht; im März  1958 waren es schon über eine halbe Million Besucher. Das bedeutete, dass über tausend Vorführungen veranstaltet worden waren. Als wir unsere chinesischen Kunden fragten, ob es irgendwelche Probleme gegeben habe, erhielten wir - wie auch später bei ähnlichen Anlässen - die Auskunft, dass alles bestens wäre. Wir konnten es uns aber nicht vorstellen, dass es keine Störungen gegeben habe. Nach weiteren Fragen merkten wir, dass es die chinesische Höflichkeit verboten hatte, dieses Thema  am Anfang unserer Besprechungen zu erörtern. Das war eine der zahlreichen Lehren, die wir im Laufe unserer Reise annehmen sollten. Letztlich stellte sich aber heraus, dass es kaum Störungen gab, die dem Gerät zuzuschreiben waren. Allerdings musste die Verwendung einer stabilisierten Netzspannung empfohlen werden, da die Stromversorgung in dem stürmisch wachsenden Peking mit dem steigenden Bedarf nicht Schritt halten konnte.

Unser Geschäftspartner in China war die China National Machinery Import Corporation, die uns auch eine Dolmetscherin, Frau Li K`chieng, zur Betreuung und Hilfe bereitstellte. Sie begleitete uns stets und half uns bei unserem Bemühen, Land und Leute zu verstehen. Wenn man Bücher über China liest, erfährt man immer wieder, dass den Fremden auch nach langer Zeit im Lande vieles fremd bleibt. Seinerzeit, 1958, gab es wenige Möglichkeiten, sich auf einen längeren Aufenthalt in China vorzubereiten. Wir wurden an sich von der Zeiss-Vertretung innerhalb der Handelsvertretung der DDR in Peking betreut, aber einen Schnellkurs „China - alles was man wissen muss!" gab es nicht.

Unsere erste Erfahrung machten wir schon am Abend unserer Ankunft. Wir waren von den Vertretern der Importgesellschaft und der Akademie der Wissenschaften zu einem Abendessen eingeladen worden. Unsere größte Sorge war, ob wir schnell genug mit Stäbchen essen lernen würden. Wir waren etwa 12 Personen, unter ihnen auch Prof. Chang von der Nankinger Sternwarte sowie Herr Dipl.Ing. Reindl von der Zeiss-Vertretung in Peking.

Nachdem wir einander vorgestellt worden waren, nahmen wir an einem großen runden Tisch Platz und harrten der kulinarischen Genüsse unseres ersten chinesischen Diners. Das Essen begann mit verschiedenen kalten Platten mit exotisch anmutenden Variationen von Fleisch, Fisch und Gemüse. Es schmeckte uns sehr gut, und wir wurden aufgefordert, kräftig zuzulangen. Als die ersten Platten leer waren, kamen neue hinzu und wir ließen es uns wieder gut schmecken. In unserer Einfalt nahmen wir an, dass es eben - wie auch in Europa üblich - vielleicht ein „Kaltes Abendessen" sein würde. Umso erstaunter waren wir, als uns Herr Reindl aufmerksam machte, dass die kalten Platten nur der erste von insgesamt 10 Gängen wären. Wir erfuhren, dass der Gast in China immer etwas auf den Platten lässt, zum Zeichen, dass der nächste Gang serviert werden kann.

Wenn man dann von einem Essen mit 10 Gängen hört, glaubt man kaum, dass man sich „durcharbeiten" würde. Die Kunst der chinesischen Küche besteht darin, durch geschickte Variationen der Geschmacksnuancen den Appetit aufrecht zu erhalten. Im Menü fehlten auch die ominösen Chinesischen Eier nicht, sie machten uns aber keine Schwierigkeiten.

Ich hatte ohnehin meinen beiden Kollegen empfohlen, sobald wie möglich das chinesische Essen zu akzeptieren, denn in den kommenden Wochen würden wir kaum deutsche Hausmannskost finden. Neben dem Essen hatte das Trinken eine besondere Bedeutung, es diente als Anlass für zahlreiche Trinksprüche. Wir hatten die Wahl zwischen einem leichten rosé-artigen Rotwein und einem harten Getränk, Mao Dai, einem chinesischen Rachenputzer von meist 50% Alkoholgehalt.

Die größten Schwierigkeiten hatten wir mit den Ess-Stäbchen, wenn wir uns von den Platten und Schüsseln versorgten, die quasi im Zentrum des runden Tisches standen. Wir waren anfangs etwas schüchtern, aus Angst, auf die Tischdecke Flecken zu machen. Unsere chinesischen Freunde gingen das locker an und bald zogen sich Soßenspuren von den Platten zu den jeweiligen Gedecken, so dass die Tischdecke nach einiger Zeit wie ein Wagenrad mit Speichen aussah.

Zum Abschluss des Essen gab es - zu unserer Überraschung - eine wohlschmeckende Suppe wieder mit exotischen Ingredienzen, und dann war das Diner zu Ende, planmäßig nach zwei Stunden. Im Gegensatz zu westlichen Bräuchen blieb man nicht beisammen, um noch zu plaudern und etwas zu trinken.

Am nächsten Tag begann die Arbeit im Planetarium erst nachmittags, weil wir erst nach den Vorführungen bis in den Abend hinein tätig sein konnten. So fuhren wir in der kommenden Zeit erst gegen Mitternacht ins Hotel zurück, durch menschenleere Straßen ohne nennenswerten Verkehr mit mäßiger Geschwindigkeit. Unser Fahrer hatte noch eine seltsame Angewohnheit, offenbar in dem Glauben, dadurch Benzin zu sparen. Wenn er nach einer Kreuzung mit Ampel wieder Fahrt aufnehmen konnte, gab er nur kurze Zeit Gas und ließ dann den Wagen im Leerlauf ausrollen. Wir waren aber meistens müde und wurden so schon in den Schlaf geschaukelt. In der ersten Zeit hatten wir Probleme mit der Zeitanpassung und dem trockenen Klima, vor allem der feine Staub machte uns zu schaffen.

Das Planetarium hatte einen Stab von über 70 Mitarbeitern, und wir waren stets von lernwilligen aufmerksamen jungen Männern und Frauen umgeben. So konnten wir auch in der angegliederten Sternwarte, die mit einem 130-mm-Zeiss-Refraktor ausgerüstet war, das Personal im Gebrauch des Teleskops unterweisen. Jedes unserer Worte wurde nach der Übersetzung eifrig notiert und eben so eifrig wurden Fragen gestellt. Es war damals eine gängige Methode, gleichzeitig zahlreiche Mitarbeiter auszubilden, auch in der Industrie war dies üblich.

Vom Stab des Planetariums wird auch die Alte Sternwarte Pekings betreut, die ebenfalls von vielen Tausenden Wissbegierigen besucht wird. Auf der Stadtmauer sind Armillarsphären, Quadranten, Sonnenuhren und andere Beobachtungsgeräte aus dem 13. bis 18.Jahrhundert aufgestellt, die von dem hohen Stand der damaligen Instrumententechnik zeugen. In mehreren Ausstellungsräumen wird der Besucher u.a. mit den ältesten Dokumenten über astronomische Beobachtungen im alten China bekannt gemacht. Beide Institutionen werden von der Allchinesischen Gesellschaft für die Verbreitung naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse unterhalten.

Unser Leben spielte sich nicht nur auf der Arbeitsstätte ab. An den Wochenenden lernten wir auch Peking und Umgebung kennen. Anfangs war es noch ziemlich kalt, allmählich kam aber der Frühling ins Land. Leider konnten wir keinen Ausflug zur Chinesischen Mauer und zu den Kaisergräbern unternehmen, aber der Kaiserpalast gehörte ebenso zu unserem Besuchsprogramm wie der Sommerpalast der Kaiserin. Inzwischen sind diese Paläste durch Film und Fernsehen bekannt geworden, aber ein Besuch in der Menge zahlreicher Schaulustiger hat doch ein anderes Fluidum. Wir hatten uns inzwischen auch an die uniformiert gekleideten Menschen gewöhnt. Unter den Gegebenheiten der damaligen Zeit erschien uns dies eine vernünftige Lösung, alle Menschen gleich gut zu kleiden.

Wie wir aus Diskussionen mit unserer Dolmetscherin erfuhren, verdiente man relativ wenig, verglichen mit unserem Tagegeld, das dadurch eine hohe Kaufkraft hatte. Allerdings waren die Mieten extrem niedrig und auch die Lebensmittel waren billig.

Wir hatten uns inzwischen an die chinesische Küche gewöhnt und kamen dadurch bei der Auswahl der Speisen gut zurecht, weil unsere Dolmetscherin uns eine Speisekarte übersetzt hatte. Die chinesische Art, ein Menü zusammenzustellen, kam unserem Wunsch nach abwechslungsreichen Essen und unseren Finanzen entgegen. Wenn wir zu dritt zu Tisch waren, bestellten wir je eine Platte mit Fleisch, Fisch oder Schalentieren, Eier verschiedenster Zubereitung und Art. Das Gemüse war meist in den Hauptgerichten enthalten. Dazu aßen wir eine Schüssel Reis, trockener Reis in einer Art größeren Dessertschüssel. Die tägliche Mittags- und Abendmahlzeit kostete pro Teilnehmer höchstens 25 - 30 % unseres Tagegelds. Es bestand also kein Grund zu sparen.

In den Augen der Chinesen, so erfuhren wir nach einiger Zeit, waren wir nicht Gourmets, sondern Gourmands, Vielfresser. Die Chinesen aßen zwar ebensoviel Reis wie wir, aber nur wenige Zutaten wie Fleisch und Gemüse. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch eine lustige Episode anfügen, die mir Herr Blumentritt von der Montagezeit im Jahre 1956 berichtete. Mittagessen heißt auf Chinesisch „Reis essen". „Reis" ist „fan" und „essen" heißt „tsche", „tsche fan" also - „wir essen Reis". Im Betrieb ist es üblich, sich mit den Worten „Mahlzeit" zum Mittagessen zu verabschieden. Das taten auch unsere Monteure im Planetarium und ernteten stets fröhliche Stimmung. Ich bin mir nicht im Klaren, ob sie mit diesen Worten einen Witz provozierten. Wer weiß, wie „Mahlzeit" in chinesischen Ohren klang.

Nur mit dem Brot waren wir nicht zufrieden, bis wir Schwarzbrot aus einem russischen Restaurant beschaffen konnten. Das lag in der Nähe des Planetariums, und so gab es ab und zu eine Abwechslung mit russischer Küche.

Obwohl wir noch lange Zeit in China bleiben würden, machten wir gelegentlich einen Bummel durch die Einkaufsstraße von Peking, die Wan-Fu-Ching, wo uns am meisten die chinesischen Seidenstoffe, darunter wunderbare Brokate, gefielen, aber auch Souvenirs wie bemalte Rollen aus Bambusstroh. Es gab aber auch Schmuck und Goldringe zu sehr günstigen Preisen zu kaufen. Ein Ehering aus 585er Gold kostete 10 Yüan, das entsprach den Reisespesen für einen Tag. Es gab auch Jadeschmuck zu kaufen. Für meine Frau kaufte ich einen massiven Ring, der ihr sehr gefiel. Ich hätte sogar einen Brillanten erwerben können, für umgerechnet etwa 200 Mark. Ich war mir aber nicht sicher, ob er eine angemessene Qualität hatte. Auf dem Trödelmarkt konnte ich auch antiquarische Romane in englischer Sprache erwerben. Ebenso wie andere Gegenstände stammten sie wohl aus den Hinterlassenschaften der „Fremden", die das Land verlassen hatten.

Im Laufe der Zeit hatten wir, auch mit Hilfe unserer Dolmetscherin Frau Li, einige Wörter der chinesischen Sprache aufgegriffen und uns eingeprägt. Das war beim Einkaufen nützlich und amüsant zugleich. Ich selbst war vorbelastet, denn ich hatte während meines Studiums in Jena ein Semester Chinesisch bei dem bekannten Professor Westermann gehört. So wusste ich, dass - abgesehen von den Charakteren der Schrift - die chinesische Sprache verhältnismäßig einfach aufgebaut und daher von jedem Kind erlernbar war. Das erste waren die Zahlen bis 10: I, Pai, Ar..., Was kostet das? To sau dschien? Gut! Hao! Nicht gut! Po hao! Usw. Und solche Worte merkt man sich auch für lange Zeit.

Eine kleine Episode noch zum Sprachproblem: Wir verlebten den 1. Mai in Nanking und waren auch zur traditionellen Maikundgebung eingeladen mit dem Vorbeimarsch der Werktätigen. Für den Abend waren wir zu einem Freundschaftstreffen in einem Klub gebeten. Dort trafen sich verschiedene Ausländer wie wir, die dienstlich in Nanking oder der Nähe zu tun hatten. Darunter waren auch einige Russen, mit denen wir uns, so gut wir konnten, auf Russisch unterhielten. Ein DDR-Bürger, der zur Handelsvertretung gehörte, ging auf einmal auf einen Russen zu, den er offensichtlich kannte. Sie begrüßten sich lautstark, nicht auf Russisch, nicht auf Deutsch, sondern auf Chinesisch zu unserer Verblüffung.

Zu unserem Leidwesen klappte es mit der Postverbindung nach Hause nicht so gut. Laufzeiten von 10 bis 14 Tagen waren trotz Luftpost keine Seltenheit, so waren wir auch dienstlich auf uns gestellt, denn eine Antwort auf eine Frage nach vier Wochen war fast überflüssig. In ganz wichtigen Fällen konnte man mit einem Telex eine Nachricht übermitteln. Telefonieren war praktisch unmöglich.

Beim Frankieren der Briefe suchten wir uns Sondermarken aus, von denen es eine Vielzahl recht interessant gestalteter Marken gab. Das Porto wurde nach Gewicht berechnet, musste aber oft noch korrigiert werden. Die Briefmarken hatten nämlich keine Gummierung und je nach Dicke der Leimschicht nahm das Gewicht dann zu.

Unser nächstes Reiseziel war Nanking.

Inzwischen war Ostern gekommen, aber was sollten wir mit unseren Feiertagen in China anfangen? So fuhren wir eigentlich in unserer Freizeit in rund 26 Stunden im Schlafwagen nach Nanking, nahezu ohne Zwischenaufenthalt. Auf einer Station, so hatten uns die Pekinger Zeiss-Leute berichtet, gäbe es vorzüglich schmeckende, sehr billige Brathühner, was sich dann auch bestätigte. Das war unser Osterfestmahl.  

In Nanking war der Frühling schon weiter fortgeschritten, im Gegensatz zu Peking war das Klima feuchter und milder, was man auch daran merkte, dass es keine Heizungen in den Zimmern des Hotels gab. Aus diesen Gründen ist Nanking an sich für astronomische Beobachtungen nicht besonders gut geeignet. Es kann vermutet werden, dass bei der Errichtung der Sternwarte auf eine gewisse Repräsentation für die neue Hauptstadt des Landes Wert gelegt wurde. Diese feuchtwarme, nebelreiche Klima setzte besonders im Frühjahr und Sommer den Geräten heftig zu, wodurch die Korrosion und der Fungusbefall sehr begünstigt wurden.

Die Sternwarte selbst hat eine herrliche landschaftliche Lage. Man erreicht sie über eine serpentinenreiche Autostraße, die durch Akazienwälder führt, die damals gerade in Blüte standen. Vom Gipfel des Purpurberges ist der Blick über die Millionenstadt Nanking frei bis zum silbrigen Band des Jangtsekiang, der mit dem Horizont im Dunst verschwimmt. Der Unterschied zu dem staubreichen, grauen Peking war für uns sehr wohltuend.

Außer dem schon erwähnten 600-mm-Spiegelteleskop (Newton- und Cassegrainsystem) besaß die Sternwarte einen 200-mm-Zeiss-Refraktor, der mit einer Astrokamera und mit einem kleinen Schmidtspiegel chinesischer Herkunft ausgerüstet war. Weiterhin war ein Passagegerät 100/1000 von Zeiss in Betrieb, ein kleines transportables Askania-Gerät war gerade im Zeisswerk überholt worden. An Auswertegeräten besaß die Sternwarte einen Zeiss-Blinkkomparator (Vorkriegsmodell) und ein neues Koordinatenmessgerät von Zeiss. Ein Haffner-Irisblenden-Fotometer diente der Fotometrie von Sternaufnahmen.

Die Abteilung Sonnenphysik arbeitete mit einem älteren Horizontal-coelostaten englischer Herkunft und einem Gitterspektrographen. Der Sternwarte angegliedert war eine optische Werkstatt, die mit einer Schleif- und Poliermaschine für Optiken bis zu 600 mm Durchmesser ausgerüstet war. Der erwähnte Schmidtspiegel war dort von dem begabten jungen Physiker Yang Schi-dschi hergestellt worden, der uns auch während unseres Aufenthaltes hilfreich zur Seite stand.

Die aufgetretenen Klimaschäden ließen sich alle an Ort und Stelle beheben. Für die Zukunft wurde z.B. bei dem Koordinatenmessgerät vorgesorgt durch die Errichtung einer Messkabine, die leichter zu klimatisieren war, auch wurden entsprechende Ratschläge über die Pflege der Geräte gegeben. Ein kleiner Schaden am Mikrometer des Passagegerätes hielt uns etwas länger auf. Die Spinnfäden waren gerissen, und wir musten warten, bis aus Jena einige Kokons mit Spinnfäden per Brief ankamen. Mit örtlichen Spinnen konnten wir nichts anfangen, die Fäden waren viel zu dick.

Die Leitung der Sternwarte, die zur Academia Sinica gehört, lag in den Händen von Prof. Chang, der später mit dem Leiter der neuen Pekinger Sternwarte der Academia Sinica, Prof. Tcheng Mao Lin, das Werk von Carl Zeiss Jena besuchte. Tscheng Mao Lin war übrigens damals aus Frankreich zurückgekehrt, wo er längere Zeit gearbeitet hatte.

Die Ausbildung der Astronomiestudenten erfolgte in China vorläufig nur in Nanking in der Astronomischen Abteilung der Nanking Universität. Das neu erbaute Institutsgebäude hatte drei Sternwartenkuppeln, in denen sich ein 130-mm- und ein 150-mm-Refraktor, sowie ein Draper-Astrograph auf einer Säulenmontierung VII von Zeiss befanden. Das Institut besaß auch ein Zeiss-Koordinatenmessgerät und ein Zeiss-Zenitteleskop 135/1750. Das Zenitteleskop sollte ursprünglich im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957 eingesetzt werden. Es traten aber Schwierigkeiten bei der Auswahl des Standorts und der Errichtung des Beobachtungshauses auf, so dass unsere Absicht, das Gerät in Dienst zu stellen, nur zum Teil verwirklicht werden konnte. Wir stellten es provisorisch auf und verwendeten die meiste Zeit für die Unterweisung der künftigen Benutzer in dem Gebrauch des Gerätes, auch im Hinblick auf die endgültige Aufstellung.

Die Leitung der Astronomischen Abteilung hatte Prof. Chao, ein Schüler des bekannten englisches Astrophysikers Eddington. In den ersten Jahren der Volksrepublik betrug die Zahl der Astronomiestudenten über 100 pro Semester, von denen allerdings nur ein geringer Teil bei der Astronomie bleiben konnte. Inzwischen hatten sich die Verhältnisse normalisiert und es wurden etwa 15 bis 20 Astronomen pro Jahr ausgebildet. Erwähnt werden sollte noch, dass die Nankinger Astronomiestudenten eine Art Produktionsgenossenschaft für den Bau astronomischer Kleingeräte gebildet hatten. Während unserer Anwesenheit wurde das erste selbst gebaute 100-mm-Newton-Spiegelteleskop zu Ehren des 1. Mai der Sternwarte mit einem typisch chinesischen Aufgebot von Trommeln, Tschinellen, Transparenten und glückverheißenden Schriftzeichen übergeben. Wir besuchten darauf auch die Werkstatt, wo die Optik hergestellt wurde, und mussten den Unternehmungsgeist bewundern, mit dem dort, unter vorläufig noch primitiven Bedingungen, recht ordentliche Optik hergestellt wurde.

Während unserer Tätigkeit in Nanking konnten wir eine partielle Sonnenfinsternis am 19. April, allerdings bei leicht bedecktem Himmel, beobachten. Mit dem 200-mm-Zeiss-Refraktor hatten die Mitarbeiter der Sternwarte auf dem Purpurberg Reihenaufnahmen gemacht.

Wie schon erwähnt, war Nanking, die südliche Hauptstadt, im Gegensatz zu Peking, der nördlichen Hauptstadt, die neue Hauptstadt der Kuo Min Tang Regierung. Dort befindet sich auch das Mausoleum des Gründers des modernen Chinas, Sun Yatsen, dem wir einen Besuch abstatteten. Obwohl Mao Tse Tung im Jahre 1949 die Kuo Min Tang unter Tschiang Kei Tschek besiegt hatte, der sich auf Taiwan zurückzog, wurde das Mausoleum in Ehren gehalten. Besonders interessant war die Gelassenheit der Chinesen gegenüber den Symbolen der Kuo Min Tang, die das Mausoleum in Stein gehauen schmückten.

Wir unternahmen auch noch einen Ausflug in ein Gelände, wo während der Kuo-Min-Tang-Zeit zahllose Kommunisten gefangen gehalten und ermordet worden waren. Wir hatten uns vorgestellt, eine Anlage ähnlich wie Buchenwald vorzufinden. Es gab keine auf Dauer angelegten Denkmäler, lediglich einige mehr provisorische Abgrenzungen in dem mit Gras bewachsenen Hügelland. Offenbar befanden sich dort zahlreiche Massengräber, in denen Tausende ermordete „Staatsfeinde" verscharrt waren.  

Die anschließend besuchten Sternwarten in Shanghai gehören ebenfalls zur Academia Sinica und sind verwaltungsmäßig der Sternwarte auf dem Purpurberg zugeordnet. Die Zi-Ka-Wei-Sternwarte lag zur Zeit ihrer Gründung vier Meilen außerhalb Shanghais. Jetzt ist die 7-Millionen-Stadt soweit gewachsen, dass sich der Stadtrand weit jenseits der Sternwarte befindet.

Shanghai selbst liegt auf Schwemmland des Jangtsekiang. Der Name Shang Hai - oberes Meer - deutet schon an, dass vor nicht allzu langer Zeit sich dort noch Meer befand, wo schon damals mehr als 10.000 Menschen pro Quadratkilometer wohnten. Der Grundwasserspiegel liegt nur 20 - 30 cm unter der Erdoberfläche, und keinerlei Felsen oder gewachsener Boden geben die für die Aufstellung astronomischer Geräte gewünschte Stabilität.

Das war auch der Grund für die Errichtung der Zo-Se-Sternwarte etwa 40 km außerhalb Shanghais, wo ein etwa 100 m hoher Berg vulkanischen Ursprungs bessere Bedingungen für die Aufstellung des Doppelastrographen von 400 mm Öffnung und 7 m Brennweite gab, dessen Optik von den berühmten Brüdern Henry stammte. In Shanghai in der Zi-Ka-Wei-Sternwarte, die unter der Leitung von Prof. Wang stand, verblieb neben dem Meteorologischen nur der Zeitdienst, der mit einem französischen Passagegerät arbeitete. Im Rahmen des Neuaufbaus wurden Zeiss-Passagegeräte 100/1000 eingesetzt, von denen zwei in einem gemeinsamen Pavillon untergebracht waren. Eines davon war mit einer photoelektrischen Meßeinrichtung versehen, mit der der Meridiandurchgang der Sterne objektiv registriert werden konnte. Leider erwies sich beim Gebrauch der leistungsfähigeren Geräte, dass trotz sorgfältigster Vorkehrungen die Pfeiler der Geräte nicht ihre Lage mit der gewünschten Beständigkeit beibehielten.  

Bei der Prüfung der Ursachen stießen wir auf einen eigenartigen Effekt. Wenn der Beobachter von der Ostseite des Gerätes zur Westseite ging und umgekehrt, konnte man an der Horizontalachse mit der sehr empfindlichen Hängelibelle eine reproduzierbare Neigungsänderung von 0.5 Bogensekunden messen, obwohl der Fußboden sorgfältig von dem Pfeiler und seinem Fundament isoliert war. Wir hatten die Vermutung, dass über das Grundwasser hydraulische Kräfte wirken. Diese beobachtungstechnischen Nachteile wurden allerdings durch eine vorzüglich ausgestattete Uhrenanlage wettgemacht, die mit modernsten Quarzuhren von Rhode & Schwarz, mehreren Short-Pendeluhren und automatischen Zeitzeichen-Übertragungsmaschinen ausgerüstet waren. Die Zi-Ka-Wei-Sternwarte hatte nämlich  die Aufgabe, die genaue Zeit für China zu liefern.

Die Fahrt zu der Zo-Se-Sternwarte ging durch ein von vielen Kanälen durchzogenes Gemüse- und Reisland, das sehr an Holland erinnerte, begegnet man doch häufig Dschunken in geringem Abstand von der Straße, die sich entweder mit Windkraft oder von ihren Bewohnern gezogen vorwärts bewegen. Schon von weitem sieht man die Zo-Se-Kathedrale und unmittelbar neben ihr die Sternwartenkuppel, die den Doppelastrographen birgt.

Der Aufstieg auf den Berg machte uns zu schaffen, denn wir waren solche „Anstrengungen" nicht mehr gewohnt, da wir meist mit dem Auto größere Strecken zurückgelegt hatten. Der Weg zur Sternwarte führte durch einen Bambuswald und wir konnten feststellen, dass das feuchte Klima eine üppige Vegetation gedeihen lässt, was aber für die Beobachtungsbedingungen nicht ideal ist und die Arbeit der Astronomen beeinträchtigt.

Der Doppelastrograph war vorbildlich gepflegt und gut erhalten. Die Aufnahmen wurden astrometrisch mit einem Zeiss-Koordinatenmessgerät ausgewertet, für das nach unseren Anweisungen eine gleiche Messkabine wie in Nanking in einem nach Norden gelegenen Raum errichtet wurde, so dass die Genauigkeit der Messungen nicht durch allzu große Temperaturvariationen vermindert wird.

In Shanghai hatten wir auch Gelegenheit, mit den örtlichen Vertretern der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse zusammenzutreffen, denen wir den Film über das Zeiss-Planetarium vorführen, der mit großem Interesse und Beifall aufgenommen wurde. Wir hatten die Erwartung, dass nach dem großen Erfolg des Pekinger Planetariums bald auch in den anderen großen Städten Chinas, wie Shanghai, Canton oder Wuhan, Zeiss-Planetarien entstehen würden.

Als wir in Shanghai spazieren gingen, trafen wir in der Nanking Road, der Hauptgeschäftsstraße, zufällig eine Gruppe von Seeleuten aus der DDR, darunter den Schiffsarzt des Frachters „Frieden". Im Laufe des Gesprächs erfuhren wir, dass er sich für das chinesische Gesundheitswesen interessierte, und wir konnten für ihn den Besuch eines großen Krankenhauses arrangieren.

Als Dank für unsere geringen Bemühungen wurden wir an Bord des Schiffes eingeladen, wo wir auch mit dem Kapitän Bekanntschaft machten. Er erzählte uns, dass er bereits vor dem ersten Weltkrieg als Schiffsjunge nach China gefahren war und ganz besonders von den erheblichen Veränderungen der Lebensverhältnisse beeindruckt sei. Auch der Schiffsarzt war des Lobes voll. Er konnte in dem Krankenhaus mehrere Operationen beobachten, darunter recht komplizierte, wie sie auch in Europa selten vorgenommen wurden.

Unser nächstes Ziel war Tsingtau, vor dem ersten Weltkrieg ein deutscher Marinestützpunkt. Die Stadt interessierte mich auch, weil ich als Student mit dem Professor für Pathologie in Jena, Dr. Fischer, bekannt geworden war, der in der damaligen Zeit als Marinearzt in Tsingtau gedient hatte.

Die Fahrt auf einem kleinen Passagierschiff war ein wenig dramatisch. Beim Auslaufen aus dem Hafen von Shanghai hatten wir am Abend zunächst das Panorama der Geschäftshäuser als Abschiedsbild aufgenommen. Im Speisesaal wurden die Nachrichten und der Wetterbericht übertragen, der eine stürmische Überfahrt ankündigte, was wir auch bald merkten, als wir auf offene See kamen. Es wehte ein starker Nordsturm, der die Wellenberge auftürmte. Das Schiff ging in eine Art Berg-und-Tal-Fahrt über, bei der sich Vorder- oder Achterschiff jeweils wie ein Fahrstuhl auf und ab bewegten. Der Speisesaal war im Achterschiff, und es war nicht appetitanregend, unter solchen Bedingungen zu speisen, abgesehen von den Problemen der „Lagerung" des Tischgeschirrs. Wir verzichteten auf Speis' und Trank und verzogen uns in unsere Kabinen, die erfreulicherweise mittschiffs, im Angelpunkt der Bewegung, also relativ ruhig lagen.

Zuvor hatten wir noch einen herrlichen Sternhimmel bewundert. Wegen der geringeren Polhöhe waren uns südlichere Gebiete der Milchstraße, vor allem der gesamte Skorpion, zugänglich, wie wir Mitteleuropäer ihn eigentlich sonst nur im Zeiss-Planetarium sehen können.

Als wir uns Tsingtau näherten, hatte der Sturm abgeflaut. Wir waren am Morgen auf das Oberdeck gestiegen, um eine bessere Sicht zu haben. Plötzlich stoppte das Schiff auf der Reede vor der Hafeneinfahrt. Wir wussten zunächst nicht, weshalb, als zufällig unser Blick auf die Signalflaggen fiel. Man hatte eine gelbe Flagge aufgezogen, die Quarantäne-Flagge. Wir dachten sofort an den Matrosen-Shanty „Wir lagen vor Madagaskar" und warem neugierig, was nun passieren würde. Wir erfuhren, dass ein chinesisches Kind gestorben war und dass die Flagge eigentlich signalisiert, dass der Hafenarzt an Bord kommen soll. Nach einer Weile durften wir dann in den Hafen einlaufen, vorbei an dem westdeutschen Frachter „Breitenfels", der dort vor Anker lag.

Beim Annähern an die Stadt muss man vorgelagerte Inseln und Halbinseln umfahren, die in der damaligen Zeit den Schutz des Hafens als Marinestützpunkt ausmachten. Das Panorama der Stadt war stark durch deutsche Architektur geprägt. Vor allem die weithin sichtbare Kirche im Stil des Quedlinburger Doms und ganze Stadtviertel erinnerten, auch durch zwar verblasste deutsche Inschriften, an die damalige Zeit. Eine „Großtat" unserer Vorväter war die Gründung einer deutschen Brauerei, die noch immer nach Originalrezept das berühmte Tsingtauer Bier braut. Allerdings war die Stadt seit 1949 um etwa 40% gewachsen, was man an zahlreichen neu errichteten Wohnvierteln und Industrieanlagen deutlich sehen konnte.

Die Tsingtauer Sternwarte wurde um die Jahrhundertwende gemeinsam mit einer meteorologischen Station als Marineobservatorium gegründet. Kurz vor unserem Besuch wurde eine Trennung mit der meteorologischen Station vorgenommen und die Sternwarte gehörte danach auch zur Academia Sinica. Vorläufig wurden mit einem 200-mm-Refraktor chinesischer Herkunft auf einer Heyde-Montierung Sonnenbeobachtungen durchgeführt. Ein Doppelastrograph von 340 mm Öffnung auf einer Englischen Montierung sollte demnächst von Zeiss-Spezialisten wieder in den Dienst gestellt werden.

Leider konnten wir in Tsingtau nicht lange bleiben, obwohl gerade die schönste Jahreszeit begonnen hatte. Vor unserer Abreise besuchten wir noch das Aquarium, wo wir u.a. eine chinesische Delikatesse, die sogenannten Seegurken, als lebende Objekte betrachten konnten. Es schüttelte uns etwas, als wir sahen, welch seltsame Wesen wir uns auf der Zunge hatten zergehen lassen.

Unser nächstes Ziel war die auf dem Weg nach Peking liegende Großstadt Tientsin. In der neugegründeten Breitenstation trafen wir die bekannteste Astronomin Chinas, Frau Prof. Tso, die früher in Nanking auf dem Purpurberg u.a. auch mit dem Zeiss-Passagegerät gearbeitet hatte. Sie war gerade von einem längeren Aufenthalt in der Sowjetunion zurückgekehrt und mit dem Aufbau eines 180-mm-Zenitteleskops aus Leningrad beschäftigt, das im Rahmen eines Abkommens zwischen der UdSSR und der VR China bereitgestellt worden war.

Die nächste Station war wieder Peking, wo wir den Mitarbeitern der Pädagogischen Hochschule beim Aufbau eines 130-mm-Zeiss-Refraktors helfen wollten. Die Sternwarte gehörte zum Physikalischen Institut der Hochschule und besaß auch mehrere z.T. selbstgebaute Schulfernrohre. Der Refraktor war schon fast fertig aufgestellt in einer 4-m-Kuppel, die von ortsansässigen Handwerkern gebaut worden war. Die letzten Installationen waren schnell erledigt, und wieder konnte ein neues Astrogerät von Zeiss übergeben werden.

In diesem Bericht an letzter, aber in nicht allzu ferner Zukunft an erster Stelle soll die neue Pekinger Sternwarte der Academia Sinica unter ihrem Direktor Prof. Tcheng Mao-Lin in China stehen. Gegenwärtig werden sorgfältige Standortuntersuchungen in den Westbergen in der Nähe Pekings durchgeführt, wo dann die neue Sternwarte errichtet werden sollte. Ihre ersten Ausrüstungen würden von Carl Zeiss Jena geliefert werden, und zwar ein Doppelastrograph von 400 mm Öffnung und 2000 mm Brennweite auf einer Englischen Montierung und ein Schmidt-Spiegel von 600 mm Korrektionsplatten- und 900 mm Hauptspiegeldurchmesser, F/3, mit einem 5,3 Grad - Objektivprisma.

Der Schmidt-Spiegel ist eines von vier nahezu gleichen Teleskopen, die bei Carl Zeiss Jena gegenwärtig für die Sternwarten Jena, Torun (Polen) und Budapest (Ungarn) gebaut werden. Nach dem Vorbild des großen Hamburger Schmidt-Spiegelteleskops, dessen Rohrmontierung von Zeiss geliefert wurde, sind die Teleskope mit einer Gabelmontierung ausgerüstet. Eine Besonderheit der Geräte besteht darin, dass sie durch Entfernen der Korrektionsplatte und Einfügen eines extrem asphärischen Gegenspiegels zu Cassegrainteleskopen umgerüstet werden können, analog zu der Quasi-Cassegrain-Variante des damals noch im Bau befindliche 2-m-Universal-Spiegelteleskops für die Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Diese Variante hatte den Vorteil, dass das Teleskop bei 900 mm Öffnung für photoelektrische und spektrographische Arbeiten eingesetzt werden kann, wenn es wegen seiner hohen Lichtstärke bei Mondschein nicht zu gebrauchen wäre.

Mit der Fertigstellung des neuen Pekinger Observatoriums würde dann die Astronomie in China einen raschen Fortschritt erleben, wie alle anderen Institutionen dieses zielstrebigen Landes, die gegenwärtig eine sprunghafte Vorwärtsentwicklung durchmachen.

Außer den besuchten Sternwarten existiert noch eine kleinere Station in Kun-Ming im Süden des Landes, die ebenfalls mit einem Zeiss-Refraktor und einem Coelostaten für Sonnenbeobachtungen ausgerüstet war. Aus Zeitmangel konnten wir die Sternwarte nicht besuchen, benötigt man doch selbst mit dem Flugzeug mehr als eine Woche für Hin- und Rückreise mit angemessenen Aufenthalt.

Nur wenigen wird die Sternwarte bekannt sein, die wir anschließend an unser China-Programm besuchten. Seit Ende 1957 bestand in Phoengjang (Nord-Korea) eine vorläufig noch kleine Sternwarte, deren Geräte von der DDR im Rahmen der Korea-Hilfe den Koreanischen Freunden übergeben worden waren. Es handelte sich um ein 100-mm-Zeiss-Passagegerät einschließlich Beobachtungshütte und um einen 130-mm-Zeiss-Refraktor mit einer 5-m-Zeiss-Kuppel. Die Beobachtungshütte war in Jena konstruiert und gebaut worden. Sie wurde ebenso wie alle anderen Ausrüstungen mit ausführlichen Montagerichtlinien zum Versand gebracht. Wir waren daher neugierig, in welchem Zustand wir die Sternwarte vorfinden würden.

Nach einem herzlichen Empfang durch die Mitarbeiter der Sternwarte konnten wir feststellen, dass die Montage der gesamten Lieferung gut funktioniert hatte. Es waren nur Kleinigkeiten, wo wir noch Hinweise für die Benutzung und den Ausbau der Sternwartenausrüstung geben mussten. Die Sternwarte sollte in der Zukunft noch erweitert werden, vor allem, wenn die zur Ausbildung im Ausland weilenden Wissenschaftler wieder nach Korea zurückgekehrt sein würden.

Erschütternd war die Bahnfahrt von der Chinesisch-Koreanischen Grenze nach Phoengjang, wo sich rechts und links der Bahnstrecke ein Bombentrichter an den anderen reihte, und viele Brücken noch zerstört waren. In Phoengjang sah man nur noch selten die Wunden des Kriegs, es herrschte eine rege Bautätigkeit, wobei man auch die Plattenbautechnik anwandte.

Wir waren auch zu einem Bankett eingeladen. Auf unseren Wunsch, vielleicht etwas leichtsinnig, servierte man koreanische Speisen! Das erste Problem war das Sitzen im Schneidersitz am Boden, Japan lässt grüßen! Dann waren die Ess-Sitten von den chinesischen völlig verschieden. Es wurde nicht ein Gang nach dem anderen serviert, sondern das gesamte Menü auf einem Tisch präsentiert, das dann allmählich kalt wurde. Charakteristisch war, dass die ziemlich fettreichen Speisen sehr scharf gewürzt waren, zu sehr für europäische Gaumen. Es fehlte auch der neutralisierende Reis, nach dem wir unhöflicherweise fragten. Zur Belohnung wurde eine wieder sehr fettreiche Nudelsuppe serviert, um den Hunger der „Fremden" zu stillen. Für die Nudelsuppe brauchte man eine spezielle Technik, nämlich ohne abzusetzen die Nudeln zu verspeisen, was uns aber nicht gelang. Das größte Problem brachte der Ginseng-Schnaps, den man sicher gebraucht hätte, um das Fett zu verdauen. Er war wasserhell, roch nach Äther und schmeckte, wie man sich denkt, dass Petroleum schmecken würde. Mit einigen Tricks gelang es uns, mehr davon zu verschütten als zu trinken.

Aus Nordkorea zurückgekehrt, verbrachten wir noch einige Zeit, bis wir eine Buchung für die Reise nach Ulan Bator in die Mongolei erhielten. Unseren Aufenthalt in China schlossen wir feuchtfröhlich mit einem Abendessen auf Einladung der Admiralität. Das hatte folgende Bewandtnis: Die DDR-Volksarmee hatte der chinesischen Volksarmee ein Zeiss-Kleinplanetarium geschenkt. Das sollte im Stützpunkt der Marine, der unter dem Namen Port Arthur bekannt war, aufgestellt werden. Unser Kollege Blumentritt hatte das während unseres Koreaaufenthaltes offenbar zur Zufriedenheit erledigt, und so wurden wir zu einem Bankett geladen, das in einer Runde mehrerer Marineoffiziere stattfand.

Wir hatten im Verlaufe der Reise schon eine gewisse Erfahrung mit solchen Einladungen gemacht. Der Umgang mit den Ess-Stäbchen war uns vertraut und die verschiedenen, von der  lokalen Küche geprägten Menüs hatten immer wieder angenehme, weil schmackhafte Überraschungen gebracht. Selbstverständlich gehörte die berühmte Pekingente dazu, aber auch die geschmorte Nankingente war nicht schlechter. In Tsingtau wurden uns leckere Fischgerichte serviert, und so hatten wir etwa 50 bis 60 verschiedene Gerichte gekostet.

Problematisch war es mit dem Trinken. Abgesehen von Bier gab es drei Getränke quasi als Standard: Reiswein, einen leichten Rotwein und Mao Dei, einen kräftigen Rachenputzer von über 50 % Alkoholgehalt. Das Problem bestand darin, dass während des Essens in unermüdlicher Folge Toasts ausgebracht wurden, bei denen die Parole „Gambai!" ausgegeben wurde. Das heißt „Austrinken!".

Nun  hatten wir es mit einer ziemlich gefährlichen Taktik der Gastgeber zu tun. Es kam nämlich so, dass wir, die Angesprochenen, unsere Gläser austrinken sollten. Der Höflichkeit halber tat es auch der, der den Toast ausgebracht hatte. Aber die anderen Vertreter des Gastgebers drückten sich, was sie auch ungestört tun konnten, weil sie momentan außerhalb der Aufmerksamkeit waren. So wechselte der „Toaster", der jeweils nur ein Glas leerte, während wir jedesmal Bescheid geben mussten. Es war eine große Anstrengung, dieses Gelage mit trinkfreudigen Marineleuten halbwegs mit Anstand zu überstehen. Das erfreuliche an solch Banketts war, dass sie sich nicht endlos ausdehnten, sondern exakt nach zwei Stunden vorüber waren.

In Peking wohnten wir in den letzten Tagen in dem sogenannten Freundschafts-Hotel, das neben einem Hauptgebäude mehrere Pavillons im chinesischen Stil hatte, in dem wir uns auf die Heimreise vorbereiteten. Der Zeiss-Mitarbeiter in der Handelsvertretung der DDR, Kollege Burger, war vor kurzem aus der DDR zurückgekommen und teilte uns die neuesten Nachrichten aus Jena mit. Wir erstatteten Bericht und er war zufrieden, wie wir relativ selbständig gearbeitet hatten.

Einen kleinen Spaß erlebten wir im Restaurant des Hotels. Kollegen der Handelsvertretung, die ebenfalls im Hotel wohnten, hatten uns empfohlen, die Bratkartoffeln dort zu probieren. Wir taten dies und stellten fest, dass diese genau dem entsprachen, was sich ein Deutscher unter Bratkartoffeln vorstellt, aus gekochten Kartoffeln, mit Speck und Zwiebeln. Offenbar hatte ein von chinesischen Essen genervter Germane dem Koch eine Demonstration dieser lukullischen Speise gegeben.

Mit dem Termin der Abreise gab es einige Probleme. Prinzipiell konnte man nach dem offiziellen Flugplan einen Termin wählen, es war aber unsicher, ob überhaupt geflogen wurde und ob dann auch noch Plätze frei wären. Zunächst mussten wir unsere ziemlich umfangreichen Mitbringsel in den Koffern verstauen. Sehr verlockend waren die chinesischen Ledermäntel, die allerdings nicht die geeignetste Sommerbekleidung waren. Ich hatte darauf verzichtet, mir einen zu kaufen, weil es ohnehin keine für mich passenden Größen gab. Dafür hatte ich mehrere Brokatstoffe für meine Frau gekauft, die wirklich sehr billig waren. Zudem hatten wir auch noch zahlreiche Geschenke erhalten, auch in Korea. Für Raucher war verlockend, Zigaretten in größerer Menge zu kaufen, was Kollege Blumentritt auch tat.

Eine Problematik gab es noch mit unserer Reiseabrechnung. Wir hatten einen Kreditbrief, von dem wir jeweils soviel abhoben, wie uns an Tagegeld und Übernachtungsspesen zustanden. Zurückzahlen konnten wir jedoch nichts. Ob man abfliegen konnte, erfuhr man auch erst auf dem Flugplatz. So behielt ich stets eine Reserve, um wieder in die Stadt fahren zu können, die dem letzten Tagegeld für den nächsten Tag entsprach. Als es dann schließlich soweit war, mussten wir auf dem Flughafen das letzte Geld verjubeln, bevor wir das Flugzeug bestiegen. Bei mir waren es einige chinatypische Souvenirs und je eine Flasche chinesischer Kognak, Mao Dai und Rum, der aus US-Armeebeständen stammte.

Auf der Rückreise wollten wir in der VR Mongolei Station machen, wo in der Nähe von Ulan Bator ein Observatorium errichtet werden sollte. Der Flug mit einer mongolischen IL 14-Propellermaschine führte über die Große Mauer in den Westbergen und die Wüste Gobi in relativ niedriger Höhe. In Ulan Bator landeten wir auf einer Graspiste und wurden dort von Frau Professor Ninschbadgar empfangen, begleitet von einem Mitarbeiter, der als Dolmetscher fungierte. Beide kannte ich schon von einem Besuch in Jena, bei dem die Ausrüstung des Observatortiums vereinbart worden war. Der Mitarbeiter erinnerte sich gern an seine Schulzeit in Deutschland vor dem zweiten Weltkrieg, die er mit mehreren mongolischen Schülern in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (bei Saalfeld) verbrachte hatte.

In einer großen russische „Staatskarosse" fuhren wir über Berg und Tal, mehr auf Pisten als auf Straßen in die Hauptstadt. Im einzigen Hotel im Zentrum waren wir untergebracht, gegenüber dem Regierungsgebäude und der Oper. Wir wurden auf das freundlichste aufgenommen und bewirtet, nicht nur von unseren eigentlichen Gastgebern, die uns auch „herumreichten".

Das Observatorium sollte in der Nähe von Ulan Bator in etwa 2000 m Höhe errichtet werden. Hauptgeräte sollten ein 200-mm-Coudé-Refraktor und ein 200-mm-Koronograph, sowie ein 135-mm-Zenitteleskop und ein Passagegerät 100/1000 sein. Da Ulan Bator selbst auf etwa 1500 m Seehöhe liegt, war der Anstieg während der Fahrt mit dem Jeep nicht merklich, aber es war eine Fahrt „über Land", ohne Straßen und Brücken.

Das Klima in der Mongolei bringt eine hohe Zahl von klaren Tagen und Nächten mit sich, im Sommer brennt die Sonne vom Himmel, im Winter herrscht sibirische Kälte. Demzufolge sind nur die Nordseiten der Berge bewachsen, die Südseite hat höchstens Steppencharakter oder entspricht gar einer Wüste. Wir kamen an Jurten vorbei, die den Hirten im Sommer und Winter Unterkunft bieten. In einer Jurte wurden wir mit Kumys, der vergorenen Stutenmilch bewirtet, und von den Hirten auf flinken Pferden begleitet. Wir kamen uns wie im Wild-West-Film vor. Bald waren wir am vorgesehenen Standort des Observatoriums, das auf der Nordseite einer flachen Bergkuppe errichtete werden sollte. Von einem kleinen Wäldchen geschützt, fanden wir eine grüne Wiese vor, auf der zu unserer Überraschung zahllose Edelweiße blühten, wie bei uns die Gänseblümchen. Überhaupt entsprach die Vegetation der in den Alpen in gleicher Höhe, allerdings ohne die schroffen Bergformen.

Für uns war ein kleines Kulturprogramm geplant. Als erstes besuchten wir die Oper, wo gerade eine mongolische Oper aus der Geschichte des Landes dargeboten wurde. Es war mehr eine Pflichtübung, denn wir verstanden nichts von der Handlung und konnten auch die Sänger nicht würdigen. Aber eine andere Attraktion erregte unser Aufsehen: mit uns besuchte der ehemalige Außenminister der UdSSR, Molotow, der jetzt Botschafter der UdSSR in Ulan Bator war, die Aufführung.

Dann besuchten wir ein Kloster, in dem uns buddhistische Mönche empfingen. Das Kloster war keine Touristenattraktion, denn so viele Touristen gab es da noch nicht. Als Geschenk erhielten wir eine kleine Buddha-Figur und einen typischen Seidenschal.

Selbstverständlich waren wir auch zum Essen eingeladen und machten neue Erfahrungen. Wie zu erwarten war, spielte Hammelfleisch und zwar ziemlich fettes Hammelfleisch eine große Rolle. Nun wussten wir das schon vorher, und ich esse an sich auch gern Hammelfleisch. Aber es gab ziemliche Mengen von hochprozentigen Spirituosen als Verdauungshilfe, und das muss man geübt haben.

Das Angebot an Souvenirs war nicht sehr groß, lediglich ein Paar Sommerstiefel konnte ich für unseren dreijährigen Sohn erwerben, die allerdings nicht wasserfest waren, weil man in der Mongolei im Sommer nur trockenen Boden hat. Schließlich konnten wir im Diplomatenladen einiges aus dem DDR-Angebot kaufen.

Die Heimreise sollte ab Nowo-Sibirsk mit der Aeroflot erfolgen. Als Zubringer diente wieder eine mongolische IL-14. Alles schien gut zu gehen. Klare Sicht, gutes Wetter, planmäßiger Abflug. Aber etwa auf halber Strecke bog die Maschine vom Kurs ab, und man erklärte uns, dass wir wegen schlechten Wetters in Nowo-Sibirsk auf dem Flugplatz Ulan-Ude zwischenlanden würden.

Nach einiger Zeit landeten wir wieder auf einer grünen Wiese und blieben auch dort etwa eine Stunde stehen. Bei der Landung in Nowo-Sibirsk merkten wir nichts von schlechtem Wetter, es war nur schlechte Sicht wegen niedriger Wolken gewesen, die sich aber inzwischen verzogen hatten.

Wir hatten keinen langen Aufenthalt und flogen gegen Mittag ab. Anfangs war das Wetter noch zufriedenstellend. Die Zwischenlandungen in Swerdlowsk und Omsk verliefen normal. Allerdings merkten wir nach dem Start in Omsk, dass wir in ein Schlechtwettergebiet hineinflogen. Die Wolken türmten sich bis in unsere Flughöhe von etwa 11.000 Metern. Der Flug war etwas unruhig, und wir näherten uns Moskau ohne Bodensicht. Dann gab es, etwa 45 Minuten vor der geplanten Landezeit, den Übergang in den Sinkflug. Die Antriebe wurden hörbar gedrosselt, und wir konnten den Abstieg an einem Höhenmesser verfolgen, der deutlich sichtbar über der Tür zur Pilotenkanzel angebracht war. Der Höhenmesser hatte zwei Zeiger, wie eine normale analoge Uhr. Eine Umdrehung des großen Zeigers entsprach, wenn ich mich richtig erinnere, einer Höhendifferenz von 500 Metern. Die Tausender waren ähnlich wie bei einer normalen Uhr verteilt. Dann kam die Aufforderung zum Anschnallen, und wir waren inzwischen auf 5000 Meter Höhe, keine Bodensicht. Wir waren aber auch noch etwa 20 Minuten von Landezeitpunkt entfernt. Die Zeiger bewegten sich weiter: 4500, 4000, ..., 2500, 2000, 1500, 1000, 500 Meter. Dann wurde es allmählich spannend, denn die Fahrwerke waren inzwischen ausgefahren. 400, 300, 200, 100, ... keine Bodensicht! 50, 0, -50, -100 Meter, dann endlich Bodensicht auf ein verregnetes Gelände, und kurz darauf waren wir glatt gelandet! Wir waren von dem Höhenmesser genarrt worden, der nicht auf den Luftdruck am Landeort eingestellt worden war.

In Moskau übernachteten wir und reisten am nächsten Tag mit Interflug zurück nach Berlin, nach mehr als drei Monaten Abwesenheit.

Die Schlussepisode war die Zollkontrolle. Aus unseren Dokumenten war zu ersehen, dass wir längere Zeit im Ausland waren. Aus der UdSSR brachte man Kaffee und Tee mit, aus China konnte man aber doch für DDR-Verhältnisse einige Kostbarkeiten mitbringen. Mein Kontrolleur war eifrig, aber nicht gierig, verzollbare Artikel aufzuspüren. Ich gab ihm freimütig an, dass ich Kaffee und Tee hatte. Dann hatte ich noch die Spirituosen und schließlich einige Seidenstoffe, deren Gegenwert ich nicht kannte, aber auf etwa 100 Mark schätzte. Schließlich musste ich 27 Mark Zoll bezahlen!

Ich war wieder zu Hause!

USA und wieder Planetarien

Ich schreibe diese Zeilen im Juni 1998, in dem Monat, in dem ich in Saalfeld vor 50 Jahren meine Abiturprüfung ablegte. Es war eine ungewisse Zeit damals. In jenen Tagen begann mit der Währungsreform zunächst in den drei Westzonen und dann auch in der Ostzone die separate Entwicklung der beiden Teile Deutschlands.

Die erste Chance, neues Geld zu verdienen, nutzte ich als Hilfsangestellter bei der Saalfelder Stadtsparkasse, um bei der Umstellung der Konten zu helfen. Ich war froh, dass ich nicht meinen Eltern auf der Tasche lag, und hatte bis Oktober 1948 Lohn und Brot. Wie es dann weiter gehen würde, wussten die wenigsten von uns.

Ein Studienplatz war an politische Bedingungen gebunden, eine proletarische Herkunft sehr entscheidend für den Beginn einer akademischen Laufbahn. Ich hatte nicht das Glück, sofort einen Studienplatz zu bekommen, und machte einen Umweg über die Sternwarte Sonneberg, wo ich meine Astronomenkarriere als Hilfsrechner bei Professor Cuno Hoffmeister begann. Nach vier Jahren Studium und einem Praktikum in der Astroabteilung von Zeiss beschäftigte ich mich in meiner Diplomarbeit mit der astronomischen Geräteentwicklung.

Im Januar 1954 nahm ich meine Tätigkeit bei Carl Zeiss Jena auf. Als Industrie-Astronom war meine Aufgabe, als Mittler zwischen den Kunden und der Astro-Abteilung tätig zu sein. Anfang 1959 war ich inzwischen Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Astro-Abteilung und hatte bereits einige Dienstreisen ins Ausland absolviert. Von meinem Vorgänger, Dr. Georg Hartwig, wusste ich aus den übernommenen Akten, dass er ebenso wie andere Zeiss-Wissenschaftler internationale Tagungen besuchen wollte, um dort mit früheren Kunden oder Interessenten neue Geschäfte anzubahnen. Die Geschäftspolitik der von Dr. Hugo Schrade und Geheimrat Harting geförderten Astro-Abteilung zielte darauf hin, durch Wartung oder Modernisierung der vor dem Krieg gelieferten Teleskope und Planetarien weitere Aufträge vorzubereiten. Ein Beispiel dafür war das 600 mm-Spiegelteleskop der Sternwarte Nanking, Anfang der dreißiger Jahre geliefert und im Krieg mit den Japanern unbrauchbar geworden.

Eine Arbeitsgruppe löste die schwierige Aufgabe der Rekonstruktion unter lokalen Bedingungen, mehr oder weniger auf sich gestellt. Die Leitung dieser Gruppe wurde Willy Gerlach übertragen, einem Laboringenieur, der ursprünglich beim Aufbau der Zeiss´schen Gitterteilmaschine mitgewirkt hatte. Die Folge waren Lieferungen von Geräten für die Koordinatenmessung und Orts- und Zeitbestimmung nach Nanking, Schanghai, Tientsin und ein Großplanetarium nach Peking.

Im Frühjahr 1958 war ich mit zwei erfahrenen Monteuren, Max Kuppel und Herbert Blumentritt, zu einer Service-Reise nach China gereist und hatte dort meine Auslandserfahrungen gefestigt. Vieles musste ich auf eigene Verantwortung entscheiden, da die Kommunikation mit dem Zeisswerk selbst bei Verwendung von Luftpost stark behindert und verzögert war.

Im November 1958 unternahm ich eine Reise nach Italien, der Schweiz und Österreich, wo ich u.a. die Planetarien in Mailand und Rom, die Sternwarten in Mailand, Bologna, Rom, Neapel und die Sonnenobservatorien auf Capri besuchte.

Wenn ich mich recht erinnere, erhielt das Jenaer Planetarium Anfang des Jahres 1959 vom New Yorker Planetarium eine Einladung zu der Anfang Mai 1959 geplanten ersten internationalen Konferenz der Planetariumsdirektoren.

Das Jenaer Planetarium war keine eigenständige Institution, es wurde von der Carl-Zeiss-Stiftung unterhalten und von der Astroabteilung betreut, wie es auch schon vor dem Krieg der Fall war.

Dr. Walter Villiger und Dr. Helmut Werner hatten die wissenschaftliche Leitung und hielten auch Vorträge, unterstützt von einer Reihe von Monteuren der Astroabteilung, die sowohl im Werk als auch bei den Kunden die Planetariumsmontage durchführten.

Zu ihnen gehörte Walter Gebauer, der schon von Anfang an bei der Planetariumsfertigung dabei war. Vor allem als Sternenstecher hatte er sich und später sein Sohn Lothar auf diese diffizile Arbeit spezialisiert. Einen Direktor gab es nicht, die Vorträge wurden von einem ehemaligen Lehrer, Dr. Fritz Heiland, gehalten, der gemeinsam mit einem Vorführer aus den Reihen der schon erwähnten Monteure einen mitunter anstrengenden Dienst auch an den Wochenenden hatte. Dr. Heiland war aber nicht in der Planetariums-Entwicklung tätig und verfügte auch nicht über englische Sprachkenntnisse.

Es wurde entschieden, dass ich als stellvertretender Direktor in New York auftreten sollte. Meine Kenntnisse über das Planetarium hatte ich in Vorbereitung und bei der Durchführung eines längeren Auslandsaufenthaltes in Indien erworben und vertieft. Von September 1955 bis Januar 1956 weilte ich in Indien, um dort den Aufbau und den Betrieb eines Kleinplanetariums auf der Indian Industries Fair in Neu Delhi zu übernehmen. Während dieser Zeit führte ich mit dem Birla Trust Verhandlungen über die Lieferung eines Großplanetariums nach Kalkutta, die ich mit Erfolg abschließen konnte.

In Indien und später in China hatte ich meine englischen „Sprech"kenntnisse verbessern können, nachdem ich mich mit dem Wortschatz dank intensiver Lektüre von Romanen, Zeitschriften und Zeitungen vertraut gemacht hatte. Diese Basiskenntnisse der englischen Sprache hatten auch meine Auswahl für die Reise nach Indien begünstigt.

Nun sollte ich allein nach den USA reisen! Die erste Hürde war das Visum mit der Erlaubnis, den Boden der USA zu betreten. Die Sache hatte nicht nur einen Haken: Die DDR war von den USA und anderen westlichen Staaten nicht anerkannt, und als Pass fungierte ein Reisedokument des Alliierten Travel Board in Berlin, dem letzten Überbleibsel der Alliierten Kommandantur. Einen solchen Pass hatte ich auch für die Reise nach Italien benötigt, für die Schweiz, Österreich und Indien hatte der DDR-Pass genügt. Die Verlängerung war eine Formsache, wenn man eine Einladung vorweisen konnte. Die Einladung des Planetariums New York hätte nicht gereicht, um das USA-Visum zu erlangen. Wie wir, die aus Jena, Moskau und Kattowitz angereisten Vertreter der „Ost"-Planetarien später erfuhren, hatte das State Department of Foreign Affairs eine Sondergenehmigung für uns erteilt. Es gab sogar eine Grußadresse des US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower an die Konferenz.

Mein Visum sollte mir im Generalkonsulat in Berlin-Dahlem erteilt werden. Zuvor musste ich entsprechende Unterlagen in der Reisestelle des Außenhandelsministeriums in Berlin abholen. Dort war man erstaunt, dass Zeiss einen jungen Mann von knapp 29 Jahren mit der Teilnahme an dieser Konferenz betraut hatte. Man hatte einen würdigen älteren Herrn erwartet, insbesondere da bisher nur wenige DDR-Bürger in die USA gereist waren.

Vor dem Mauerbau 1961 war es kein Problem, nach Dahlem zu kommen, ich fuhr mit der S-Bahn. Im Konsulat musste ich einen Fragebogen ausfüllen, und es wurden mir, wie einem gestellten Verbrecher, die Fingerabdrücke abgenommen, mit denen ich nun im State Department verewigt bin.

Der Fragebogen war ein Spiegelbild der amerikanischen Geschichte und des kalten Krieges. Mir wurden, wie jedem Antragsteller, am Anfang drei Fragen gestellt:

Ob ich

- geisteskrank oder

- Mitglied einer kommunistischen Organisation sei oder

- die Absicht habe, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden.

Frage 1 und 3 konnte ich verneinen, bei Frage 2 wurde über die Antwort Mitglied des FDGB hinweggesehen, eventuell wegen der Sondergenehmigung. Später habe ich erfahren, dass einem bekannten französischen Astronomen ein längerer Aufenthalt in den USA verwehrt worden war, weil er Mitglied der Gesellschaft für Französisch-Sowjetische Freundschaft war. Ich erhielt schließlich ein Visum, mit dem ich innerhalb von 14 Tagen in die USA einreisen durfte. So dachte ich auch, doch davon später...

Für die Reise war festgelegt, dass ich von Amsterdam aus mit der KLM direkt nach New York fliegen sollte. Wie ich nach Amsterdam kommen würde, war mir freigestellt. Ich fuhr mit der Bahn am Tag zuvor, besuchte eine Bekannte in der Nähe von Bad Hersfeld und übernachtete in Köln im Hotel „Drei Könige". Die BRD-Grenzkontrolle war noch ziemlich harmlos damals, es gab offenbar keine Überwachung, Besuche aus der DDR waren willkommen.

Meine Reise durch Westdeutschland hatte einen bestimmten Zweck. Mit meiner Mutter hatte ich das Thema der Anzugsordnung während der Konferenz diskutiert: Ich war nicht gut ausgerüstet, weil ich keine gängige Konfektionsgröße hatte, ein guter Anzug vom Schneider ziemlich teuer war und es lange Wartezeiten gab. Meine Mutter meinte, ich müsste unbedingt einen dunklen Anzug haben, den mir dann auch der Schneidermeister Truppel in Saalfeld in der Brudergasse machte.

Mir fehlten aber ein Paar dunkle Schuhe, die ich nicht in Jena auftreiben konnte. Nun dachte ich, im schlimmsten Fall kaufe ich sie in Amerika. Aber einem amerikanischen Herrenmagazin „Esquire" zufolge, das ich irgendwie zu lesen bekam, kosteten entsprechende Schuhe zwischen 15 und 20 Dollar. Das entsprach bei dem damaligen Dollarkurs etwa 60 bis 80 D-Mark. Viel zu viel auch in Anbetracht meiner Tagesspesen von 11 US-Dollar.

So benutzte ich einen kurzen Aufenthalt in Bad Hersfeld, fand in der Nähe des Bahnhofs ein Schuhgeschäft und erstand ein Paar schwarze Salamander-Schuhe für 29 DM, die so gut waren, dass ich sie mindestens 20 Jahre als sogenannte gute Schuhe bei besonderen Gelegenheiten trug.

Der Flug begann an einem Freitagabend in einer viermotorigen Superconstellation, die ich schon vom Flug nach Indien kannte. Der Flug sollte zwölf Stunden dauern, dabei sechs Stunden Zeitdifferenz, so dass die Ankunft für Samstag am Morgen geplant war. Viel schlafen konnte ich nicht, denn der Motorenlärm war sehr störend. Man nannte die Superconstellation den schnellsten fliegenden Traktor!

In New York angekommen, hatte ich die Einwanderungskontrolle zu passieren, was von jeher kritisch war. Viele Einwanderer mit einem gültigen Visum mussten auf Ellis Island warten, bis durch Bürgen geklärt war, dass sie ihren Unterhalt finden würden. Ein USA-Visum berechtigt nämlich nur, bei der Einwanderungsbehörde um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bitten. Es steht dem Beamten frei, diese Genehmigung zu erteilen und auch die Länge des Aufenthalts festzulegen. Ich wurde gefragt, wie lange ich bleiben wollte. Dazu gab ich eine unbestimmte Antwort: „so etwa zwei bis drei Wochen" und erhielt die Genehmigung für einen Aufenthalt von drei Wochen. Die Konferenz sollte eine Woche dauern und am folgenden Montag beginnen, dann wollte ich noch nach Chicago, Flint / Michigan und Pittsburgh reisen. Im Rahmen der Tagung waren Ausflüge nach Philadelphia und Boston geplant.

In der Ankunftshalle wurde ich von einem Mitarbeiter der Jenaer Zeiss-Vertretung, der Firma Ercona, Henry Berman, empfangen. Die Firma Ercona hatte das während des Krieges als Feindeigentum beschlagnahmte Zeiss-Warenzeichen, die Zeiss-Linse, erworben und die Vertretung für Carl Zeiss Jena übernommen. Bei dem Warenzeichenstreit in den USA ging es um die Frage, wer zuerst in den USA das Warenzeichen benutzt hat, aber das ist eine andere Geschichte...

Henry Berman kannte mich aus Korrespondenzen und war sehr freundlich und zuvorkommend. Ich merkte bald, dass diese Art grundsätzlich in Amerika vorherrschte, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass es keinen sprachlich merkbaren Unterschied zwischen der formellen und der freundschaftlichen Anrede gibt. Es dauert meist nicht lange, bis man angeboten bekommt, sein Gegenüber mit dem Vornamen anzureden, was ich dann auch auf der Konferenz merkte.

Der New Yorker Flughafen Idlewild, jetzt Kennedy Airport, liegt auf der Insel New Jersey, reichlich eine Stunde Autofahrt von Manhattan, dem Zentrum New Yorks entfernt. Ich war froh, gelandet zu sein und andererseits zugleich müde und aufgeregt.

Damals gab es in der DDR keine Reiseführer, Filme oder Videos, aus denen zu ersehen war, was einen in einer Großstadt wie New York erwarten würde. Natürlich wusste ich etwas aus der Geschichte der Stadt, die als Neu-Amsterdam gegründet worden war. Der Broadway, der quer zu den rastermäßig angeordneten Straßen verlief, stammte aus dieser Zeit. Dann gab es noch die Freiheitsstatue auf einer kleinen Insel im New Yorker Hafen und die schon erwähnte Einwandererstation Ellis Island, für Millionen von Einwanderern das Tor zur Freiheit.

Henry Berman fuhr mich mit einem Auto kreuz und quer zu einer Sightseeing-Tour durch New York und ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Es war alles viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte, und doch kam ich mir fast wie in einem Film mit häufigem Szenenwechsel vor.

Schließlich war es gegen Mittag, und wir gingen in eine Gaststätte, „Brass Rail" genannt. Mir wurde eine Speisekarte vorgelegt, wie ich sie bisher nicht kannte. Es gab keine Tageskarte, sondern eine gut gestaltete gedruckte Übersicht über Suppen, Vorspeisen, Hauptgerichten und Beilagen, aus denen man seine Speisenfolge und -zusammensetzung wählen konnte. Der Preis richtete sich nach dem Hauptgericht und war entsprechend hoch, jedenfalls in den Augen eines mit knappen Spesen ausgestatteten DDR-Dienstreisenden. Es gab, so weit ich mich erinnern kann, eine Spanne zwischen 5 und 10 Dollar. Aber ich war ja eingeladen!

Nach dem Mittagessen, so etwa gegen 14 Uhr, wollte Henry Berman die Tour durch die Stadt fortsetzen. Ich war aber inzwischen rechtschaffen müde, denn ich hatte mit der Zeitumstellung zu tun, zu Hause war es jetzt 20 Uhr. So bat ich ihn, mich in meinem Hotel abzusetzen.

Zuvor gab es noch ein Problem zu lösen. Ich benötigte für meinen Philips-Elektrorasierer einen Zwischenstecker, weil das europäische System nicht in die amerikanischen Steckdosen passte. Obwohl selbst am Samstagnachmittag viele Geschäfte offen hatten, brauchten wir einige Zeit, bis wir in einem Second-Hand-Shop das ersehnte Utensil erstehen konnten.

Die auswärtigen Teilnehmer der Konferenz waren alle in der Nähe des American Museum - Hayden Planetarium im Hotel Alden in der 82. Straße Central Park West untergebracht, was ich bis dahin nicht wusste. Außerdem begann die Konferenz erst am Montag, so dass ich glaubte, ein ruhiges Wochenende vor mir zu haben.

Müde, fast übermüdet, legte ich mich ins Bett und hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich erst am Sonntagmorgen aufgewacht wäre. Aber schon gegen 19 Uhr wachte ich auf und überlegte, was ich tun sollte. Hunger hatte ich keinen, im Hotel kannte ich auch niemand. So erkundigte ich mich bei der Rezeption, wie ich zum Times Square kommen würde, wo das Leben Downtown pulsierte. Ich kannte diese Gegend aus Filmen, dort waren die Theater am Broadway, die 5th Avenue. Ich erfuhr, dass es ganz einfach wäre, vor dem Hotel war eine Linienbushaltestelle und in kurzer Zeit würde ich am Ziel meiner Wünsche sein.

Ich überlegte mir, dass ich möglicherweise zum ersten und zum letzten Male an einem Wochenende in New York sein würde und dass es dumm wäre, diese Gelegenheit zu verschlafen. Also machte ich mich auf den Weg!

Es dauerte nicht lange, da kam ein Bus, und ich merkte, dass man vorn beim Fahrer einsteigen musste. Das hatte man mir auch im Hotel gesagt, wo ich nach Busfahrscheinen gefragt hatte. Es gäbe keine Schaffner, der Fahrer würde kassieren. Es gab überhaupt keine Fahrscheine, ich musste meinen Obolus, ich glaube sogar nur 5 Cents, in einen Behälter werfen, wo das Geldstück zunächst vom Fahrer inspiziert und dann mittels Hebel in eine Sammelkasse befördert wurde.

Am Times Square stieg ich aus und war durch das bunte Treiben fasziniert. Phantastische Leuchtreklamen wechselten in allen möglichen Farben und warben für Zigaretten, alkoholische Getränke, Fotoartikel, Fluggesellschaften usw. Bei einer Zigarettenreklame wurde in regelmäßigen Abständen ein Rauchring ausgestoßen! Vieles war mir neu und ungewohnt, so dass ich erst einmal die Gegend erforschte.

Es ist ja bekannt, dass in New Yorks Zentrum, abgesehen von dem Broadway, die Straßen relativ einfach benannt sind: in Nord-Süd-Richtung verlaufen die Avenues, von der Eastside her gezählt, die bekanntesten die 5th Avenue und die Park Avenue. Quer dazu verlaufen die numerierten Straßen, vom eigentlichen Manhattan anfangend bis über die 200ste Straße. Der Times Square liegt etwa in der Mitte der Insel an der 45sten Straße, wo die Broadway Theater aufgereiht sind. In der 42sten Straße lagen damals die Wiederaufführungskinos ebenso eines neben dem anderen. Sie boten ein kontinuierliches Programm vom Vormittag bis in den frühen Morgen. Die Filme liefen in New York bereits zum zweiten Mal, in Europa waren sie aber erst vor Kurzem gelaufen. Ein sogenanntes „Double Feature"-Programm bot jeweils zwei Filme für 90 Cents. Man konnte zu jeder Zeit hinein- und herausgehen. Es war ein billiger Spaß verglichen mit einem Erstaufführungskino, in dem der billigste Platz 2 Dollar kostete.

In einem der Erstaufführungskinos am Times Square lief gerade mit großem Erfolg „The Guns of Navarrone" mit Anthony Quinn in einer der Hauptrollen. Die 2 Dollar waren mir zu teuer, so dass ich mir den Film im Sommer 1960 in Bombay ansah, aber das ist auch eine andere Geschichte...

Da ich ein großer Kinofan war, wanderte ich von einem Kino zum anderen bis weit nach Mitternacht, ein meinen Erfahrungen und meinem Geldbeutel angepasstes Vergnügen. Diesem Vergnügen hatte ich auch während meines langen Aufenthalts in Indien im Jahre 1955 gefrönt. Die in der Originalsprache laufenden amerikanischen und englischen Filme waren damals zugleich ein Übungsfeld zur Verbesserung meiner Sprachkenntnisse.

Ich durchquerte auch die Nebenstraßen um den Times Square, erinnere mich an eine amerikanische Versteigerung und ein Selbstbedienungsrestaurant, bei dem hinter einer Glasklappe die Speisen waren, die man gegen Münzeinwurf erlangen konnte. Viel zu kompliziert für mich!

Ich hatte inzwischen Hunger bekommen und sah, dass an Imbissständen merkwürdiger warmer Kuchen verkauft wurde. Auf großen Blechen war eine Komposition von Tomatenmark, Wurst und geschmolzener Käse auf dem Teig angeordnet, und das ganze roch eigentlich gut. Aber ich folgte dem Sprichwort „Was der Bauer nicht kennt", nämlich was eine Pizza ist, und begnügte mich mit warmen Würstchen „Hot Dog". Als Getränk genoss ich einen Luxus, frisch gepressten Orangensaft, der Becher zu 10 Cent!

Dann wollte ich noch eine Sonntagszeitung kaufen, zum einen, um mir die Zeit am Sonntag zu vertreiben, zum anderen, weil in Genf gerade eine internationale Konferenz über Deutschland abgehalten wurde und ich wissen wollte, was es von dort Neues gab. Fernsehen gab es damals noch nicht im Hotel, selbst Radio war eine Seltenheit, worauf ich später noch zurückkommen werde.

Henry Berman hatte mir gesagt, die New York Times wäre die seriöseste Zeitung, und so wollte ich mir eine kaufen. Ich fand keinen Zeitungskiosk, nur auf dem Bürgersteig waren Zeitungen aufgestapelt. Der Zeitungsverkäufer, meist ein Jugendlicher, saß neben dem Stapel, und es gab noch einen Geldteller.

Etwas unsicher beobachtete ich die Szene: Es kam jemand, warf eine Münze auf den Teller, nahm sich ein dickes Zeitungspaket und entfernte sich wieder. Nach einer Weile stellte ich fest, dass die Münze ein 50-Cent-Stück war. Wieso aber der Zeitungsstapel? Waren es mehrere Zeitungen? Ich traute mich nicht zu fragen, nahm aber dann ein 50-Cent-Stück und erwarb die etwa 2.5 kg schwere Sonntagsausgabe der New York Times! Im Hotel merkte ich dann am Sonntag, dass die Hälfte der gedruckten Information Werbung war. Außerdem gab es verschiedene Teile, die in der Familie verteilt werden konnten, insgesamt Lesestoff für eine ganze Woche!

Inzwischen hatte ich mir Gedanken gemacht, wie ich wieder in mein Hotel kommen würde. Busse fuhren nicht mehr, aber die U-Bahn hielt in der Nähe des Hotels. Das war mir aber zu unsicher, weil ich mich in dem U-Bahnsystem nicht auskannte. Wie schon erwähnt, musste man nur zählen können und gut zu Fuß sein, um von der 42sten bis zur 81sten Straße zu gelangen. Die sogenannten Blocks haben eine Standardlänge, so dass man abschätzen konnte, wie weit es war.

Ich brauchte mehr als eine Stunde und erreichte das Hotel gegen 3 Uhr morgens, ohne dass ich irgendwann das Gefühl einer Unsicherheit gehabt hätte. Ich vermied es allerdings, den Central Park zu durchqueren.

Eigentlich glaubte ich nun, einen ausgiebigen Schlaf genießen zu können, etwa bis 10 Uhr, dann Frühstück und ausgedehnte Zeitungslektüre. Da klingelte das Telefon gegen 8.30 Uhr, und es meldete sich ein Vertreter der Gastgeber. Er begrüßte mich und fragte, ob ich mit den bereits schon angereisten anderen Gästen frühstücken wollte. Ich bat um etwas Zeit für meine Morgentoilette und fand mich um 9 Uhr in der Hotelhalle ein. Wir stellten uns gegenseitig vor, aus dem „Osten" waren der Direktor des Kattowitzer Planetariums Professor Josef Salabun und der Direktor des Moskauer Planetariums Dr. V. V. Bazykin angereist. Wir kannten uns bereits und freuten uns auf das gemeinsame Abenteuer. Als Vertreter der westdeutschen Planetarien waren Professor Auer von München und Professor Meyer von Hamburg gekommen, als Vertreter von Prof. Bauersfeld fungierte Dr. Gerhard Schwesinger.

Von den Zeiss-Planetarien in den westlichen Ländern kam Dr. Henry C. King von Planetarium London. Das Gerät war von Oberkochen 1958 geliefert worden und wurde von dem Unternehmen betrieben, dem auch das Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud gehört.

Wir frühstückten nicht im Hotelrestaurant, sondern in einem kleinen Imbisslokal in der Nähe. Diese Coffee-Shops bieten für wenig Geld ein komplettes amerikanisches Frühstück: Ein Glas frischen Orangen- oder Grapefruitsaft oder eine halbe Grapefruit, Eier mit Schinken oder Speck oder Würstchen, gebutterter Toast, Marmelade oder Konfitüre, Kaffee oder Tee für etwa 1,20 Dollar. Im Hotel hätte es, allerdings in der vornehmen Umgebung im Speisesaal, das Doppelte gekostet.

Die amerikanischen Gastgeber waren leger gekleidet, hatten einen „Bindfaden" anstelle einer Krawatte, während ich glaubte, mit Schlips und Kragen erscheinen zu müssen.

Wir fanden schnell Kontakt und wurden mit dem Arrangement bekannt gemacht: Die amerikanische Seite übernahm die Hotel- und Verpflegungskosten für die auswärtigen Gäste während der Tagung, so dass ich der Sorge enthoben war, wie ich mit meinen Reisespesen auskommen würde.

Die Tagung begann inoffiziell am Montag, dem 11. Mai 1959, um 17.30 Uhr im Konferenzraum des Planetariums als Kennenlern-Treffen.

Aus den USA waren die Planetarien von Chicago (Adler Planetarium), Pittsburgh (Buhl Planetarium), Boston (Charles Hayden Planetarium), Philadelphia (Fels Planetarium), Los Angeles (Griffith Planetarium), Chapel Hill / North Carolina (Morehead Planetarium), Flint / Michigan (Longway Planetarium), San Francisco (Morrison Planetarium), Washington (National Planetarium) und Colorado Springs / Colorado (US Air Force Academy Planetarium) mit insgesamt 20 Direktoren und leitenden Mitarbeitern vertreten.

Neben den schon genannten Planetarien Hamburg, München, Kattowitz und Moskau waren noch die Planetarien in Rom, Sao Paulo und den Haag vertreten. Wenn ich mir das Gruppenfoto anschaue, dann kommt es mir so vor, als ob ich der jüngste der „Direktoren" war.

Es gab übrigens keine Probleme im gegenseitigen Kontakt. Die Gemeinsamkeiten der Arbeit in den Planetarien überwogen, und es bestand auch die Absicht, die Zusammenarbeit in der Zukunft fortzusetzen. Ich wurde als Vertreter des Zeisswerkes anerkannt, aus dem die meisten der Planetarien in den USA hervorgegangen waren. Dr. Schwesinger wiederum, als Vertreter von Prof. Bauersfeld, versuchte nicht, einen Alleinvertretungsanspruch seitens Oberkochen zu konstruieren. Er war mir gegenüber höflich und schenkte mir ein signiertes Exemplar des Buches von Dr. Helmut Werner „Vom Ararat-Globus zum Zeiss-Planetarium".

Auch die amerikanische Konkurrenz in der Person von Dr. Armand Spitz machte keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: Dr. Spitz bot mir bei der ersten Gelegenheit an, ihn mit dem Vornamen anzusprechen.

Problemlos war auch der Umgang mit den Kollegen vom Planetarium der US-Luftwaffe in Colorado Springs / Colorado.

Das offizielle Programm begann am Dienstag, den 12. Mai um 10 Uhr mit einer Besichtigung des Planetariums und seiner Einrichtungen.

Das New Yorker Planetarium wurde im Jahre 1935 als viertes Großplanetarium in den USA eröffnet, nach Chicago (1930), Philadelphia (1933) und Los Angeles (1935), gefolgt von Pittsburgh (1939). Alle Planetarien entstanden auf der Basis von Stiftungen und wurden nach ihren Stiftern benannt. Chicago - Adler, Philadelphia - Fels, Los Angeles - Griffith, New York - Hayden und Pittsburgh - Buhl. An der Konferenz nahmen als Ehrengäste Robert S. Adler vom Planetarium Chicago und John M. Morehead vom Planetarium Chapel Hill teil.

Ein schon erwähntes Grußtelegramm vom Präsidenten der USA würdigte die Konferenz: „Ich freue mich, die Teilnehmer des ersten internationalen Treffens der Planetariumsleiter begrüßen zu können.

Die Unterstützung durch private Gönner ist ein wichtiges Element für das Wachstum vieler unserer besten wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Ein gutes Beispiel findet sich in den Planetarien unseres Landes, die von großzügigen Wohltätern gestiftet wurden.

Ich freue mich, ihnen meinen Dank zum Ausdruck bringen zu können und hoffe, dass das Studium der Astronomie in unserem Land weiter gefördert wird.

                Dwight D. Eisenhower"

Am Nachmittag gab es unter Leitung von Thomas D. Nicholson (New York) eine Diskussion über den „Planetariumsvortrag".

Das war an sich ein unerschöpfliches Thema, denn im Laufe der 35-jährigen Geschichte der Zeiss-Planetarien hatte es unterschiedliche Erfahrungen gegeben. Der ersten Begeisterung über das Wunder aus Jena mit dem künstlichen Himmel auf Erden war ein bemerkenswerter kommerzieller Erfolg für Zeiss gefolgt. In der Erwartung einer weltweiten Verbreitung war eine Serie von 25 Geräten aufgelegt worden, die bis Kriegsbeginn eine weltweite Verbreitung gefunden hatten. Zahlreiche Großstädte in Deutschland erhielten Planetarien, obwohl die wirtschaftliche Situation in den zwanziger Jahren nicht sehr günstig war. Interessant ist, dass zu den „frühen" Planetarien das Moskauer Planetarium zählt (1929), noch bevor das erste Zeiss-Planetarium in den USA in Chicago (1930) eröffnet wurde.

Es gab aber keine „Planetariums-Schulen", in denen man methodische und didaktische Kenntnisse erwerben konnte. In vielen Fällen übernahmen Lehrer die Vortragstätigkeit, und nicht immer wurde das Planetarium und seine Möglichkeiten zur Unterstützung der Vorträge genutzt. Zu gleicher Zeit gab es Planetarien, die sich um Besucher bemühen mussten, und andere, die einen ständigen regen Zuspruch hatten. Das Berliner Planetarium am Zoo wurde beispielsweise als Kino genutzt, und nur während der Pause wurde das Planetariumsprogramm geboten. Das Moskauer Planetarium war ein Publikumsmagnet und hatte durch zahlreiche Zusatzeffekte mittels selbst gebauter Projektoren großen Erfolg bei Jung und Alt.

Ich konnte feststellen, dass die amerikanischen Planetarien auf ähnliche Weise ihre Attraktivität aufrechterhielten, und sich vor allem eine Tendenz zu einer Planetariums-„Show" entwickelte. Es wurde auch nicht versucht, in jeden Vortrag eine Unmenge von Fakten und Zahlen hineinzupacken, die dann doch nur am Ohr des Zuschauers vorüber rauschte. Man muss bedenken, dass ja das Planetarium in erster Linie für interessierte und nicht für astronomisch vorgebildete Besucher gedacht ist. Auch das Niveau des Vortrags war nicht unbedingt ein Maß für den Erfolg.

Ich hatte in dieser Zeit ein Erlebnis, das dieses Thema beleuchtet: Eines Tages musste ich in der Nähe des Jenaer Planetariums etwas erledigen. Auf dem Rückweg in mein Büro beschloss ich, mir eine gerade laufende Vorführung anzuschauen. Unbemerkt von dem Vortragenden Dr. Heiland gelangte ich durch die Lichtschleuse in den Kuppelraum. Das Thema des Programms war „Unser Sonnensystem", ein allgemeinbildender Vortrag für ein Publikum, das meist in Reisegruppen zum ersten Mal in ein Großplanetarium kam. Während ich so dem Vortrag lauschte, dachte ich darüber nach, wie doch recht einfach und leichtverständlich Dr. Heiland vortrug. Ungesehen verließ ich wieder das Planetarium.

Die Mitarbeiter des Astrovertriebs, neben deren Büroräumen auch mein Büro war, gingen gewöhnlich gemeinsam in den Zeiss-Speisesaal. An langen Tischen konnte eine größere Runde Platz nehmen, und es war auch üblich, allgemein interessierende Neuigkeiten auszutauschen.

Dr. Heiland, der zu unserer Tischrunde gehörte, erzählte, dass in der Vorführung, die ich besucht hatte, auch eine deutsch-amerikanische Familie war, die anschließend an den Vortrag berichteten, dass sie auch in New York das dortige Planetarium besucht hätten. Sie waren von der Vorführung im Jenaer Planetarium sehr angetan und lobten das hohe Niveau des Vortrags. Da verriet ich mein Geheimnis des ungesehenen Besuchs. Der Vergleich mit New York erntete ein allgemeines Schmunzeln.

Die Vorführungen waren alle Live-Vorführungen, entweder von einem Vortragenden mit Unterstützung des Vorführers, des Gerätebedieners, dargeboten, mitunter aber auch von dem Vorführer allein. Bei der großen Beliebtheit des Jenaer Planetariums kam es, dass in den Sommermonaten fünf bis sechs Vorführungen zum selben Thema folgten und die Vorträge quasi automatisch gehalten wurden. Diese Strapazen sollten später durch Tonbandvorträge gemildert werden, aber das war schon ein Thema der nächsten Konferenz...

Am nächsten Tag folgte am Morgen eine Diskussion über den Betrieb von Planetarien vom Geschäftlichen her. Unter Leitung von C. V. Starret vom Buhl Planetarium in Pittsburgh wurden solche Themen diskutiert wie: Vortragsplanung und Besucherzahlen, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, Kartenverkauf und Besucherbetreuung sowie Veröffentlichungen.

Es wurde deutlich, dass wegen der großen Konkurrenz durch andere Museen und Vergnügungsparks große Anstrengungen in den Planetarien der USA unternommen werden, um die erforderlichen Besucherzahlen und damit möglichen Einnahmen zu sichern. Begünstigt wird die Position der Planetarien durch die beginnende Ära der Weltraumtechnik, die besonders in Moskau zu Besucherströmen führte. Die Verwendung der Planetarien als Navigations-Trainingszentren für die Luftfahrt zeigte auch die Teilnahme von Vertretern der US-Luftwaffe.

Am Nachmittag des 13. Mai gab es eine Diskussion unter der Leitung von Dr. Henry C. King, London, zu den Themen: Das Planetariums-Vorführgerät, neue oder gebrauchte Geräte, Kurse und Vorträge und andere Dienste für die Öffentlichkeit, Grundlagen- und angewandte Forschung, Ausstellungen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Monopolstellung des Zeiss-Planetariums aus Jena hatte sich in der Nachkriegszeit zunächst in eine Dipolstellung „Jena und Oberkochen" verwandelt. Während in Jena mit dem Gerät für Stalingrad/Wolgograd das erste neue Großplanetarium um 1950 gebaut worden war, hatte Oberkochen vorerst keine neue Fertigung. Das Interesse für Großplanetarien aus der westlichen Welt wurde von den gemeinsamen ost-westlichen Zeiss-Vertretungen nach Oberkochen gemeldet. Dort waren Prof. Bauersfeld und Dr. Helmut Werner tätig, und es waren auch einige Weiterentwicklungen geplant. So wurde 1953 auf der Bremer Tagung der Astronomischen Gesellschaft von Dr. Werner eine Einrichtung zur Darstellung der Fixstern-Eigenbewegungen von etwa 20 hellen Sternen mittels Sonderprojektoren vorgestellt. Die ersten Nachkriegslieferungen von Oberkochen waren das ehemalige Hannoveraner Gerät nach Sao Paulo und das ehemalige Hamburger Gerät nach Johannesburg. Bei diesem Gerät machte Hamburg ein Tauschgeschäft, denn es wurde dringend ein neues Gerät benötigt. Das aufgearbeitete Hamburger Gerät kam nach Johannesburg und Hamburg erhielt dafür ein neues Gerät. Letztlich wurde das Planetarium in Johannesburg erst 1960 in Betrieb genommen. Das Planetarium Chapel Hill war ursprünglich in Stockholm/Göteborg und kam als Geschenk des amerikanischen Botschafters in Schweden, J. M. Morehead, in die USA.

Inzwischen waren in Jena neue Planetarien mit einer verbesserten Steueranlage für Peking, Kattowitz, Kalkutta und Prag gefertigt worden. An dieser Weiterentwicklung war maßgeblich der Ingenieur Fritz Pfau beteiligt, ein Mann der ersten Stunde ebenso wie Walter Gebauer, die schon bei der Entwicklung und dem Bau des ersten Zeiss-Planetarium in Jena tätig waren.

Während des Krieges hatte ein amerikanischer Erfinder, Dr. Armand Spitz, ein einfaches Stellarium entwickelt und in kleinen Serien gebaut. Ausgehend von einem Vielflächner, wie bei der Aufteilung der Sternfelder im Zeiss-Planetarium, hatte Spitz, ähnlich wie bei einem beleuchteten Globus, einen Fixstern-Projektor mit Lochprojektion verwendet. Der relativ einfache Aufbau hielt die Kosten niedrig, so dass viele Schulen in Ermangelung eines Besseren, einen solchen Spitz-Projektor Modell A benutzten. Spitz hatte inzwischen einen großen Projektor entwickelt, das Modell B, von dem sich eines bei der Air Force Academy in Colorado Springs und das andere in Flint/Michigan befand. Ich werde später noch auf dieses Planetarium zurückkommen.

Zwei Großplanetarien entstanden in Boston und San Francisco sozusagen im Eigenbau. Auf das von den Gebrüdern Korkosz gebaute Gerät in Boston werde ich bei dem Bericht über den Besuch in Boston eingehen. Das Gerät in San Francisco konnte ich erst im August 1961 besichtigen. Der Leiter des dortigen Planetariums, Charles Hagar, nahm an der New Yorker Tagung teil. Er hatte sich als Autodidakt zu einem Spezialisten auf dem Planetariumsgebiet entwickelt und verfasste später als Berater von Oberkochen das Buch „Windows to the Universe".

Die Thematik Weiterentwicklung des Zeiss-Planetariums wurde nicht intensiv diskutiert. Die Darstellung des Fixsternhimmels war auch nicht durch die Geräte von Spitz oder Boston bzw. San Francisco gefährdet. Ebenso war die Technik der Darstellung des Sonnensystems unübertroffen.

Am ehesten war die Steuerungstechnik veraltet, über 30 Jahre alt und in Jena schon auf eine stufenlose Geschwindigkeitsregelung umgestellt. Die Gestaltung des Gerätes als ein schwarzes Maschinenaggregat hätte auch eine Verbesserung verdient. Es gab aber weder von Oberkochen noch von Jena konkrete Beiträge. Das war ein Thema für die kommenden Jahre. Das lag wohl auch daran, dass es zu dieser Zeit keine „heißen" Projekte gab, die erst um 1965 zu einen verschärften Wettbewerb führten. Es fehlten auch die Japaner, wo sich allerdings die Firma Goto mit einem Mittelplanetarium auf dem Markt bemerkbar machte.

Zum Thema Kurse hatte jedes Planetarium seine eigenen Erfahrungen. Z.B. wurden in Chicago, das am Michigan-See liegt, Navigationskurse für Freizeitsegler mit großer Beteiligung durchgeführt. Selbstverständlich sind Schulklassen und Pfadfindergruppen ein gewisses Stammpublikum aller Planetarien. Reisegruppen, wie in Jena, spielten in den westlichen Ländern eine geringe Rolle, wo eher der individuelle Verkehr vorherrscht.

Grundlagen- und angewandte Forschung waren nicht das Hauptthema der Planetariumsaktivitäten. Einige Planetarien, wie Kattowitz, Philadelphia und Los Angeles, waren mit Zeiss-Refraktoren ausgerüstet und arbeiteten wie Volkssternwarten.

Ausstellungen waren ein besonderes Thema, aktiviert durch die beginnenden Weltraumaktivitäten. So hatte das New Yorker Planetarium einen Viking-Raum, in dem das Modell einer Viking-Rakete ausgestellt war. In Chicago gab es eine große Ausstellung antiker astronomischer Gerätschaften.

Es wurde allgemein anerkannt, dass zu jedem Planetarium eine Ausstellung gehört. Einen nicht unerheblichen Anteil fordert aber auch die moderne Astrophysik. Nicht zu unterschätzen sind die Kosten, sowohl für die Erstausstattung als auch für die Erhaltung und Modernisierung der Exponate.

Die New Yorker Etappe der Konferenz wurde am Abend des 13. Mai durch ein festliches Abendessen zu Ehren der Wohltäter der Planetarien und der auswärtigen Ehrengäste abgeschlossen. Ich hatte nun eine passende Gelegenheit, meinen neuen „guten" Anzug auszuführen. Die Teilnehmer der Konferenz hatten sich dazu im Portrait-Room des American Museum of Natural History versammelt und genossen

Fresh Shrimp Cocktail

Celery                Olives

    Filet Mignon

Oven Roast Potatoes        Green Peas

Mixed Green Salad        French Dressing

Fruit Tart            Coffee

Am Donnerstag, den 14. Mai, war ein Ausflug nach Philadelphia vorgesehen mit einem Besuch des Fels Planetariums und des Flower and Cook Observatory. Die Abfahrt war um 8 Uhr geplant, und wir fuhren in den Privatwagen der amerikanischen Kollegen.

Im Fels Planetarium gab es wieder einen Rundgang durch das Planetarium und das Observatorium, das mit einem 250-mm-Zeiss-Refraktor auf einer Meyerschen Montierung ausgestattet ist. Das Observatorium hat keine Kuppel, sondern ein großes abfahrbares Dach, was nach meinen Erfahrungen für Besucherführungen günstiger ist. Man kann den ganzen Himmel überblicken, und die Körperwärme mit der unvermeidlichen Luftstörung verteilt sich besser.

Das Flower and Cook Observatory ist durch seine Beobachtung veränderlicher Sterne bekannt, ebenso wie die Sonneberger Sternwarte, wo ich meine Tätigkeit als Astronom begann.

Am späten Nachmittag waren wir zu einem lukullischen Mahl in einem Spezialitätenrestaurant eingeladen, wo uns als Hauptgericht Hummer serviert wurde. Jeder Gast erhielt eine Schürze umgebunden, weil beim Knacken der Hummer-Panzer die Kleidung durch umherfliegende Teile gefährdet war. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich Lobster (Hummer) zu essen versuchte. Natürlich beherrschte ich nicht auf Anhieb die Technik, wie man den Panzer und die Schalen knackt. Geschmacklich war nichts auszusetzen, es schmeckte wie das Kamschatka Krebsfleisch, das bei uns anfangs reichlich im Angebot und zudem gar nicht teuer war.

Auf der Rückreise hörten wir im Autoradio die Rede eines offenbar bekannten Mannes, der häufig Beifall erhielt. Die Rede war mit Späßen gewürzt, die ich zwar nicht ganz verstand, die aber, aus der Reaktion der Zuhörer zu schließen, gut ankamen. Ich fragte, wer der Redner wäre, und erfuhr, dass es Dwight D. Eisenhower, der amerikanische Präsident, sei.

Ich wunderte mich über die Art seiner Rede und wurde aufgeklärt, dass dies eine amerikanische Sitte sei, zunächst durch witzige Bemerkungen die Aufmerksamkeit zu erregen und dann dennoch ein ernstes Thema zu behandeln. Zum Schluss würde in ähnlicher Weise der Beifall vorbereitet. Das habe ich dann öfter erlebt, insbesondere bei den sogenannten „Dinner speeches". Ich erinnerte mich an meinen Deutschlehrer, der uns ebenfalls einen solchen Aufbau einer Rede empfahl. Der Anfang der Rede und der Schluss müssen die Zuhörer packen, im Mittelteil hören die meisten sowieso nicht richtig hin.

Während wir uns New York näherten, merkte ich, dass mir der Hummer wahrscheinlich nicht gut bekommen war. Ich bekam Bauchschmerzen und war froh, dass ich gerade noch mein Hotelzimmer erreichen konnte. Mit einem fürchterlichen Brechdurchfall gab ich die an sich so köstliche Speise wieder von mir.

So vornehm das Hotel Alden auch war, kam ich in Schwierigkeiten mit meiner Leibwäsche und meinen Oberhemden. Ich war von meinen Reisen nach Indien und China verwöhnt. Wenn man frühmorgens seine Wäsche auf das Bett legte, war sie am Abend frisch gewaschen. Im Hotel Alden musste ich drei Tage auf meine erste Wäsche warten! Im Verlaufe meiner Reise mit nur kurzen Zwischenaufenthalten wurde es ziemlich dramatisch, schließlich hatte ich einen Koffer voll getragener Wäsche.

Am nächsten Morgen hatte ich meine Magen-Darm-Probleme überwunden und konnte an der Fahrt nach Boston teilnehmen. Dort stand neben dem Besuch des Charles Hayden Planetariums auch das Harvard College Astrophysical Observatory auf dem Programm.

Das Planetarium war mit dem schon erwähnten Gerät der Gebrüder Korkosz ausgerüstet, das ähnlich wie das Gerät in San Francisco und auch wie bei anderen später in Japan und China nachgeahmten Planetarien die sogenannten Planetenkäfige außen angebaut hatte. Allerdings war das Bostoner Planetarium damals nur ein Stellarium, weil die Sonne-Mond-Planetenmechanismen noch nicht funktionierten. (Später wurde das Planetarium durch ein Oberkochener Gerät ersetzt.)

Das Astrophysical Observatory des Harvard College in Cambridge/Massachusetts gehört zu den ältesten und international anerkannten Sternwarten der USA. Der Schwerpunkt liegt, wie der Name schon sagt, in der Astrophysik. 1839 gegründet bekam es damals einen Aufschwung durch den hellen Kometen von 1843 und wurde u.a. mit einem 400-mm-Refraktor von Merz ausgerüstet, der für die damalige Zeit ein „Großer" Refraktor war. Jetzt ist er ein Museumsstück, weil das Observatorium mit mehreren Außenstationen mit großen leistungsfähigen Teleskopen ausgerüstet ist.

Eines der Arbeitsgebiete des Observatoriums ist die Erforschung der veränderlichen Sterne. Dort besitzt man nach der Sternwarte das größte Archiv an Überwachungsplatten. Durch die Untersuchung der delta Cephei-Sterne gelang es, einen Entfernungsmaßstab für den Kosmos zu gewinnen.

In Boston waren wir Gäste des Charles Hayden Planetariums und übernachteten in einem Hotel, dessen Namen ich vergessen habe.

Am nächsten Tag fuhr die Autokarawane zunächst zur Küste, wo wir bei New London mit einer Fähre auf Long Island übersetzten. Unser Ziel war der Strand von Orient Point in der Nähe der Wohnung des Direktors des New Yorker Planetariums, Dr. Joseph M. Chamberlain. Dort erwartete uns ein „Beach clam-bake".

Was war das? Wörtlich übersetzt „Muschelbacken am Strand". Aber wie?

Wie die Seeräuber oder Schiffbrüchigen es taten: Man hebt im Sand eine große Grube aus und füllt sie mit angeschwemmtem (trockenen!) Holz. Das danach angezündete Feuer erhitzt den nassen Sand am Boden und den Seiten auf eine gehörige Temperatur. Wenn das Feuer niedergebrannt ist, wird die Grube mit einem nassen Segeltuch ausgelegt. Darin werden Muscheln, Fische, Teile von Hühnern und verschiedene Gemüse angehäuft und dann mit dem Segeltuch zugedeckt. Schließlich wird noch Sand auf das Segeltuch geworfen.

In dem Segeltuch werden somit die Nahrungsmittel in feuchtwarmer Hitze fettarm gegart und nach einer gewissen Zeit zum Verzehr freigegeben. Das war eine spannende Sache, und es hat sogar geschmeckt. Als Getränk wurde Bier gezapft, aber nicht auf uns gewohnte Weise, sondern mit einer Luftpumpe aus dem Fass gefördert. Diese weit verbreitete amerikanische Weise ist nicht nach unserem Gusto, denn das Bier hat keine Blume. An der Strandparty nahmen auch die Familien mit Kindern teil und es herrschte ein fröhliches Treiben.

Anschließend an das Essen waren wir noch in das Haus von „Joe" Chamberlain zum Kaffee eingeladen, auch typisch amerikanisch mit Partygeschirr aus Pappe.

Ich benutzte die Gelegenheit der informellen Begegnungen auf den Ausflügen, um näheren Kontakt zu den amerikanischen Kollegen zu bekommen. Es war für uns in Jena wichtig und interessant zugleich, auch die anderen Planetarien im Osten der USA kennenzulernen.

In Gesprächen mit den Direktoren des Adler Planetariums Chicago, Robert I. Johnson, des Morehead Planetariums Flint, A. F. Jenzano, und des Buhl Planetariums Pittsburgh, C. V. Starrett, bereitete ich meine Besuche der dortigen Planetarien vor. Auch mit C. H. Cleminshaw vom Griffith Planetarium Los Angeles hatte ich Gespräche, die dann 1961 zu einem Besuch führten.

Grundsätzlich wurde, wie schon erwähnt, die Rolle des Jenaer Zeisswerks als Ursprungsort des Planetariums und Produzent leistungsfähiger Geräte anerkannt. Welche Gespräche Dr. Schwesinger führte, konnte ich nicht feststellen. Die Chancen, in die USA neue Planetarien zu liefern, waren nicht sehr hoch. Es war aber auch wichtig, mit den amerikanischen Experten einen guten Kontakt zu haben. In vielen Fällen wirkten sie in den kommenden Jahren als Konsultanten bei neuen Projekten auch international.

Damit endete die Konferenz.

Bis Sonntag, den 17. Mai, blieb ich in New York und wurde von Henry Berman betreut. Er fragte mich, was ich gern in New York sehen wolle, und mir fiel als erstes Coney Island ein, ein Vergnügungspark am Strand.

Als mich Henry abholte, hatte ich mich in den besten Sonntagsstaat geworfen, was er sofort korrigierte. Wie er es geschafft hat, weiß ich nicht, aber offenbar sind selbst am Sonntag entsprechende Geschäfte geöffnet. Jedenfalls kam er nach kurzer Zeit mit einem kurzärmeligen Sommerhemd zurück, mit dem ich einen lockeren Eindruck machte, wie viele hunderte und tausende Amerikaner am Strand.

Coney Island ist schon längst nicht mehr der Sommervergnügungsort für die New Yorker. Ich hatte wahrscheinlich aus Filmen oder Zeitschriften von dem Tummelplatz gehört.

Da war zunächst ein kilometerlanger Strand zum Atlantik mit einer ebenso langen Promenade. Neben den zahlreichen Vergnügungshallen und Strandrestaurants ragten Achterbahnen, Karussells, Türme, von denen man Fallschirmspringen konnte, und andere Nervenkitzel in den Himmel. Am Abend war das durch die Beleuchtung noch attraktiver.

Ein bisschen enttäuscht war ich schon, aber ich hatte wieder ein Stück Amerika kennengelernt.

Am späten Nachmittag wollte ich mit dem Zug nach Chicago fahren. Ich hatte mir ein Schlafwagenabteil reservieren lassen, und die Fahrt würde am frühen Morgen in Chicago enden. Ich wollte nicht fliegen, es gab oft Probleme bei Inlandsflügen. Außerdem sparte ich noch die Kosten für eine Hotelübernachtung.

Ich nahm ein Taxi zur New York Grand Central Railway Station, einem Riesenkomplex, dessen Namen ich wörtlich in New Yorker Großer Hauptbahnhof übersetzte. Der Bahnhof liegt an der Park Avenue/42ste Straße.

Mich beeindruckte zunächst die überdimensionale Bahnhofshalle, alles in Marmor, Fußboden und Wände. Die himmelhohe Decke ist in blauer Farbe gehalten und mit goldenen Sternen und astronomischen Symbolen bedeckt. Die Sterne bilden den Himmel ab, von außen, wie auf einem Himmelsglobus, „so wie ihn Gott sieht!"

Die Bahnsteige und das Schienensystem liegen in zwei Etagen unter der Erde. Ich fand meinen Zug und mein Abteil und machte es mir bequem.

Ich hatte keine Vorstellungen vom amerikanischen Eisenbahnsystem, obwohl mir einige Namen der Eisenbahngesellschaften bekannt waren. Insbesondere war mir nicht bewusst, dass es in einem Staat Linien mehrerer Eisenbahngesellschaften gab und dass man nicht geraden Wegs von einem Ort zum anderen fuhr.

Der Grand Central, wie er kurz genannt wurde, war der Hauptbahnhof der Eisenbahn des Staates New York. So wunderte ich mich zuerst, dass der Zug nicht in Richtung Westen sondern lange Zeit nach Norden fuhr. Sein erstes Ziel war nämlich Albany, N.Y., die Hauptstadt des Staates New York. Erst später erfuhr ich, dass man bei einer Tagesfahrt einen kostenlosen Abstecher zu den Niagarafällen machen konnte. In der Nähe von Buffalo bog die Eisenbahnlinie nach Westen und fuhr längs des Eriesees in Richtung Chicago.

Es war ein schöner Abend, hoch am Himmel sah ich in einer Lücke von hohen Wolken den Kondensstreifen eines nach Norden fliegenden Flugzeuges von meinem Platz im Speisewagen. Es gab nur wenige Gäste, und ich war allein an meinem Platz. Der Kellner war ein Afroamerikaner. Er legte mir die Speisekarte vor und einen Bestellzettel, auf dem ich die Nummer des gewählten Gerichts und die Zahl der Portionen eintragen sollte.

Was ich bestellte, weiß ich nicht mehr, ich war aber überrascht, als der Kellner mich fragte, ob ich ein Deutscher sei? Ich hatte kein Wort gesagt und war auch nicht typisch deutsch, etwa mit Lederhosen gekleidet!

Als ich ihn fragte, woher er das wisse, zeigte er auf die Zahl 1 auf dem Zettel, die ich, wie im Deutschen üblich, mit einem Anstrich versehen hatte. Ich lernte, dass die Amerikaner nur einen Strich machen, damit die 1 nicht mit der 7 verwechselt wird.

Wie erwähnt, kam ich am Morgen in Chicago an und bezog ein Hotel, an dessen Namen ich mich aber nicht mehr erinnere. Dann machte ich mich auf den Weg zum Adler Planetarium, das auf einer kleinen Halbinsel im Michigansee liegt. Auf dem Weg dorthin kam man an einem kleinen Flugplatz vorbei, auf dem am Montagmorgen, gegen 10 Uhr, bereits ein reger Flugbetrieb herrschte. In kurzen Abständen wechselten Starts und Landungen der kleinen einmotorigen Sportmaschinen. Ich ahnte nicht, dass dieser Flugplatz mich beinahe noch als Fluggast gesehen hätte.

Ich wurde freundlich im Planetarium begrüßt und durchs Haus geführt. Das im Jahre 1930 von dem Chicagoer Industriellen Max Adler gestiftete Planetarium, das erste in den USA, liegt im Grant Park am See. Das Gebäude hat drei Stockwerke und ist von einer mit Kupfer bedeckten Kuppel gekrönt.

Neben dem Kuppelraum gibt es mehrere Hörsäle und Ausstellungsräume. Neben astronomischen Exponaten, die die Vorträge im Planetarium ergänzen, ist die berühmte Mensing-Sammlung früher astronomischer Instrumente eine Attraktion. Zu den besonderen Aktivitäten des Planetariums gehört eine optisch-mechanische Werkstatt, in der Amateurastronomen ihre Optiken und die Mechanik für die Fernrohre fertigen können.

Ich wurde zum Mittagessen eingeladen und auch gefragt, ob ich einen besonderen Wunsch hätte, nach einer Sehenswürdigkeit von Chicago und Umgebung. Ich wusste, dass in der Nähe das Yerkes Observatorium der Universität Chicago war, und fragte, ob ein Besuch möglich wäre. Die Besonderheit dieses Observatoriums war der größte Refraktor der Welt, dessen Objektiv von 1020 mm Durchmesser von Alvan Clark jr. im Jahre 1897 gefertigt worden war.

Man sagte mir, das sei kein Problem, man könne dorthin fliegen. Ich wunderte mich ein wenig, da ich glaubte, das Observatorium läge in der näheren Umgebung. Beim Mittagessen brachte ich das Gespräch noch einmal auf den Flug. Inzwischen hatte sich nämlich ein Maigewitter zusammengebraut und ich hatte keine Lust auf ein Abenteuer.

Ich hatte zuerst gedacht, dass wir mit einer Linienmaschine fliegen, aber das wäre nicht logisch gewesen. Nein, wir würden mit einer Privatmaschine, einem solchen kleinen Vogel fliegen, wie ich sie am Morgen gesehen hatte. Da äußerte ich Bedenken, ob es wegen der Wetterlage nicht riskant sei, was aber verneint wurde. Bei solchem Wetter würden nur diejenigen fliegen, die wirklich fliegen können. Bei schönem Wetter müsse man mit Leuten rechnen, die keine Erfahrung haben, und das wäre eher riskant.

Schließlich hatte man ein Einsehen mit mir Angsthasen, und wir fuhren mit dem Auto zum Observatorium. Ich glaube, es dauerte etwa 90 Minuten, bis wir dort waren, im Flugzeug wäre es sicher eine Angelegenheit von 20 Minuten gewesen.

Das Teleskop war schon imponierend in seinen Dimensionen und immer noch im aktiven Dienst. Allerdings hatte man in jener Zeit ein Zusatzgerät angebaut, das jetzt als Fokalreduktor bekannt ist. Durch eine Verkürzung der Brennweite hatte Aden B. Meinel die Möglichkeit geschaffen, aus dem Refraktor eine lichtstarke Himmelskamera gemacht. Meinel, der später das Kitt Peak Observatorium leitete, war übrigens 1945 als junger Mann mit der US-Armee in Jena, um das Zeisswerk nach militärisch interessanten Objekten zu durchsuchen.  

Das Gewitter hatte uns nicht behelligt, und wir machten noch einen Abstecher zum „Flugplatz" des Observatoriums: eine Wiese von etwa 100 m Länge und 20 m Breite und ein Windsack waren alles!

Dann gab es noch ein Abendessen, und es ging zurück nach Chicago. Wir fuhren durch hellerleuchtete Straßen, und mir gelang sogar eine Aufnahme, als wir an einer Ampel halten mussten.

Am nächsten Tag wollte ich weiter nach Flint, Michigan, um mir das dortige Spitz-Planetarium Modell B, anzusehen. Ich fuhr erst nach Detroit und hatte Zeit für einen kleinen Stadtbummel. Dann fuhr ich mit einem Überlandbus nach Flint. Im Bus konnte ich den technischen Fortschritt der USA bewundern. Es gab sogar eine Toilette an Bord, die aber nur für Zwerge geeignet war.

In Flint wurde ich ebenfalls freundlich empfangen, obwohl ich ja bei der Konkurrenz spionieren wollte.

Flint hatte in jener Zeit eine Bedeutung als ein Standort für die Autofertigung von General Motors, nicht so bedeutend wie Detroit, aber es herrschte ein gewisser Wohlstand, dem auch das Planetarium seine Existenz verdankte. Die Stadt hatte mehr einen ländlichen Charakter, es fehlten ausgesprochene Hochhäuser. Inzwischen wurden viele Fabrikationsstätten geschlossen, wie ich aus einem Fernsehbericht erfuhr, und es geht den Menschen schlechter als vor 40 Jahren.

In den Vorführraum des Planetariums gelangte man durch einen Ausstellungsraum, in dem Diagramme und astronomische Objekte mit Leuchtfarben gezeichnet waren, die durch UV-Lampen zum Leuchten angeregt wurden. Der Raum war dadurch ziemlich duster.

Im Kuppelraum herrschte ebenfalls ein dunkles Zwielicht vor. Man sah kaum den schwarz gestrichenen Projektor, der im Gegensatz zum Zeiss-Planetarium an Stahltrossen befestigt war und quasi im Raum schwebte. Beim Zeiss-Projektor hätten wir uns das nicht getraut, aber das Modell B von Spitz hatte für die meisten Fixsterne nur eine Lochprojektion, also ohne Kondensoren und Linsen, und war wesentlich leichter. Lediglich für etwa 20 der hellsten Sterne gab es individuelle Projektoren mittels kleiner Linsen, die das Gewicht nicht sehr erhöhten.

Wie zu erwarten war, hatte der Sternhimmel keinerlei Ähnlichkeit mit dem des Zeiss-Planetariums. Nur nach langer Zeit war der Besucher an die Dunkelheit gewöhnt und konnte gerade die hellsten Sterne erkennen. Ich hielt mich mit der Kritik zurück und stellte fest, dass das Planetarium „auf dem Lande" dennoch begeistert angenommen wurde. Es gab ja nichts Besseres, und im Jahre 1959 wurde man noch nicht mit Farb-TV und Multi-Media-Effekten verwöhnt.

Meine Gastgeber zeigten mir auch die Stadt. So besuchten wir eine Schule, und dann war ich in einer Art Mensa zum Essen eingeladen. Wieder lernte ich etwas Neues kennen: ein Selbstbediennungsrestaurant, wie wir es heute für selbstverständlich ansehen. Damals stand ich mit meinem Tablett vor einer Parade von verschiedenen Speisen und Getränken und wusste nicht, was ich nehmen und was ich liegen lassen sollte. Schließlich half man mir, und ich war für künftige Abenteuer etwas schlauer geworden.

Am Nachmittag fuhr ich wieder mit einem Bus nach Detroit und von dort weiter mit der Pennsylvania Railway im Schlafwagen nach Pittsburgh.

Über Pittsburgh hatte ich auch keine Vorinformationen. Ich glaube nicht, dass wir in Geographie viel über die USA erfahren haben. In der Nähe von Pittsburgh war die Stahlindustrie angesiedelt in einem überdimensionalen Ruhrgebiet. Aber das Ruhrgebiet kannte ich auch nicht so genau.

So war ich überrascht, in Pittsburgh eine freundliche Stadt vorzufinden, hell und weiträumig gestaltet, ganz im Gegensatz zu den anderen Großstädten, die ich gesehen hatte.

Mein Gastgeber in Pittsburgh war C. V. Starrett, den ich in New York kennengelernt hatte. Er war, soweit ich mich erinnere, schon längere Zeit am Planetarium Pittsburgh tätig und hätte nach seinem Alter mein Vater sein können. Die Freundlichkeit, mit der er mich aufnahm, war nicht oberflächlich höflich. Obwohl ich mit meinen 29 Jahren fast noch als ein Anfänger gelten konnte, wurde ich als Vertreter von Carl Zeiss Jena und seiner Abteilung für Astronomische Geräte und Planetarien respektiert.  

Pittsburgh erhielt im Oktober 1939 das fünfte Zeiss-Planetarium der USA und verdankte es der Stiftung des Geschäftsmannes Henry Buhl jr. Ein imposanter Bau von etwa quadratischem Grundriss wird von der Planetariumskuppel gekrönt.

Das Interesse am Planetariumsbesuch blieb über die Jahre beständig, auch weil man einen guten Kontakt zu den Schulen hielt.

Mr. Starrett gab mir auch die Gelegenheit, Pittsburgh „von oben" zu sehen. Die Stadt liegt ähnlich wie Jena im Tal mit dem Unterschied, dass sie größer ist. Ein großer Fluß, der Ohio River, entsteht dort durch den Zusammenfluss des Alleghany und des Monongahela River und prägt das Tal. Man kann von einer Anhöhe ähnlich wie vom Landgrafen in Jena auf die Stadt schauen. Dort war natürlich auch ein Restaurant, und wir verbrachten eine angenehme Zeit.

Der freundliche Eindruck einer harmonischen Stadtgestaltung fiel aus der Vogelperspektive besonders auf. Auf meine Frage, woher das kommt, wurde mir erklärt, dass die Stadt Pittsburgh seit der Gründung durch die Quaker unter Penn den Grund und Boden im Gemeineigentum hat. Daher gab es keine Möglichkeiten für Grundstücksspekulanten, und die Planung musste keine Rücksicht auf Privateigentum nehmen.

Später erfuhr ich noch etwas anderes über Pittsburgh, als mir zufällig ein Exemplar der Zeitschrift „Life Magazine" in die Hände kam. In diesem Heft wurde die Verjüngungskur von Pittsburgh beschrieben, aus der durch die nahen Hochöfen verrußten zu einer hellen, freundlichen, sauberen Stadt. An Hand von Aufnahmen am selben Standort wurde gezeigt, dass vor der Aktion an manchen Tagen selbst am Mittag nichts von der Sonne wahrgenommen werden konnte. Die Aktion betraf in erster Linie die Stahlwerke, bei denen durch leistungsfähige Filter die Schadstoffemission erheblich vermindert worden war. Auch durch teilweise Stillegung und den Bau neuer leistungsfähiger Aggregate hat man zu dem Ergebnis beigetragen. Im zweiten Schritt hatte die Stadtverwaltung ein Großreinemachen der Gebäude veranlasst. So erschien mir Pittsburgh als eine der schönsten Städte der USA.

Mr. Starrett war wirklich freundlich, denn, als er mich zu sich nach Hause einlud, stellte ich fest, dass seine Frau krank war. Demzufolge demonstrierte er, wie man in Amerika mit Hilfe der umfangreichen Angebote des Supermarkts auch als Junggeselle den Küchenchef spielen kann. Wieder lernte ich etwa Neues kennen, was heute nach vierzig Jahren nichts Bedeutendes mehr ist. Mr. Starrett wollte frische Brötchen backen. Er nahm eine schmale Büchse, die eine spiralförmige Einkerbung auf dem Zylindermantel hatte. Ein Schlag mit der Büchse auf die Tischkante, knack!, und man konnte die Deckel so gegeneinander verdrehen, dass sich die Spirale öffnete und den in der Büchse enthaltenen Brötchenteig freigab. Heute heißt das „Knack und Back"! Für mich als Bäckerssohn, der selbst schon Brötchen und Brot in großen Mengen gebacken hatte, schmeckten die Brötchen wie vom Bäcker gemacht. Es gab dann noch gegrillte Hähnchenschenkel und es reichte völlig.

Am nächsten Tag nahm mich Mr. Starrett mit zu einem Frühschoppen, zu dem sich einige Herren aus der Stadtverwaltung regelmäßig trafen. Ich wurde als eine Art Kuriosität vorgeführt. Jemand aus Ost-Deutschland war ein seltener Besuch, was sogar zu einem Zeitungsartikel über mich führte.

Es war etwas schwer, mit den Herren zu einer Konversation zu kommen, weil jeder so sprach, wie er es gewohnt war, und nicht wie er verstanden werden würde. Besondere Schwierigkeiten machte mir ein Herr, der aus den Südstaaten stammte. Dort sei es üblich, eine Art langgezogene Redeweise zu benutzen, aber auch mit einem ungewohnten Tonfall.

Neben meinen Berichten über Carl Zeiss Jena fiel meine Kamera auf. Ich hatte nämlich eine „Doppel-Werra" der neuesten Zeiss-Produktion. Eine „Werra I" mit festem Objektiv als einfachste Ausführung der Baureihe hatte ich über ein Zwischenstück mit einer „Werra IV" gekoppelt. Die „Werra IV" hatte Wechselobjektive, Tessar 2.8/50, Flektogon 2.8/28 und Biometar 4.5/80, sowie einen elektrischen Belichtungsmesser und einen Basisentfernungseinstellung. In der „Werra I" hatte ich einen Schwarzweißfilm, in der „Werra IV" einen Farbfilm. Die Herren waren von dieser interessanten technischen Lösung beeindruckt.

Ich benutzte die Kameras intensiv, auch manchmal mit Wechseloptik, lange Zeit auf verschiedenen Reisen, bis ich zu einer „Praktika" wechselte, die mir als Spiegelreflexkamera besser gefiel. Am liebsten hätte ich eine Exakta-Kamera gehabt, die in den USA durch den Hitchcock-Film „Das Fenster zum Hof" bekannt geworden war. Inzwischen habe ich die „Werra IV" an das Optische Museum der Ernst-Abbe-Stiftung in Jena übergeben.

Die Fahrt nach New York unternahm ich wieder im Pullman-Car, dem Schlafwagen, in dem ich sogar ein eigenes Abteil mit integrierter Toilette hatte. Ich kam am Morgen in der Pennsylvania Station an und begab mich zu meinem Hotel, dem „Lexington" in der Lexington Avenue. Dort hatte mir Henry Berman ein Zimmer reserviert, das etwa in der Mitte des Hochhaus-Hotels lag. Obwohl ich nur noch wenige Tage in New York bleiben wollte, störte mich der Zimmerpreis von 12,50 US-$, also rund 50 DM, der weit über meinem Spesensatz lag. Da ich aber für den Au-fenthalt im Hotel Alden die Übernachtungsspesen gespart hatte, konnte ich es mir leisten und bei der Abrechnung vertreten. Ebenso fand ich es kurios, dass im Zimmer zwar ein Radio war, fest an der Wand installiert, aber man 50 Cent in einen Münzschlitz werfen musste, um eine halbe Stunde Rundfunk empfangen zu können. Heute kostet ein Zimmer im „Lexington", einem Hotel der mittleren Preisklasse, allerdings 70 bis 120 US-$.

Im Büro der Vertretung hatte ich Anweisungen von Jena entgegengenommen, dass ich anschließend nach Toronto und Montreal fliegen und dann anschließend auch nach Belgien kommen sollte. Dafür benötigte ich Visa, die etwas Zeit bedurft hätten. Für Kanada war es leichter. Man konnte als Ausländer ohne Visum einreisen, falls man eine feste Buchung vorweisen konnte, nach der man Kanada innerhalb von drei Tagen verlässt. Blieb also nur die Wartezeit für das belgische Visum, das aber wesentlich leichter und schneller zu erlangen war, als wenn ich es in Berlin beantragt hätte. Ich konnte die Zeit nutzen, um noch mehr von New York zu sehen.

Das absolute Muss der damaligen Zeit war ein Besuch der Aussichtsplattform im 102. Stockwerk des Empire State Buildings, im Jahre 1959 das höchste Gebäude der Welt mit 380 m Höhe. Mit einem der zahlreichen Expressfahrstühle konnte man die Aussichtsplattform erreichen. Ich war ja schon einiges vom „Expressfahrstuhl" im Zeiss-Hochhaus gewöhnt, mit dem man mit einer Geschwindigkeit von 6 m/sec in den 14. Stock gelangen konnte. In New York dauerte es auch nur etwa eine Minute, bis man die gewünschte Höhe erreicht hatte.

Der Ausblick von der mit hohen Gittern gesicherten Aussichtsplattform war überwältigend. Ob man nun nach unten oder in die Ferne schaute, man war wie gebannt. Von dort kann man bei guten Wetter bis zu 80 km weit sehen, unter sich die Insel Manhattan, den Hudson und den East River, den Internationalen Flughafen und den New Yorker Hafen auf der West Side.

Für unsere Zeit interessant ist, dass der Bau des Empire State Buildings im Jahre 1929, dem Jahre der tiefsten Depression, begonnen und 1931 fertiggestellt wurde und sich nicht gleich „rechnete". Es wurde spöttisch „Empty State Building" also „Leeres" Staatsgebäude genannt. Angeblich hatte die Gebäudeverwaltung Scharen von Arbeitslosen beschäftigt, die durch An- und Abschalten der Beleuchtung den Eindruck machen sollten, als herrsche emsige Geschäftstätigkeit.

Als nächstes wollte ich mir die Freiheitsstatue aus der Nähe besehen. Ich fuhr mit der U-Bahn zur Südspitze Manhattans und ging zunächst im Battery Park spazieren, wo die Geschichte New Yorks begonnen hatte.

Dann fuhr ich mit einer Fähre zum Liberty Island, wo die Statue steht. Allerdings verzichtete ich aus Zeitgründen auf einen Landgang, denn es gab lange Besucherschlangen. Ich nutzte meine Kamera, um meine Fahrt zu dokumentieren, und war von der Sky Line Manhattans beeindruckt.

Wieder auf festem Boden machte ich mich auf den langen Marsch nach Norden, um Manhattan, so gut wie es geht, zu Fuß zu erkunden.

Die Straßenschluchten um die Wallstreet, dem ältesten Stadtgebiet, ließen kaum Licht durch. Man sieht es den Gebäuden nicht ohne weiteres an, dass man am finanziellen Angelpunkt der westlichen Welt ist. Da ich meine Exkursion an einem Sonntag machte, fehlte das geschäftige Treiben auch auf meinem weiteren Weg. Ich kam zunächst in die China Town, das Chinesenviertel, das mich aber nicht besonders beeindruckte, schließlich war ich im vergangenen Jahr im richtigen China gewesen.

Dann kam ich in das Viertel „Little Italy", keine freundliche Gegend. Am meisten fallen an den alten Gebäuden die außen angebauten Feuerleitern auf, die man aus vielen Krimis kennt, die in Manhattan spielen. Hätte man diese Notausgänge nicht angebaut, dann wären diese Häuser unentrinnbare Feuerfallen. New York ist ohnehin berüchtigt, dass es immer irgendwo brennt.

Je weiter man nach Norden kommt, umso freundlicher wird die Gegend. Man kommt zum Washington Square mit dem Triumph-Bogen, ein Mini-mini-Central Park, auf dem buntes Treiben herrscht. Dort liegt auch das Monmartre von New York, Greenwich Village, das ich aber erst später kennenlernte.

Nördlich davon beginnt die Fifth Avenue, die in der Höhe der 23rd Street den Broadway schneidet. Das interessanteste Gebäude dort ist das 22-stöckige sogenannte Flatiron-Building, das „Bügeleisen", das 1902 als eines der ersten New Yorker „Wolkenkratzer" entstand. Auch von der Höhe der Aussichtsplattform des Empire State Buildings, das ja nur 10 Blocks weiter nördlich liegt, ist das spitz zulaufende Gebäude auffällig.

In der Nähe der 42nd Street war ich schon wieder in einer bekannten Gegend, allerdings bei Tage etwas nüchterner anzusehen. Auffällig waren die Öffentliche Bibliothek in einem kleinen Park und dann die große St. Patricks Kathedrale, die wie eine der europäischen Kathedralen des Mittelalters aussah, aber damals (1959) erst 80 Jahre alt war.

Die Kathedrale ähnelt dem Kölner Dom und wird trotz ihrer 100 m hohen Doppeltürme in der Fifth Avenue von Wolkenkratzern überragt. Man ahnt nicht, dass sie seinerzeit weit nördlich außerhalb des damaligen Stadtzentrums lag. Sie ist 1910 dem irischen Nationalheiligen geweiht worden.

Da New York einen starken irischen Bevölkerungsanteil hat, wird der St. Patricks Day, der 17. März, als ein großes Volksfest mit einer Parade entlang der Fifth Avenue gefeiert. Einem Stadtführer kann man übrigens die Kuriosität entnehmen, dass der Grund und Boden, auf dem die St. Patricks Kathedrale steht, von der Stadt New York für einen Dollar verkauft wurde.

Weiter nördlich liegt das Rockefeller Center mit dem RCA Building. RCA heißt Radio Corporation of America, und das Rockefeller Center war mit der Radio City Music Hall und dem berühmten Ballett der hübschesten Tänzer Schauplatz vieler Unterhaltungsfilme der 40er und 50er Jahre.

Ich hatte nicht die Zeit, mir alles genau anzusehen, so dass ich mir nur einen Eindruck von außen verschaffte.

Dank der Freundlichkeit der Firma Ercona konnte ich eines der mit großem Erfolg am Broadway laufenden Musicals besuchen. Die Sekretärin von Henry Berman, Miss Lydia Zügel, eine jüdische Deutsch-Amerikanerin, die die Korrespondenz mit Zeiss erledigte, führte mich aus. Das bekannteste Musical war zuvor „My Fair Lady" gewesen, aber auch das Musical „Camelot" hatte großen Erfolg. Die Hauptakteure der Geschichte von den Rittern der Tafelrunde des König Artus waren Julie Andrews und Rex Harrison, „sexy Rexy", beide auch als Filmschauspieler international bekannt.

Ich war auch zum Abendessen eingeladen, das wir im Restaurant „Blue Ribbon", Blaues Band, einnehmen wollten. Das „Blaue Band" war eine begehrte Trophäe, das für die schnellste Überquerung des Atlantik bei den Europa-Amerika-Schiffahrts-Linien verliehen wurde. Der ehrgeizige und rücksichtslose Kampf um das Blaue Band führte zur Titanic-Katastrophe.

Das Lokal lag in der Nähe des Theaters und ist nicht so bedeutend, dass man es im Stadtführer findet. Aus dem großen Angebot wählte ich mehr aus Neugierde „Virginia Ham Steak", also Schinkensteak á la „Virginia". Das besondere war die mir damals noch unbekannte Kombination Fleisch mit Honig, garniert mit einer Ananas-Scheibe. Die Südstaatler haben, wie man so sagt, einen süßen Zahn, denn auch das Kentucky Fried Chicken hat als Außen"haut" eine Panade, die mit Honig gebunden ist.

Einen zweiten Ausflug machten wir nach Greenwich Village, das ich zuvor schon erwähnt hatte. Henry Berman führte mich in das interessante Viertel des Künstlervölkchens, wo wir ein Konzert der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba besuchten. Die Sängerin stand 1959 am Anfang ihrer Weltkarriere, bei der sie nicht nur wegen ihrer schönen Stimme sondern auch wegen ihrer aktiven Beteiligung am Kampf gegen die Apartheid Anerkennung fand.

Ich hatte also viel erlebt, interessante Menschen kennengelernt, mit denen ich noch lange Jahre als Teilnehmer der International Planetarium Directors Conference zusammentreffen würde, um Carl Zeiss Jena und seine Planetarien zu vertreten. Dank der Einladung zur ersten Konferenz und der Sonderbedingungen hatte ich also dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Stippvisite abstatten können.

Bei meiner Ausreise nach Kanada erlebte ich ein Stück dieser Freiheiten. Es gab keine Pass- und Zollkontrolle für den Flug nach Toronto, es war Sache der Kanadier, ob sie die Einreise bewilligten. Also war es den Amerikanern eigentlich egal, wie lange ich in den USA bleiben würde. In den USA gibt es auch keinen Personalausweis, und bei einem Besuch Kanadas benötigt der US-Bürger auch keinen Pass. Es genügt sein Führerschein oder die Sozialversicherungskarte, sehr günstig ist auch eine Kreditkarte.

In Kanada angekommen, muss man auf dem Flugplatz durch „Tore" gehen, eines für US-Bürger und Kanadier, das andere für „Ausländer". Man erzählte mir, dass die Beamten der Einwanderungsbehörde einen guten Blick für die schwarzen Schafe haben, obwohl man im schlimmsten Fall schwarz über die grüne Grenze gehen kann. Ein einfacher Test ist die Frage: „Where are You coming from?" Die Antwort muss dann wie aus der Pistole geschossen kommen: „I am from ... und dann müssen Ort und Staat in einem Atemzug genannt werden, also z.B. „Denver, Colorado". Wer dabei herumstottert, hat schlechte Karten.

Bei mir genügte der Hinweis auf das vorher gültige US-Visum und die feste Buchung bei der KLM Montreal-Amsterdam, obwohl ich auch hätte umbuchen können.

Ich wurde in Toronto von einem jungen Mann namens Risty Perotto empfangen. Er war ein gelernter Feinmechaniker, der in der kanadischen Vertretung Jena Instruments Toronto/Montreal angestellt war. Diese Begegnung war der Beginn einer langen Freundschaft und Zusammenarbeit, die später zum Verkauf dreier Großplanetarien nach Calgary, Toronto und Vancouver führte.

Mein Besuch im Jahre 1959 war der erste Kontakt mit Astronomen der Sternwarte Toronto, die für Toronto ein Planetarium schaffen wollten.

Beim Besuch der weit außerhalb Torontos auf dem Observatory Hill gelegenen Sternwarte konnte ich ein 74-inch-Teleskop der englischen Konkurrenzfirma Grubb & Parsons besichtigen. Die Sternwarte unterstand der britischen Admiralität, und die Astronomen Kanadas waren in der Royal Astronomical Society of Canada organisiert.  

In Montreal lernte ich dann den Inhaber der Firma, Mr. Tobis, kennen, der aus der Tschechei nach dem Krieg nach Kanada gekommen war. Später kam es zu Problemen mit ihm, so dass dann Risty Perotto die Firma Jena Instruments Canada Ltd. führte.

Der Flug nach Amsterdam ging gegen 18 Uhr ab, und wir waren am Vormittag, durch Rückenwind begünstigt, schneller als beim Hinflug, wieder in Europa.

In Schiphol, dem Flughafen Amsterdams, holte mich Minheer Franzen, ein Mitarbeiter der holländischen Vertretung Lamers & Indemans, ab und brachte mich in einer Pension unter. Ich war am Samstag angekommen und froh, dass mich jemand betreute. Auch mit Herrn Franzen hatte ich später viele Kontakte, teils in Jena oder Leipzig zur Messe bzw. bei mehreren Holland-Besuchen.

Als ich mit ihm meine Reise nach Brüssel besprach, wohin ich am Montag fliegen wollte, machte er den Vorschlag, mich mit dem Auto nach Brüssel zu bringen. Auf meine Einwände, dass ich ja eine Flugbuchung hätte, sagte er, wir würden mit seiner Frau und den zwei Kindern einen Familienausflug machen, und die Familie freue sich darauf.

Am Sonntagvormittag ging die Reise los. Auf der Autobahn war nicht viel Verkehr, so dass wir in der Nähe der Grenze eine gemütliche Mittagspause machen konnten. An der Grenze wurden wir einfach durchgewinkt, ein holländisches Auto mit einer Familie auf einer Sonntagspartie erregte kein Aufsehen. Dafür hatte ich zwei Tage in New York auf mein Visum gewartet und von Jena aus hätte es mindestens vier Wochen gedauert. Aber durch die Benelux-Vereinigung waren Belgien, die Niederlande und Luxemburg praktisch ein Staat geworden.

Die belgische Vertretung hatte mir im „Hotel des Colonies" in der Nähe des Nordbahnhofs ein Zimmer reserviert. Am nächsten Tag traf ich Monsieur Fey, mit dem ich die im Vorort Uccle gelegene Sternwarte Brüssel besuchen wollte.

Neben dem Direktor, Prof. Bourgeois, lernte ich auch Prof. Arend kennen, der gemeinsam mit Mr. Roland 1958 den Kometen Arend-Roland entdeckte hatte, der lange Zeit als spektakuläre Erscheinung am Nordhimmel mit bloßem Auge beobachtet werden konnte.

Das Thema der Besprechung war eine Überholung der aus den 30er Jahren stammenden Zeiss-Teleskope, einem Doppelastrograph und einem 1-m-Teleskop. Die Beziehungen von Carl Zeiss Jena mit der Sternwarte Uccle hatte schon mein Vorgänger Hartwig wieder aufgenommen, und es kam zu mehreren Aufträgen in den folgenden Jahren.

Mit Herrn Fey besuchte ich auch noch die Sternwarte Lüttich, mehr Interesse halber, die ein Zentrum der theoretischen astrophysikalischen Forschung geworden war. Zu Aufträgen kam es nicht.

Schließlich fuhr ich mit dem Zug wieder nach Jena mit einer Umwegkarte, da ich ja ursprünglich von Amsterdam aus fahren wollte. Die Einreise in die BRD im Transit ging glatt vor sich, und auch der DDR-Zoll hatte nichts dagegen, dass ich mit dem Alliierten Travel Dokument wieder in die DDR einreiste.

Meine Frau und unsere Söhne waren froh, mich wieder zu haben, wenn auch der Koffer nicht voller Geschenke sondern voller „Schmutzwäsche" war. Man soll es eben nicht so eilig bei einer Reise in die USA haben. Aber auch in Montreal war es mir nicht gelungen, den chinesischen Inhaber einer Wäscherei zu einem Expressdienst auch zu erhöhtem Preis zu überreden. Nur durch ein Nylonhemd, das ich selbst wusch, konnte ich mein Gesicht wahren.

Ich war danach noch dreimal in den USA: 1960 hatte ich in Anchorage, Alaska, eine Zwischenlandung auf dem Flug nach Tokio, für die ich allerdings ein Transitvisum benötigte. 1961 unternahm ich eine größere Reise zum Besuch der Tagung der Internationalen Astronomischen Union in Berkeley, California, und der Sternwarten Mt. Wilson, Mt. Palomar, Lick, McDonald, Sacramento Peak, Kitt Peak, Nashville und Cleveland. Schließlich war im Januar 1965 mein Flugzeug zunächst von Montreal nach Boston und später nach New York umgeleitet worden. Erhebliche Schneefälle an der Ostküste Amerikas hatten den Flugverkehr durcheinandergebracht. Ich übernachtete in einem Hotel in der Nähe des Flugplatzes und flog am nächsten Tag nach Toronto.

1978 nahm ich an der Planetarium Directors Conference in Montreal teil, die danach in Rochester, N.Y. tagte. Mir wurde aber von meinen Vorgesetzten die USA-Reise verwehrt.

Doch davon ahnte ich 1959 noch nichts, war ich doch als einer der ersten USA-Reisenden aus der DDR privilegiert und sicher von manchen meiner Kollegen und Bekannten beneidet worden.

USA, Sternwarten und viele Astronomen

Im Oktober 1960 wurde im Tautenburger Forst im Karl-Schwarzschild-Observatorium der Deutschen Akademie der Wissenschaften das 2-m-Universal-Spiegelteleskop in Betrieb genommen. Den Anstoß für dieses Projekt gab eine Denkschrift von Prof. Hans Kienle im Jahre 1948. Darin wurde vorgeschlagen, auf der Basis einer von Alfred Jensch bei Carl Zeiss Jena erarbeiteten Konzeption ein vielseitig einsetzbares Groß-Teleskop zu realisieren. Im Jahre 1948 war dieses 2-m-Projekt der Versuch, die deutschen Astronomen wieder an die Spitze der internationalen Forschung zu bringen. Diese Konzeption war dadurch begründet, dass die weitere Entwicklung der Astronomie nicht abzusehen war. Die Kombination eines Schmidt-Teleskopes zur Fotografie großer Himmelsfelder und einer Cassegrain/Coudé-Optik für die detaillierte Untersuchung einzelner Objekte hatte die besten Chancen. Für diese Untersuchungen sollten auch leistungsfähige Spektrographen eingesetzt werden. Ein Gesamtdeutsches Direktorium gab zwar die Konzeption vor, es fehlten aber unmittelbare Kenntnisse und Erfahrungen mit modernen Coudé-Spektrographen.

Als das 2-m-Teleskop in Betrieb genommen wurde, waren die Spektrographen erst in der Entwicklungsphase, was kein Nachteil war. Die Ingenieure der Astroabteilung waren daran interessiert, die Funktionsfähigkeit des Teleskops zu erproben. Wichtige Elemente des Teleskops, das Optiksystem sowie die Lagerung und die Antriebe ließen sich auch in der Schmidt-Variante oder ohne Spektrographen testen. Außerdem wurde dabei das näher zu untersuchende Beobachtungsmaterial gesammelt.

Bis zu dieser Zeit waren Spektrographen vorwiegend mit Prismen ausgerüstet worden, auch die Sonnenspektroskopie erfolgte mit Mehrfach-Prismen-Anordnungen. So wurde z.B. das Sonnenobservatorium Oslo mit einem 3-Prismensatz ausgerüstet, wenn ich mich richtig erinnere mit 100 mm Kantenlänge.

In der damaligen Zeit erschien eine Reihe von Veröffentlichungen zu theoretischen und praktischen Fragen der Sternspektroskopie. Fehrenbach vom Observatorium Haute Provence in Südfrankreich untersuchte die potentielle Leistungsfähigkeit von Gittern im Vergleich zu Prismen bei Sternspektrographen. Bowen vom Palomar Mountain Observatory in Kalifornien/USA untersuchte die Leistungsfähigkeit von Spektrographen von der Lichtstärke her, und Dunham beschäftigte sich eingehend mit der Konzeption von Coudé-Spektrographen, aber auch von Spektrometern mit Hilfe von Fabry-Perot-Systemen.

Aus diesen Untersuchungen, die ich an Hand der verfügbaren Literatur verfolgen konnte, war klar, dass den Gitterspektrographen die Zukunft gehört, weil das Dispersionsvermögen der Gitter dem der Prismen prinzipiell überlegen ist. Ein zweiter Aspekt war die Größe des Dispersionselements. Bowen hatte nämlich herausgefunden, dass es nicht auf die Brennweite der Spektrographenkamera ankam, wenn man einen leistungsfähigen Spektrographen haben will. Entscheidend ist das Öffnungsverhältnis der Spektrographenkamera. Eine bestimmte Dispersion bei optimalen Bedingungen verlangt ein großes Dispersionselement, was die Öffnung betrifft, also einen Kollimator mit großem Durchmesser. Wenn auch ein Drei-Prismen-Spektrograph mit einem Gitterspektrographen mit einem Gitter mit 600 L/mm theoretisch konkurrieren kann, so waren praktische Einschränkungen von Nachteil: Mit zunehmender Größe der Prismen nimmt auch die Absorption im Glas zu, insbesondere zum UV hin, dem interessanten Teil des Spektrums. Es war außerdem schwierig, homogene Glaskörper größerer Dimensionen aufzutreiben.

Im Falle der Prismen für Oslo war eine langwierige Retusche der Flächen notwendig, um die Inhomogenitäten im Glas zu kompensieren. Allerdings gab es auch Argumente für die Prismen. Ein oberflächliches Urteil gab den Prismen mehr Chancen, weil alles Licht in einem Spektrum vereinigt und nicht wie beim Gitter in mehrere Ordnungen aufgeteilt wurde. Allerdings war es bereits gelungen, sogenannte Blaze-Gitter herzustellen, bei denen ein hoher Anteil der Energie in eine vorbestimmte Richtung gelenkt wurde. Etwas ernsthafter war der Einwand, dass es noch keine größeren Gitter gab.

Bei Zeiss gab es Erfahrungen mit der Teilung von Gittern. Bei der Demontage 1946 wurde die Gitterteilmaschine abgebaut einschließlich der Schwingfundamente, und in Leningrad bei GOMS/LOMO wieder aufgebaut. Man beließ es aber nicht dabei, die Maschine in Betrieb zu nehmen. Es wurden mehrere Gitterteilmaschinen für größere Gitter entwickelt und in Betrieb genommen. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Damals gab es in den USA zwei Entwicklungen zur Herstellung größerer Gitter. Eine Maschine arbeitete auf dem Mt.Wilson Observatory in der Nähe von Los Angeles und eine zweite Maschine arbeitete bei Bausch & Lomb in Rochester, N.Y. Es war gelungen, Gitter von 150 x 180 mm² herzustellen, und zwar nicht nur als Originale, sondern auch als Kopien bei Bausch & Lomb. Eine kleine Sensation war Bowen gelungen, als er vier Gitter zu einem Mosaik zusammensetzte und damit den Coudé-Spektrographen des 5-m-Teleskops an die Grenze der Leistungsfähigkeit brachte.

Die Gestaltung und Ausrüstung der Spektrographen des 2-m-Teleskops in Tautenburg waren das Hauptthema, mit dem ich mich auf meiner Reise zu beschäftigen hatte. Die Beteiligung der Astroabteilung von Zeiss an den Generalversammlungen der Internationalen Astronomischen Union hatte sich als sehr nützlich erwiesen. An der Versammlung in Dublin 1955 hatte Dr. Klaus Güssow, freier Mitarbeiter der Astroabteilung, teilgenommen. Die Moskauer Tagung von 1958 ermöglichte einen größeren Einsatz. Aufbauend auf den Erfolgen mit dem Hamburger Schmidt-Spiegelteleskop und dem Tautenburger 2-m-Teleskop wurden in einer Zeiss-Ausstellung neue Ziele abgesteckt. Das Interesse tschechischer Astronomen um Dr. L. Perek Brno/Ondrejov führte zu einem Angebot für ein 2-m-Teleskop klassischen Typs, dessen Modell in Moskau ausgestellt war. Bei dieser Gelegenheit gab es, auch durch Vermittlung der Astronomen der CSR, Kontakte mit Astronomen der Mt.Wilson und Palomar Mt. Sternwarten.

Inzwischen waren mehrere DDR-Astronomen Mitglieder der Internationalen Union geworden. Das Nationale Komitee der IAU unter Leitung von Prof. Lambrecht hatte u.a. die Professoren Wempe, Richter, Hoppe, Hoffmeister und Jäger und auch mich, als Vertreter von Zeiss, nach Berkeley zur Teilnahme an der im August 1961 stattfindenden Konferenz gemeldet.

Diese internationalen Tagungen waren auf der einen Seite eine Wissensbörse, auf der man mit den aktivsten beobachtenden Astronomen zusammenkommen konnte, um Erfahrungen aus erster Hand zu gewinnen. Auf der anderen Seite waren auch bisherige und potentielle Zeiss-Kunden versammelt, bei denen Kundenbetreuung und Werbung für neue Aufträge der Schwerpunkt meiner Aktivitäten waren.

Im Sommer 1961 herrschte eine merkwürdige Atmosphäre in der DDR. Seit dem drohenden Auftritt von Chrustchow während der Tagung der Vereinten Nationen im Jahre 1957 und auch in verspäteten Nachwehen der Ereignisse vom Juni 1953 in Berlin und im Herbst 1956 in Budapest und Warschau braute sich etwas zusammen. Ulbricht behauptete zwar lautstark, dass nicht beabsichtigt sei, eine Mauer zu bauen und die DDR und Ost-Berlin vom Westen abzutrennen.

Ich hatte meinen Visumantrag abgegeben und war im Juli mit meiner Familie nach Neuhaus bei Graal-Müritz in den Urlaub gefahren. Wir hatten glücklicherweise sogar einen sogenannten Intelligenzplatz für eine Dauer von drei Wochen zugebilligt bekommen. Unser Domizil war in einem ehemaligen Kasino unmittelbar hinter den Dünen, also ideal für unsere Jungen, die damals 6 und 4 Jahre alt waren. Die Unterbringung wäre nicht schlecht gewesen, wenn wir nicht Pech mit dem Wetter gehabt hätten. Vor dem Urlaub hatten wir vom Westberliner Sender RIAS gehört, dass täglich ganze Scharen von Menschen über die offenen Sektorengrenzen in den Westen flohen. Im Urlaub blieb mir als einzige Informationsquelle ein kleines japanisches Transistorradio, das ich 1960 in Japan gekauft hatte. Das Taschen-Gerät hatte natürlich keine große Empfindlichkeit und nur Mittelwellenempfang. Ich musste also abends die besseren Empfangsbedingungen ausnützen und einen möglichst hohen Standort suchen. Es war ein kontinuierlicher, täglich zunehmender Strom der Abstimmung mit den Füßen.

Da ich nicht die Absicht hatte, den gleichen Schritt zu tun, beeinflusste dies nicht mein Verhalten. Es gab ohnehin eine zwiespältige Einschätzung der Situation: Eine Antwort auf die Frage, ob man nach „Drüben machen wollte" war, es können doch nicht alle in den Westen fliehen. Wie soll es denn im Osten besser werden, wenn wichtige Personenkreise, wie Ärzte, Krankenschwestern usw. fehlen. Diese Frage tauchte im Sommer 1989 wieder auf, als es möglich wurde, über Ungarn in den Westen zu gehen. Nicht alle, die gingen, konnten irgendwelche Not im wahrsten Sinne des Wortes als ihren Beweggrund angeben. Allerdings lockte der in der BRD entwickelte Wohlstand, und es war sogar für den westdeutschen Staat nützlich, gut ausgebildete Fachkräfte zu bekommen. Ich hatte keine Verwandten im Westen, die mich und meine Familie für eine erste Zeit hätten aufnehmen können. Ich sah auch keine Chancen in einer der Sternwarten, obwohl ich alle Direktoren gut kannte, schließlich war ich inzwischen ein Industrieastronom geworden. Nach Oberkochen wollte ich nicht, außerdem spielte dort die Astrotechnik noch keine große Rolle. Dagegen hatte ich in Jena, auch als parteiloser Wissenschaftler, Anerkennung gefunden. Abgesehen davon, dass meine Mutter und meine Geschwister und auch die Schwiegereltern in der DDR wohnten.

Für mich war also nur die Vorbereitung auf die Reise wichtig, die am 5. August 1961 beginnen sollte. Ein Flug mit der polnischen Fluglinie LOT sollte mich zunächst von Berlin-Schönefeld nach Amsterdam bringen. Schönefeld war noch nicht wie jetzt am S-Bahnnetz angeschlossen. Man fuhr mit einem Zubringer-Bus vom Interflug-Büro am Strausberger Platz zum Flughafen. Diese Fahrt war schon ein Eignungstest, ob man flugtauglich sei. Die Passagiere wurden nämlich mehr als dann später während des Fluges durchgeschüttelt. Eigentlich wurde auch gar nicht in Schönefeld abgefertigt, sondern auf der anderen, im Osten gelegenen Seite des Flugplatzes. Der Flugplatz hieß dort früher Diepensee. Mein Kollege Schöler, Leiter der Bildmessentwicklung bei Zeiss, war während des Krieges bei der Luftwaffe. Er erzählte gelegentlich, als die Rede auf Schönefeld kam, dass er einmal in Schönefeld landen sollte und auch seiner Meinung nach dort gelandet war. Als er sich im Kontrollgebäude meldete, wurde ihm bedeutet, er wäre nicht in Schönefeld, sondern in Diepensee. Schöler war sich aber sicher, dass er den richtigen Flugplatz angeflogen hatte, und war froh, als man den Sachverhalt aufklärte.

Bei dieser wie bei vielen späteren Auslandsreisen machte ich eine Erfahrung, die man zu einer DDR-Auslands-Dienstreise-Formel hätte zusammenfassen können. Sowohl auf dem Hin- wie auf dem Rückweg benötigte man ungefähr die gleiche Zeit, um von Jena nach Berlin mit dem Zug zu fahren, um von Berlin mit einer europäischen Fluglinie zu einem Interkontinentalflughafen und schließlich von dort zu einem Bestimmungsort in Übersee zu kommen. Es gab meistens keine zur Abflugszeit der Maschinen in Schönefeld passenden Züge von Jena nach Berlin. So musste ich im März 1968, als ich über Kairo nach Sydney fliegen sollte, gegen Mitternacht von Jena-Saalbahnhof abfahren, war um 4 Uhr morgens im Flughafen, weil das Flugzeug um 9 Uhr abfliegen sollte. Der nächste Zug wäre erst um 10 Uhr in Schönefeld gewesen. Wegen schlechten Wetters und vielleicht auch technischer Probleme flog die Maschine dann erst gegen 18 Uhr, und ich war um Mitternacht in Kairo.

Das Hauptproblem waren die sogenannten Flugroutenvorschriften. Um Devisen zu sparen, war festgelegt, dass DDR-Dienstreisende soweit wie möglich mit Fluglinien der Länder des RGW fliegen sollten oder mit solchen Fluglinien, mit denen es seitens der DDR besondere Abkommen gab. Zu diesen gehörte auch die niederländische Fluglinie KLM, jedenfalls im Jahre 1961. Das ging so bis zu Beginn der 80er Jahre. So flog ich mehrfach mit der skandinavischen Fluglinie SAS von Kopenhagen nach Montreal. Später musste man über Moskau nach New York oder Montreal fliegen, mit der sowjetischen Fluglinie Aeroflot hätte man sogar bis nach Buenos Aires fliegen können.

Eine Reise mit der KLM oder SAS hatte den Vorteil, dass man ein Flugticket hatte, das man eventuell auch ändern lassen konnte. Ein KLM-Ticket wurde auch von anderen Fluglinien anerkannt. Bei einem Interflug-Ticket war es schon schwieriger, eine Umbuchung vorzunehmen. So war auf einer Dienstreise die große Route schon vorgezeichnet. Im jeweiligen Inland waren die Möglichkeiten zum Wechsel eher gegeben. Allerdings gelten meine Bemerkungen mehr für die damalige Zeit und so lange, wie die DDR noch nicht überall durch Botschaften und Handelsvertretungen etabliert war.

Es war mir nicht bewusst, dass ich mit einer Überwachung zu rechnen hatte, vielleicht gab es damals auch noch keine. Das traf wahrscheinlich ebenso auf die Mitglieder der DDR-Delegation für die IAU-Versammlung zu. Alle waren parteilos, und es gab auch keine erkennbaren Aufpasser. Jeder fuhr für sich und bewegte sich für sich. Es gab keine Meldepflicht, weder im Lande noch irgendwo in einem benachbarten Lande.

Das Büro für Auslandsreisen bei Zeiss leitete Hans Borchers, der dauernd unterwegs war. Entweder musste er Visa-Anträge zu den Konsulaten in Berlin-Ost und -West bringen oder die Pässe mit den erteilten Visa abholen. Das war manchmal eine äußerst knappe Angelegenheit, wenn man den Pass erst kurz vor Abfahrt des Zuges erhielt, was mir mehrmals passierte. Nach meinem Eindruck machte Borchers möglich, was er möglich machen konnte. Er bekam später Schwierigkeiten mit den „Staatsorganen" und verbrachte eine längere Zeit in Haft, bis er als Schwerkranker entlassen wurde und kurz darauf verstarb.

Ich hatte einen guten Kontakt zu Borchers und konnte mir z.B. im Juni 1960 einen Flug über den Nordpol von Amsterdam aus nach Anchorage und weiter nach Tokio „wünschen". Ob er es mir zu Liebe tat, weiß ich nicht, vielleicht hatte er die Freiheit dazu, weil andere Leute ihm noch nicht ins Zeug redeten. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich nie bei ihm mit irgendwelchen Aufmerksamkeiten revanchierte. Er machte seine Arbeit, ich machte meine. Es ist möglich, dass andere Zeiss-Dienstreisende sich anders verhalten haben.

Der Flug von Berlin-Schönefeld ging am frühen Vormittag ab. Die zweimotorige IL 14-Propellermschine kam von Warschau und sollte nach Amsterdam weiterfliegen. Der Flug verlief im Luftkorridor in Richtung Hannover, und man konnte deutlich den Wechsel der Großfelderwirtschaft in der DDR zum „Flickenteppich" der Felder in der BRD beim Überfliegen der DDR/BRD-Grenze erkennen. Gegen Mittag waren wir in Amsterdam, und ich hatte noch etwas Zeit im Transitraum, denn meine KLM-Maschine sollte erst gegen 14 Uhr starten.

Während ich bei meiner ersten USA-Reise im Jahre 1959 mit einer Superconstellation nach New York und im Jahre 1960 mit einer DC 7C nach Japan geflogen war, ging es dieses Mal mit einer Boeing 707 auf den Weg über den Atlantik. Mit einer 707 war ich im Sommer 1960 auf der Rückreise von Japan von Kalkutta aus nach Bombay geflogen mit einer unangenehmen Erfahrung. Die Landung erfolgte mitten in einem Monsunwolkenbruch, dem ersten des Sommers, der so heftig war, dass wir in der Maschine eine halbe Stunde warten mussten, ehe wir sie verlassen konnten.

Mit einer Düsenmaschine wie der Boeing 707 wurde die Flugzeit erheblich vermindert. Bei einem Start gegen 14 Uhr würden wir, bei Berücksichtigung der Zeitdifferenz von 6 Stunden, noch zu einer vernünftigen Zeit auf dem Flughafen Idlewild/New York ankommen. Ich musste bei der Abfertigung in Amsterdam mein USA-Visum vorweisen, sonst hätte man mich nicht befördert. Die USA-Regierung hatte garantiert, dass alle Mitglieder der IAU ungehindert einreisen konnten. In New York gab es keine Probleme beim Immigration Officer. Da ich noch nach der Tagung eine Rundreise durch die USA machen wollte, bat ich um eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Wochen, die mir gewährt wurde.

Ich hatte unserer amerikanischen Vertretung nicht mehr rechtzeitig Bescheid geben können, wann ich in New York eintreffen würde. Eigentlich hätte ich auch direkt nach Kalifornien fliegen können. Da ich aber einen Kreditbrief hatte, der auf eine New Yorker Bank ausgestellt war, machte ich einen Zwischenstop in New York. Ich war mir nicht sicher, ob ich in Los Angeles den Kreditbrief einlösen könnte. So hatte ich vor, dies am Montag zu tun und mich wieder mit Henry Berman von der Firma Ercona, unserer Vertretung, zu treffen.

So lag wieder, wie schon im Mai 1959, ein Wochenende in New York vor mir. Das erste Problem war, in welchem Hotel ich übernachten sollte. Ich erkundigte mich bei der Information am Flugplatz, und man verwies mich auf eine Vermittlung im East Side Airlines Terminal in der 1st Avenue/37th Street. Dorthin fuhr ich mit dem Bus und fragte, eingedenk meiner damaligen Erfahrungen mit dem Hotel „Lexington", nach einem preiswerten Zimmer in der Nähe des Times Square. Zu meiner Überraschung sollte das Zimmer nur 6,50 Dollar kosten. Ich fragte nochmals, ob es sich auch um ein anständiges (decent) Hotel handele, denn für das Zimmer im „Lexington" hatte ich 12,50 Dollar pro Nacht bezahlen müssen. Ich glaubte der jungen Dame von der Vermittlung und fuhr mit dem Taxi zum Hotel, das in einer Seitenstraße etwa in der Höhe der 50th Street lag. Im Prinzip war ich angenehm überrascht, zumindest von dem Zimmer und seiner Ausstattung, denn es gab sogar einen Schwarzweiß-Fernseher entsprechend dem Standard der damaligen Zeit. Ich wohnte im dritten Stock, allerdings ging das Fenster in einen Lichthof mit einem Blick auf die gegenüberliegende Mauer und einen Schornstein. Das machte mir aber nichts aus, auch aus einem Fenster zur Straße hätte ich nicht viel Interessantes gesehen. Es gab auch kein Frühstück im Hotel, aber daran war ich schon gewöhnt. Das nächste Coffee-Shop mit preiswertem Frühstück war gleich um die Ecke.

Ich habe zuerst meinen versäumten Schlaf nachgeholt, denn im Flugzeug kann ich nicht schlafen, auch wenn es diesmal mit dem Düsenflugzeug ruhiger als mit der viermotorigen Superconstellation war. Danach meldete ich mich telefonisch bei Henry Berman, und er schlug vor, dass wir am Sonntag einen Ausflug machen sollten. Er würde ein Auto mieten, und wir könnten etwas weiter wegfahren, wenn ich wollte. Es war ein blauer Ford, für deutsche Verhältnisse ein großes Auto, wenn auch nicht das, was wir damals als Straßenkreuzer bezeichneten. Spaßeshalber setzte ich mich hinter das Steuerrad, fand es aber sehr unbequem, weil ich nicht wusste, wie ich meine langen Beine unterbringen sollte. Ich hatte keinen Führerschein und wurde dadurch auch nicht angeregt, mich um Auto und Führerschein zu bemühen.

Wir fuhren in den nördlichen Teil von Manhattan, allerdings nicht in das Schwarzen-Viertel Harlem sondern in das Gebiet der Washington Heights, einer Ansammlung bekannter Museen. Besonders beeindruckt war ich vom Museum der Hispanic Society of America, schon von weitem durch eine Don-Quichote-Figur erkennbar. Es war ein großes Erlebnis, die Gemälde von Goya und El Greco im Original zu sehen.

In der Vertretung bei der Ercona Corporation besprach ich mit Henry Berman mein Reiseprogramm. Wir buchten einen Transkontinentalflug am Abend nach Los Angeles und ein Zimmer in einem Hotel. Außerdem löste ich meinen Kreditbrief ein und ließ mir für etwa 1000 Dollar Travellercheques der First National Bank of New York ausstellen. Es kostete zwar 1% Gebühren, aber ich war vor Verlust geschützt.

In dem Büro lernte ich auch kennen, wie man in Amerika das Telefon benutzt, um Geschäfte anzubahnen. In Deutschland diente das Telefon im Geschäftsleben der Übermittlung von Nachrichten oder Nachfragen bei Partnern, mit denen man schon schriftlich verkehrt hatte. Das lag im Wesentlichen daran, dass man Ferngespräche beim Fernamt anmelden musste und selbst dringende Gespräche Wartezeiten von Stunden hatten. Henry erzählte mir, dass er von einem Astro-Projekt in Los Angeles gehört hatte und wusste, wie die eventuelle Kontaktperson hieß. Er wählte zunächst die Auskunft, aber nicht die in New York sondern gleich die in Los Angeles, kostenlos. Ich erfuhr, dass das in den USA und auch Kanada so üblich ist, weil die Auskunft vor Ort am ehesten über Neueintragungen oder Änderungen Bescheid wusste. Das war natürlich lange vor der Computerzeit. Nachdem er die Nummer erfahren hatte, konnte er mittels Vorwahl das Ortsnetz Los Angeles erreichen und hatte den Mann am Apparat. Er stellte sich vor und erzählte, dass er von dem Projekt gehört hatte. Es sei gerade ein Vertreter von Zeiss auf dem Weg zum Kongress der Internationalen Astronomischen Union in Berkeley. Bei dieser Gelegenheit würde er gern mit ihm über das Projekt sprechen. Ich hörte natürlich nur die eine Seite und vernahm, dass es sich noch nicht lohnen würde, einen Gesprächstermin auszumachen. Es wurde aber vereinbart, in absehbarer Zeit wieder Kontakt aufzunehmen. Das Gespräch dauerte eine Weile, es war fast eine Plauderei.

Nachdem Henry das Gespräch beendet hatte, fragte ich ihn, ob er wirklich mit dem Mann zum ersten Mal telefoniert habe. Woher sollte der Mann in Los Angeles wissen, ob es sich tatsächlich lohnen würde, weiteren Kontakt zu halten. Henry erklärte mir, das sei ein dauerndes Wechselspiel. Genau wie eine telefonische Anfrage nach einem Produkt oder einer Dienstleistung akzeptiert wird, nimmt man auch ein telefonisches Angebot ernst. Es kommt auf den jeweiligen Gesprächspartner an, ein gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. In der DDR mit den Anmeldungen über das Fernamt und langen Wartezeiten war ein Brief jedenfalls effektiver.

Schließlich telefonierte Henry mit einem Amateurastronomen aus Los Angeles, Allan McClure, der sich für ein großes Astrographenobjektiv vom Sonnefeld-Typ interessierte. Von M. hatte ich schon in der Zeitschrift Sky & Telescope gelesen, er war ein eifriger Beobachter veränderlicher Sterne.

Ich war nicht mit der DDR-Delegation gereist, weil ich vor der eigentlichen Tagung an einem Symposium über Weltraumforschung SAAS 1961 (Space Age Astronomy Symposium) in Pasadena teilnehmen wollte. Das sollte vom 7. bis 10. August stattfinden. Ich hatte mich zwar angemeldet, aber keine Nachricht erhalten, dass meine Teilnahme erwünscht sei. Daher machte ich mir ein eigenes Programm unter Benutzung des Vorprogramms der IAU-Tagung.

In Los Angeles wohnte ich im Biltmore Hotel im Zentrum der Stadt, in dem ich ein sehr schönes Zimmer hatte. Ich war am späten Nachmittag in New York abgeflogen und nach 7 Stunden Flug bei Berücksichtigung der Zeitverschiebung etwa zwei Stunden Ortszeit später angekommen. Die Sonne stand noch hoch am Westhimmel, und ich konnte beim Landeanflug Kalifornien allmählich näher ansehen. Zwei Dinge fielen mir auf: die großen Flächen der Vororte mit den unzählbaren Einfamilienhäusern und die graubraune Farbe der Landschaft. Ich hatte mir eingebildet, in ein grünes Paradies zu kommen, und hatte nicht bedacht, dass ich im Hochsommer ankam, wo alles von der Hitze verbrannt war.

Im Hotel überlegte ich mir, dass ich versuchen könnte, meine Frau anzurufen. Dabei nutzte ich die Zeitdifferenz von 9 Stunden zwischen Los Angeles und Jena aus. Wenn ich abends gegen 22 Uhr anrief, dann wäre es auf der Strecke nach Europa Nacht, also verkehrsschwache Zeit. Ich hatte tatsächlich eine Verbindung innerhalb von 15 Minuten. Meine Frau freute sich natürlich über meinen Anruf, vor allem über die gute Verständigung. Das Gespräch wurde damals noch handvermittelt: Los Angeles ruft New York, New York ruft London via Transatlantikkabel, London ruft Leipzig, Leipzig ruft Fernamt Jena, Fernamt Jena ruft Teilnehmer. „Gnädige Frau, ein Ferngespräch aus Los Angeles, sind Sie sprechbereit?" In Amerika meldet man ein Ferngespräch für einen bestimmten Teilnehmer an. Meine Frau hatte gerade unsere ein Jahr alte Tochter Gabriele versorgt, was ich zeitlich einkalkuliert hatte.

Zwei Ziele hatte ich, das California Institute of Technology in Pasadena und das Mt. Wilson Observatory. In Pasadena war der Geburtsort des 5-m-Teleskops, dessen Spiegel auch dort gefertigt worden war. Das Teleskop auf dem Palomar Mountain wollte ich auch besichtigen. Ich kam mit Spezialisten ins Gespräch, die an dem 5-m-Projekt mitgearbeitet hatte. Ich bedauerte es, dass nicht mein Kollege Alfred Jensch zu einem Erfahrungsaustausch dabei war. Viele Prinzipien des 5-m-Teleskops hatte er in die Konstruktion des 2-m-Teleskops einfließen lassen, so z.B. die Öldrucklagerung und die Methodik der Biegungskompensation. Mein Hauptthema, die Gitterspektrographen, musste ich mit den Astronomen besprechen.

Das California Institute of Technology war die Keimzelle für das 5-m-Projekt, das von G. E. Hale Ende der 20er Jahre initiiert worden war. Mit dem 5-m-Teleskop wurde eine neue Ära im Teleskopbau begonnen. Die bis dahin gebauten Teleskope übernahmen in hohem Maße die Erfahrungen der Konstrukteure der früheren Teleskope, wenn auch für größere Abmessungen. Beim 5-m-Teleskop wäre das z.B. schon für den Hauptspiegel nicht möglich gewesen. Die thermischen Probleme zwangen zur Entwicklung und Anwendung eines neuen Spiegelmaterials, Pyrex, mit niedrigerem Ausdehnungskoeffizienten. Thermische und Lagerungsprobleme zwangen zu einem Wabenspiegel, mit dessen Prinzip sich schon Ritchey beschäftigt hatte. Im California Institute of Technology wurden die Entwürfe für das Teleskop ausgearbeitet und an die Schwermaschinen- und Werftindustrie zur Realisierung übergeben. Die Fertigung des 5-m-Spiegels erfolgte in Pasadena, die Feinstretusche nach Sterntests auf dem Palomar Mountain. Dieser amerikanische Stil der Entwicklung und Fertigung von Großteleskopen wurde, vermutlich von O. Heckmann beeinflusst, von der ESO übernommen.

Auf der Rückfahrt von Pasadena kam ich an einem Friedhof vorbei, in dessen Nähe ich ein großes Schild sah mit der Werbung eines Bestattungsinstituts: „Die now, pay later!" „Stirb jetzt und bezahle später!" Es gab auch makaber-ironische Warnungen vor Verkehrsunfällen: „Drive carefully! Death is permanent!" Man lebt nur kurz, der Tod dauert an!

Die Busfahrt zum Mt. Wilson Observatorium war sehr abenteuerlich. Die Straße stieg in Serpentinen an und machte dem Bus offenbar einige Mühe, den Höhenunterschied zu überwinden. Ich saß hinten auf der Rückbank, um Platz für meine langen Beine zu haben. Etwa auf halber Höhe hielt der Bus und wurde herum manövriert, um zu seinem Ausgangsort zurückzukehren. Wir konnten aber nicht zu einer Wendeschleife oder  Erweiterung der Straße kommen. Der Busfahrer wendete also auf der Stelle, wo auf der linken Seite der Felsen steil anstieg und auf der rechten Seite ebenso steil abfiel. Die einzige Sicherung auf der rechten Seite war eine Erhöhung, etwa wie ein Bordstein, die eigentlich nur eine moralische Sicherung war. Als der Bus zurückstieß, sollten und mussten die hinteren Räder bis zu diesem Bordstein zurück rollen. Das wusste der Busfahrer, aber ich saß etwa 2 m hinter der hinteren Radachse und konnte in den Abgrund blicken, mit gemischten Gefühlen! Übrigens hatten die Busse, die für die Teilnehmer der IAU-Tagung gemietet waren, eine Pechsträhne: der Heckmotor eines Busses geriet auf einer Besichtigungsfahrt in Brand, ein dritter hatte, mitten in einer sehr schwierigen Haarnadelkurve, einen Achsenbruch. Es ging aber alles gut aus. Eigentlich ein schlechtes Zeichen für den hochgerühmten Stand der Technik in den USA. Zwei Jahre später konnte ich diese Erlebnisse abmildernd zum Besten geben, als ich mit einem Berliner Taxi mit dem Direktor des Observatoriums La Plata, Jorge Sahade, nach Jena fuhr. Unser Pech waren ein gerissener Keilriemen und die Tücken einer EMW-Limousine. Trotz eines Ersatzriemens gelang es auch nicht mit der Hilfe eines Fernfahrers, den Ersatzriemen zu montieren. So mussten wir im „Schleichgang" nach Jena fahren. Immerhin wollte Sahade, den ich in Holland abgeholt hatte, ein 2-m-Teleskop kaufen. Er nahm das Missgeschick gelassen hin und ergänzte es mit eigenen ähnlichen Erfahrungen aus den USA.

Das 2,5-m-Teleskop, auch Hooker-Teleskop nach seinem Stifter benannt, war das erste moderne Riesenteleskop in den USA, dessen Optik von Prof. Ritchey nach von ihm entwickelten Fertigungs- und Prüfverfahren hergestellt worden war. Diese Verfahren wurden von allen Herstellern von Astro-Großoptik übernommen, auch die Optik des Tautenburger Teleskops war so entstanden. Bedeutende Astronomen hatten epochemachende Beobachtungen angestellt. Mit Hubble begann die Erforschung des Raumes außerhalb unserer Milchstraße. Aus den Rotverschiebungen konnte Hubble die Entfernungen ableiten. Der deutsche Astronom Baade konnte während des 2. Weltkrieges als quasi Internierter ungestört, unter Ausnutzung der Verdunklung der Westküste, mit neuen Fotoemulsionen diskrete Objekte im Andromeda-Nebel entdecken. Damit erhielten die Astronomen einen weitreichenden Maßstab für die Entfernungen im Kosmos.

Das 2,5-m-Teleskop entsprach den Konstruktionsprinzipien seiner Entstehungszeit. Von der Firma Warner & Swasey in Cleveland, Ohio gefertigt, gehörte es technisch gesehen zur Familie der großen Refraktoren für die Lick und Yerkes Sternwarten. Es bestand aus Elementen des Schwermaschinenbaus. Die größten Probleme machte die Temperaturempfindlichkeit des Hauptpiegels, als man langbelichtete Aufnahmen machte, um zu möglichst schwachen Sternen vorzustoßen. Es gehörte viel beobachterisches Geschick dazu, die Eigenschaften des Teleskops zu erkennen und zu beherrschen.

Bei der Exkursion zum Mt.Wilson traf ich Dr. Richter, den Leiter des Karl-Schwarzschild-Observatoriums der AdW der DDR in Tautenburg, der sich in Kalifornien mit seiner Tochter verabredet hatte. Sie lebte in Westdeutschland und erzählte bei unserem Treffen in der Nähe der Sonnentürme des Mt. Wilson, dass sie vor kurzem den Kilimandscharo bestiegen hatte. Richter war erst seit Oktober 1960 in Tautenburg, vorher in Sonneberg. Bei meiner Tätigkeit als Hilfsrechner im Winter 1948/49 in Sonneberg hatte ich ihn kennengelernt. Sein Spezialgebiet war die Kometenforschung, und er hatte mit seiner Frau die Sahara bereist. Die Sonnentürme des Mt. Wilson und ihre technische Ausrüstung kannte ich aus dem Buch von Rolf Riekher „Fernrohre und ihre Meister" und aus dem dreibändigen Sammelwerk „Amateur Telescope Making", in dem das von G. Hale entwickelte Spektrohelioskop beschrieben war, für lange Zeit das Hauptwerkzeug der Sonnenforscher. Das Thema Sonnenforschung und Sonnenturm stand erst später auf meiner Tagesordnung.

Zum Ende der Vorwoche erfuhr ich dann, dass ich offiziell in der Teilnehmerliste der SAAS 1961 war, aber da war das Symposium schon vorbei. Ich traf einen Deutschamerikaner, der mit Wernher von Braun nach den USA gekommen war. Wieder wurde ich so freundlich behandelt, wie ich es schon von meiner Reise her kannte, und eingeladen, ihn doch zu besuchen, wenn ich wieder einmal in der Gegend wäre. Das erlebt jeder Amerikareisende, wenn er auf einer Party oder sonst einem Treffen etwas näher mit den verschiedensten Leuten zusammenkommt. Man muss sich aber hüten, unangemeldet der Aufforderung zu einem Besuch zu folgen. Es ist so wie mit der Frage, die früher üblich war „How do You do?" Kein Mensch will wirklich wissen, wie es dir geht. Wenn es dann doch eine Antwort gibt, so reicht die von „Fine", „Great", „Super" bis „Excellent", auch wenn das Gegenteil der Fall ist.

Ich verbrachte noch den Sonntag, den 13. August 1961, ohne zu ahnen, was sich in Berlin ereignete. Die Berichte im Fernsehen waren für mich unverständlich. Am ehesten wurde ich noch an den 17. Juni 1953 erinnert, und ich war froh, dass meine Frau mit den Kindern ihre Eltern in ihrem kleinen Dorf in der Nähe von Mühlhausen für einige Zeit besuchen wollte. Daher konnte ich sie auch nicht anrufen und musste abwarten, wie sich die Lage entwickeln würde.

Der Flug von Los Angeles nach San Francisco ging über eine Strecke von 1000 km und dauerte etwa eine reichliche Stunde. Schon auf dem Flugplatz wurden wir von Vertretern des örtlichen Organisationskomitees in Empfang genommen. Es sammelte sich eine Gruppe aus aller Herren Länder, und ich lauschte den Gesprächen, um herauszufinden, woher meine Kolleginnen und Kollegen kamen. Ein quirliger Mann mittleren Alters fiel mir auf, als ich ihn sprechen hörte. Es war Englisch, aber was für ein Englisch, das reinste Cockney-Englisch, das auch durch das Musical „My Fair Lady" bekannt geworden war. Dort soll das Blumenmädchen Eliza ordentlich sprechen lernen, und der Kernsatz ist: „The rain in Spain stays mainly in the plain", im Cockney wird aus jedem „ai" ein deutsches „ei". Schließlich fand ich heraus, dass es sich um einen australischen Astronomen handelte. Er gehörte zu der Gruppe seiner Landsleute, die getreu die Sprache ihrer Vorfahren bewahrte, die als Sträflinge nach Australien gekommen waren. Die meisten stammten aus den niederen Ständen Londons, die das Cockney sprachen.

In einem Bus fuhren wir durch San Francisco auf die Bay Bridge, die eine Länge von 12 Kilometern hat, und kamen in Berkeley, der Universitätsstadt an. Die meisten Teilnehmer der Konferenz waren in Studentenwohnungen, in den sogenannten „dormitories", untergebracht. Ich teilte ein hübsches Zimmer mit einem bekannten englischen Astronomen, dessen Spezialgebiet theoretische Astrophysik war. Mehrere Dormitories bildeten einen Komplex, in dessen Mitte eine Mensa war, in der wir auch verpflegt wurden. Eine freundliche Geste der Gastgeber war eine Schale mit kalifornischen Früchten, Orangen, Pfirsiche, kirschrote Heidelbeeren und eine Frucht, die ich nicht kannte und dann später als Nektarine identifizierte. Das Zimmer war modern möbliert, fast luxuriös für Studenten, und hatte den Charakter eines neutralen Gästezimmers. Zu meiner Beruhigung gab es im Keller Waschmaschinen und sogar Wäschetrockner, also keine Sorge um saubere Wäsche wie 1959 bei meiner ersten USA-Reise, als ich im Hotel mehrere Tage auf die gewaschene Wäsche warten musste.

Alle Veranstaltungen fanden auf dem Campus statt, dem Universitätsgelände in verschiedenen Hörsälen und Seminarräumen. Im großen Auditorium versammelten sich rund 1000 Astronomen zur offiziellen Eröffnung mit den zahlreichen Begrüßungsreden. Dort traf ich auch die DDR-Delegation und zahlreiche andere deutsche und ausländische Astronomen, die ich während meiner Tätigkeit bereits kennengelernt hatte. Der Schwerpunkt meines Interesses waren die Sitzungen der Kommission 9 „Instruments", auf denen eine Sitzung auch der Thematik der modernen Spektrographen gewidmet war. Sehr aktiv in dieser Kommission war Prof. O. Heckmann, vormaliger Direktor der Sternwarte Hamburg-Bergedorf und inzwischen Generaldirektor der ESO. H. hatte ich im Zusammenhang mit dem Großen Hamburger Schmidt-Spiegelteleskop kennengelernt, dessen Tubus mit Optik von Carl Zeiss Jena gefertigt worden war, die Montierung von der Hamburger Firma Heydenreich & Harbeck. Nun war Heckmann dabei, für das in Chile geplante Observatorium der Europäischen Südsternwarte (ESO) ein 3-m-Teleskop zu realisieren, als ein Gemeinschaftsprojekt europäischer Staaten.

Zeiss Jena und auch Oberkochen hatten keine Chancen. Das von den Mitgliedsstaaten eingebrachte Geld sollte möglichst in diesen Staaten wieder zu Aufträgen führen, also kaum Aussicht für uns, abgesehen von einigen Zubehörgeräten. Oberkochen hatte noch keine Fertigungsmöglichkeiten für Astrogroßgeräte. Allerdings hatte Heckmann guten Kontakt zu dem aus Jena stammenden und in Oberkochen tätigen theoretischen Optiker Dr. Köhler, der verschiedene Optiksysteme für das 3-m-Teleskop berechnet hatte.

Ich hatte geglaubt, aus den Vorträgen in der Kommission 9 das lernen zu können, was ich wissen wollte. Aber die Vortragenden hatten nur wenig Redezeit und z.T. eine schlechte Rededisziplin. Ich war ziemlich überrascht, wenn der Redner in epischer Breite seine Thematik vortrug und zum Ende der Redezeit mitten in seinen Ausführungen unterbrochen wurde. Und das, ohne seine Pointe vorgetragen zu haben. Am meisten war ich dann verwundert, als eine rege Diskussion einsetzte, auch zu Teilthemen, die überhaupt nicht diskutiert worden waren. Das geschah nicht nur bei einem Vortrag, es schien also eine gewisse Systematik zu bestehen. Ich wurde dann von Kollegen aufgeklärt: Viele Wissenschaftler erhalten nur dann eine Reisegenehmigung mit Spesen, wenn sie einen Vortrag anmelden und halten. In einem Bericht müssen sie die Diskussion zitieren, die den Erfolg des Vortrags belegt.

Aus der Sitzung über moderne Spektrographen konnte ich entnehmen, dass ich mit einer gewissen Illusion nach Amerika gereist war. Ich hatte gedacht, die amerikanischen Astronomen wären durch den leichten Erfahrungsaustausch zu einer Ideallösung für einen modernen Spektrographen gekommen. Bowen war für mich der Experte par excellence, vor allem sein Mosaikgitter bei Coudéspektrographen des 5-m-Teleskops war eine Spitzenleistung. Ich unterhielt mich mit ihm darüber, und er schilderte mir, dass es nur durch Verbiegung der Fassung möglich wäre, die vier Gitter zueinander zu justieren. Das wäre zwar ein komplizierter Prozess, den er selbst in Monatsabständen kontrolliere. Jeder Beobachter sei verpflichtet, vor jeder Beobachtung den Justierzustand zu kontrollieren und zu protokollieren. Als ich dann auf dem Palomar Mountain beim 5-m-Teleskop war und mit Beobachtern sprach, wurde mir hinter vorgehaltener Hand gestanden, dass es im Laufe des Monats verständlicherweise zu einer Dejustierung kommt, die aber meist erst Bowen bei seiner Kontrolle entdeckt. In der Zwischenzeit hatte man trotzdem mit Erfolg Spektrogramme erhalten.

Zurück zur Kommissionssitzung. Ein Thema war, welche Anordnung der Baugruppen des Spektrographen am günstigsten sei. Es gab grundsätzlich drei Möglichkeiten nach der Anordnung des Kollimators: in der Ebene der Polhöhe, vertikal oder horizontal. In Kalifornien hatte man die erste Variante gewählt, weil man dort eine niedrige geographische Breite hat und aus der Polachse direkt auf den Kollimator kommt. In den beiden anderen Fällen benötigt man einen Umlenkspiegel und verliert dabei etwa 10 % Licht.

Für Tautenburg hatte es noch keine Entscheidung gegeben, ob horizontal oder vertikal. Das lag auch daran, dass es nicht gelungen war, einen in der Astrospektroskopie erfahrenen Direktor für das Observatorium zu gewinnen. Die Tendenz ging aber zu einer horizontalen Anordnung aus verschiedenen Gründen: bei einer vertikalen Anordnung war die Konzeption praktisch eingefroren. Die stabile Anordnung der Baugruppen des Spektrographen verlangte feste Fundamente. Bei einer Weiterentwicklung der Spektrographentechnik musste man mit Einschränkungen oder größeren Umbauten rechnen. Die vertikale Anordnung schien Vorteile zu haben in Bezug auf das Mikroklima. Die horizontale Anordnung war dagegen flexibel, man hatte ein gemeinsames Fundament, auf dem man wie im Physikhörsaal die Baugruppen variabel anordnen kann. Was das Mikroklima betraf, so gab es eine beruhigende Erfahrung vom Einsteinturm Potsdam, wo der Spektrographenraum ebenfalls horizontal angeordnet war. Durch die langen Brennweiten des Kollimators und der Kamera wurde eine sehr hohe Auflösung der Spektren erzielt. In diesem Spektrographenraum war eines Tages ein Transformator durchgebrannt und hatte den Raum in Rauchschwaden gehüllt. Das geschah während einer Beobachtungsreihe, aber auf den Spektren merkte man keinen Unterschied.

Ich wollte es nicht bei der Diskussion belassen, sondern mir erst nach Besichtigung der größten Teleskope und deren Spektrographen eine Meinung bilden. So besuchte ich noch das Lick Observatory südlich von San Francisco mit dem 3-m-Teleskop, das neu erbaute Kitt Peak Observatory in Arizona mit dem 2,10-m-Teleskop und das McDonald Observatory in Texas mit dem 2,08-m-Teleskop. Diese Besuche werde ich später schildern. Das Ergebnis meiner Studien und der Diskussionen möchte ich aber schon jetzt darlegen: Es gab in den USA keine optimale Spektrographenkonstruktion, die wir in Jena hätten nachempfinden können. Jedes Observatorium stellte seine Lösung als die Beste vor, und jedes Observatorium hatte mit seinen Spektrographen gute Ergebnisse erzielt. Allerdings war den Astronomen die Beobachtungszeit zu schade, einen direkten Vergleich durch die Beobachtung gleicher Objekte unter gleichen Bedingungen anzustellen. Diese Scheu vor einem direkten Vergleich findet man immer wieder auch auf anderen Gebieten der Technik. So war meine Empfehlung für Tautenburg, die später auch für die anderen Teleskope übernommen wurde, die horizontale Anordnung zu wählen. In der Raumkonzeption wurden sogar zwei Coudéräume, symmetrisch zu beiden Seiten der Polachse gelegen, vorgesehen, um für künftige Entwicklungen mit größeren Gittern und entsprechenden Kollimatoren vorbereitet zu sein.

Während der Tagung gab es intensive Gespräche mit der tschechischen Delegation und deren Partner in den USA über die Konzeption des geplanten 2-m-Teleskops für die Sternwarte Ondrejov. Der Auftrag war bereits erteilt, und es sollte ein konventionelles Cassegrain-Coudé-Teleskop auf einer Englischen Montierung werden, wie es im Katalog Astro 60 dargestellt ist. Das bedeutete zwar, dass von der Konstruktion des Tautenburger 2-m-Teleskops nur wenig übernommen werden konnte, abgesehen von den Erfahrungen. Da aber gleichzeitig auch ein Auftrag für ein neues Observatorium in Aserbaidshan erteilt worden war, lohnte sich die Weiterentwicklung. Die Englische Montierung sollte auch noch bessere Chancen für Observatorien in niederen geographischen Breiten bringen, zudem ließ sie sich leichter verschiedenen Standorten anpassen.

Am Sonntag waren Ausflüge vorgesehen und es stand den Teilnehmern frei, wofür sie sich entscheiden wollten. Eine Tour bot einen Badespaß am Strand des Pazifiks, eine führte zu einem Nationalpark und eine dritte ins Napa Valley, dem Weinbaugebiet Kaliforniens. Die meisten deutschen Astronomen entschieden sich für Napa Valley, wohl auch, weil eine Weinprobe mit auf dem Programm stand. Auch ich entschied mich dafür des Weines wegen. Es war ein schöner sonniger Sonntag, wie überhaupt das Wetter nichts zu wünschen übrig ließ. Wir waren durch die Tagungsinformationen gewarnt worden, dass man auch im Sommer in San Francisco nicht sicher ist, ob es warmes Wetter gibt. Vor der Küste fließt vom Norden ein kalter Meeresstrom, und an manchen Tagen ist es bis gegen 10 Uhr trübe und kalt und kann auch so den ganzen Tag bleiben. Küstenbewohner kennen das Wechselspiel zwischen See- und Landwind. An diesem Sonntag war es keine Frage, es wurde sogar sehr warm. Wir machten zuerst in einem kleinen Ort eine Rast, wo eine Plantage der auch in der DDR bekannten Marke „Sunkist"-Zitronen lag. Wenn man aber erwartet hätte, dort grüne Bäume zu sehen, dann hatte man sich geirrt. Die Blätter waren mit Staub bedeckt und auch die Früchte. Die Plantage war sehr sparsam bewässert, es flossen nur kleine Rinnsale zu den einzelnen Bäumen. Das Wasser kam aus mehreren hundert Kilometer Entfernung und war zu kostbar, um damit die Blätter für die Touristen zu waschen.

Als wir dann in das Napa Valley kamen, erlebte ich eine Enttäuschung. Ein Weinanbaugebiet in Verbindung mit dem Wort Tal weckt die Vorstellung des Rheintals und der Täler der Nebenflüsse mit mehr oder weniger steilen Weinbergen. Im Napa Valley kamen wir in ein Weingut, das in einer Ebene lag und von einer riesigen Fläche von Weinfeldern umgeben war. Die Weinstöcke waren sehr viel höher als in Europa. Die Reihen standen in einem solchen Abstand, dass man mit Lastwagen in den Gassen fahren konnte. Also industriemäßige Fertigung! Wie würde der Wein schmecken?

Der Besuch des Weingutes war gut vorbereitet. Auf einer großen Wiese waren Tische und Bänke aufgebaut, wo wir es uns gemütlich machten. Als Appetitanregung gab es verschiedene Käsesorten und eine Auswahl von Sherry-Weinen, nicht gerade das richtige für wirklich durstige Seelen. Unsere Gastgeber waren sehr verwundert, als wir mehr nach Mineralwasser verlangten als nach Wein. Es war aber so heiß, dass wir auf den reinen Weingenuss verzichteten. Ein armenisches Restaurant tafelte dann noch eine Reihe von Leckereien auf, wie z.B. mit Reis gefüllte Weinblätter und natürlich Shish-Kebab, also Schaschlik für uns. Mit von der Partie waren auch bekannte Astronomen aus der UdSSR, wie z.B. die als Miss Kosmos bekannte Alla Masseiwitch vom Astrosowjet Moskau.

Da jeder Teilnehmer des Ausflugs seine „Erkennungsmarke" trug, war es auch möglich, in der aufgelockerten Stimmung Bekanntschaften zu machen. So besprach ich mit dem Direktor des McDonald Observatoriums Harlan Smith, wie ich nach der Tagung zu der Sternwarte in der Nähe von El Paso käme. El Paso hatte ich mir als Stützpunkt ausgesucht, denn ich wollte von dort aus auch zum Sacramento Peak in New Mexico. Smith erklärte mir, dass es zwei Möglichkeiten gäbe: mit der Bahn oder mit dem Bus. Wenn ich mit der Bahn käme, müsste ich aber dem Schaffner Bescheid sagen, dass ich an der kleinen Station aussteigen wolle. Mit dem Bus wäre es einfacher, der Greyhound-Bus hielte planmäßig vor einem Supermarkt, der in der Nähe des Haltepunktes der Bahn lag. Er gab mir seine Telefonnummer, und wir verabredeten, dass ich von der Telefonzelle an dem Supermarkt im Observatorium anrufen sollte. Dann würde man mich abholen, das Observatorium läge etwa 15 km entfernt.

Für den Besuch des Sacramento Peak Observatoriums sollte ich, so vereinbarte ich mit dem Direktor Dunn, von El Paso mit dem Bus nach Albuquerque fahren. Dort würde mich ein Auto erwarten und ins Gebirge auf mehr als 2000 m Höhe bringen. Für den Besuch der Kitt Peak Sternwarte wollte ich mich in Tucson im Steward Observatory melden, von wo ich dann weitergeleitet würde. Das Lick Observatory besuchte ich mit einer Bustour der IAU, und es war vereinbart, dass ich über Nacht bleiben könnte. Dann gab es noch einen Besuch in Nashville, Tennessee, wo ich ein Schmidtteleskop besichtigen wollte. Schließlich stand noch ein Besuch in Cleveland, Ohio, auf meinem Programm, ebenfalls wegen eines Schmidtteleskops. Einen Abstecher strich ich von meinem Programm, was vielleicht ein großer Fehler war. Ich hatte noch die Sternwarte Flagstaff besuchen wollen, mehr aus persönlichem Interesse. Dort war 1930 der Planet Pluto entdeckt worden. Man kam aber dorthin nur mit einer kleinen Fluglinie und nicht an einem Tag hin und zurück. Die beiden Tage fehlten mir in meiner Reiseplanung, obwohl mich niemand zwang oder hätte zwingen können, an einem bestimmten Tag wieder zu Hause zu sein. Hinterher erfuhr ich, dass die Flugzeuge einer kleinen Fluglinie einen solchen Kurs fliegen, dass man über dem Grand Canyon eine gute Aussicht auf dieses Naturwunder habe. Schade!

Natürlich machte ich auch einen Ausflug nach San Francisco und fuhr mit dem Cabelcar, der Straßenbahn, die aus vielen Filmen über San Francisco bekannt ist. Auch die Golden Gate Bridge sah ich mir von der Nähe an, und dann warf ich einen Blick auf die berüchtigte Insel Alcatraz mit dem fast ausbruchssicheren Gefängnis. Man konnte Ansichtspostkarten von der Insel kaufen mit der Aufschrift: „Wish You were here!" Eigentlich wollten wir eine solche Karte an eine hochgestellte Persönlichkeit schicken, dann ließen wir es aber. Bemerkenswert an San Francisco ist der Russian Hill, der an die Zeit erinnert, da Alaska noch russischer Besitz war und viele Russen in San Francisco lebten.

Ich hatte schon erwähnt, dass die Teilnehmer der Konferenz auf dem Campus in Studentenwohnheimen untergebracht waren. In der Mensa hatten wir Vollverpflegung gegen eine mäßige Bezahlung. Wir lebten wie im Schlaraffenland, denn es gab keine Bons für die verschiedenen Mahlzeiten. An der Selbstbedienungstheke stand alles frei zur Verfügung. Getränke waren an separaten Tischen bereitgestellt, Kaffee, Tee und Milch. Zu meiner Überraschung gab es eine gute Nachfrage nach Skimmed Milk, zu Deutsch Magermilch! Wie kann man nur Magermilch trinken? Wenn man Diät halten will, ja, aber das stand damals noch nicht auf dem Programm des DDR-Bürgers.

Dann kam noch der Ausflug zum Lick Observatory mit dem von der IAU gecharterten Bus. Man fährt bis San José, südlich von San Francisco, und dann über eine Serpentinenstraße zum Observatorium auf den Mt. Hamilton. Die Windungen der Straße sind sehr eng, es gibt mehrere Haarnadelkurven. Ursprünglich sei die Straße ein Maultierpfad gewesen. Drei Teleskope auf dem Mt. Hamilton sind bemerkenswert. Nach dem Willen des Stifters J. Lick sollte das größte Fernrohr der Welt gebaut werden, und es wurde ein 900-mm-Refraktor, der im Jahre 1888 fertiggestellt wurde. Der Crossley-Reflektor ist ebenfalls ein „Veteran", denn er wurde schon 1895 im Lick Observatorium in Betrieb genommen. Mit dem Crossley-Reflektor wurden Pionierleistungen auf dem Gebiet der Himmelsfotografie vollbracht, die dann den Anstoß zum Bau noch größerer Spiegelteleskope, wie dem 1,5-m- und dem 2,5-m-Spiegel gaben. Das neueste Teleskop, 1959 fertiggestellt, war der 3-m-Spiegel, seinerzeit das zweitgrößte Teleskop der Welt. Die Gitterrohrmontierung war in einer schlanken Gabelmontierung gelagert, es gab neben dem Primärfokus nur einen Coudéfokus. Der Primärfokus spielte damals noch eine große Rolle, auch später bei der Konzeption des 3-m-ESO-Teleskopes. Auf diesen Punkt möchte ich beim Besuch des 5-m-Spiegels noch einmal zurückkommen.

Ich nahm an der organisierten Führung teil und konnte dann ein Zimmer im Gästebereich des Observatoriums beziehen. Auf dem 1280 m hohen Mt. Hamilton gibt es keine Wohnungen der Astronomen, nur ein „Dormitory" für die Beobachter. Die Zentrale des Observatoriums befindet sich auf dem Campus der Universität von Kalifornien in Santa Cruz.

Mein besonderes Interesse galt dem Coudéspektrographen, bei dem es eine interessante Variante für die Lagerung der Baugruppen gab, die nämlich an Schienen hingen, die an der Decke des Coudéraumes befestigt waren. Wieder gab es eine Bemerkung, dass diese Lösung die Beste sei, u.a. weil man sich im Coudéraum frei bewegen konnte. Am Abend fuhren wir mit dem Auto von einer Kuppel zur anderen, zu Fuß gehen war nicht amerikanische Art, abgesehen von den Klapperschlangen, die es im Gelände geben sollte.

Am nächsten Tag, so war verabredet, sollte ich mit einem Beobachter nach San José fahren. Von dort könnte ich mit dem Linienbus wieder nach San Francisco kommen. Unser Gefährt war ein Volkswagen-Käfer, und sein Fahrer schien es eilig zu haben. Ich dachte an die Haarnadelkurven und fragte nach einer Weile, ob er auch einen Fallschirm mit an Bord habe. Er lachte und erzählte, dass er jede Kurve wie seine Westentasche kenne. Er fügte noch eine Geschichte hinzu: Vor einiger Zeit sei ein junger Astronom zu einem längeren Aufenthalt in das Observatorium gekommen, der noch nicht Auto fahren konnte. Er war gezwungen, es zu üben, und sei nach einiger Zeit auch auf der Bergstrecke recht gut zu recht gekommen. Als er aber dann eines Tages nach San José gefahren sei, habe er entnervt über den Stadtverkehr das Auto am Straßenrand stehen gelassen. Abgesehen von etwas Herzklopfen kam ich heil in San José an und buchte in San Francisco einen Flug nach Los Angeles für den nächsten Tag.

Ein Besuch des Planetariums von San Francisco war noch vorgesehen. Den Direktor des Planetariums, Charles Hagar, hatte ich im Mai 1959 in New York während der ersten internationalen Konferenz der Planetariumsdirektoren kennengelernt. Das Planetarium liegt im Golden Gate Park, nicht weit von der Pazifikküste entfernt. Das Gerät kannte ich bereits aus Veröffentlichungen, aber ich wollte es direkt in Augenschein nehmen. Es war ein Eigenbau, der während des Krieges begonnen worden war. Ähnlich wie beim Bostoner Korkosz-Planetarium und einigen chinesischen und japanischen Nachbau-Planetarien hatte man die sogenannten Planetenkäfige nach außen verlagert, die Fixsternkugel lag also dem Zentrum näher, und man hatte nahezu eine zentrale Projektion. Die Sternplatten wurden übrigens nicht in Folien gestochen. Man suchte sich Sandkörner verschiedener Durchmesser, legte sie an die vorgesehenen Stellen einer Glasplatte und bedampfte diese mit Aluminium. Nachdem die Sandkörner weggewischt waren, hatte man die „Sternenlöcher", sogar mit einem gezackten Rand. Für die Planetenbewegung hatten die Erbauer des Planetariums große Mühen aufgebracht, um durch elliptische Zahnräder die Genauigkeit der Darstellung so hoch wie möglich zu treiben. Charles Hagar war ein freundlicher Gastgeber. Wir gingen anschließend noch zu einer Gartenschau, an deren Gelingen seine Mutter beteiligt war, und die ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte.

Der Flug nach Los Angeles war trotz der knapp 1000 km Entfernung wieder ein „Local Flight", fast wie im Bus. Ich wohnte wieder im Hotel Biltmore.

Die Exkursion zum Palomar Mountain vereinte wieder eine Gruppe von IAU-Mitgliedern, und die Fahrt ging über Long Beach und Santa Anna auf den 1700 m hohen Berg. Das Observatorium hat ein Besucherzentrum, wie die meisten Observatorien es haben. Ebenso gibt es Besuchergalerien, von denen aus die Neugierigen ihre Blicke werfen können, ohne das Mikroklima in der Kuppel und die Mitarbeiter zu stören. Über 100.000 Besucher sollen es pro Jahr sein.

Wir konnten aber direkt an die Objekte heran und waren außerordentlich beeindruckt. Der Kuppelraum war eine riesige Fläche, 42 m Durchmesser ergaben rund 1400 m², also auch genügend Platz für eine Verspiegelungsanlage. Dann das riesige Hufeisen mit einem Durchmesser von x Metern und die Gitterrohrmontierung, ausgeführt nach dem Serrurier-Prinzip, um auch bei unterschiedlichen Neigungswinkeln die Kollimation von Haupt- und Gegenspiegel zu bewahren. Ich konnte einen Diasatz kaufen, mit dem ich dann noch in aller Ruhe die einzelnen Baugruppen studieren konnte.

Der Primärfokus des 5-m-Teleskops ist mit einer Kabine ausgestattet, in der ein Beobachter sitzen und von dort die Beobachtung überwachen kann. Eine Hauptaufgabe war die Fotografie von Einzelobjekten und die anschließende Spektroskopie. Das Bildfeld im Primärfokus war selbst mit einem von Ross berechneten Korrektionssystem sehr klein. Deswegen benötigte das Observatorium noch eine leistungsfähige Durchmusterungskamera, das Big Schmidt Teleskop, auf das ich noch zurückkommen werde. Auch zur Primärfokuskabine gab es eine Geschichte. Hin und wieder musste umgebaut werden. Da passierte es: einem der Gastbeobachter glitt der Schraubenzieher aus der Hand und fiel in Richtung Hauptspiegel, der allerdings durch die Spiegelklappen geschützt war. Offensichtlich war nichts Schlimmes geschehen, und so berichtete der Beobachter dem leitenden Techniker sein Missgeschick. Man suchte nach dem Schraubenzieher und fand drei Stück!

Der Primärfokus hatte noch eine besondere Bedeutung bekommen. Es ging um die Identifizierung von Radioquellen. In der damaligen Zeit reichte die Genauigkeit der Radioteleskope noch nicht aus, um eine gezielte Suche vornehmen zu können. Man wusste auch noch nicht, welche Objekte als Radioquellen in Frage kamen. So begann die Entwicklung von Ritchey-Chretien-Teleskopen, bei denen man im Primärfokus ein Gesichtsfeld von 1 Grad Durchmesser erreichen konnte. Allerdings wirkte hier das Parkinsonsche Prinzip. Zur gleichen Zeit, da die neuen Teleskope eingesetzt werden konnten, hatte man mittels der Radiointerferometrie eine Positionsbestimmung auf Bruchteile von Bogensekunden genau.

Der „Big Schmidt" war das größte Schmidt-Spiegelteleskop, bis es durch die Schmidt-Variante des Tautenburger 2-m-Teleskops abgelöst wurde. Der Hauptspiegel hat einen Durchmesser von 1830 mm, die Korrektionsplatte hat einen Durchmesser von 1220 mm (Tautenburg 1340 mm), die Brennweite beträgt 3070 mm. Das Plattenformat von 350 x 350 mm² erfasst ein Feld von 6,6 x 6,6 Grad. Begünstigt durch das gute astronomische Klima von Kalifornien wurde mit dem Palomar Sky Survey der gesamte erreichbare Himmel in zwei Farben erfasst und durch Kopien den Interessenten zur Verfügung gestellt. In Tautenburg herrschten nicht so gute Bedingungen. Eine Untersuchung von S. van den Bergh zeigte aber, dass das Tautenburger Schmidtteleskop in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit (Abbildungsgenauigkeit, Auflösung und Reichweite) dem Big Schmidt überlegen war. Allerdings hatten die Zeiss-Konstrukteure zuvor die Zeichnungsunterlagen des Big Schmidt studieren können, die Prof. O. Heckmann zur Unterstützung für das Große Hamburger Schmidtteleskop erhalten hatte.

Nach Los Angeles zurückgekehrt konnte ich noch ein Wochenende verbringen, bevor ich nach Tucson, Arizona reiste. Los Angeles hat die meisten Autos pro Kopf in den USA und das liegt im Wesentlichen daran, dass es kaum öffentliche Verkehrsmittel gab. Ich hatte noch einen offiziellen Besuch zu erledigen. Oberhalb vom Wohngebiet Hollywood liegt auf dem Mt. Hollywood in einem schönen Park das Griffith Planetarium und Observatory, bei dessen Direktor Cleminshaw ich mich angemeldet hatte. Wir kannten uns von der ersten Konferenz der Planetariumsdirektoren im Mai 1959. Ich fuhr mit einem Taxi zum Planetarium und wurde von Mr. Cleminshaw freundlich begrüßt. Er führte mich durch das Planetarium und das Observatorium. Es gibt dort zwei Kuppeln, in einer von ihnen befindet sich ein 250 mm Zeiss-Refraktor auf einer Meyerschen Entlastungsmontierung, wie im Planetarium Philadelphia. In der anderen Kuppel war ein Spiegelteleskop.

Der Zweck meines Besuchs war eine Nachfrage. Wir hatten gehört, dass man im Griffith Planetarium an den Kauf eines neuen Planetariums dachte, da zuvor das New Yorker Planetarium auch ein neues Gerät, allerdings von Oberkochen, erhalten hatte. Henry Berman hatte mit Cleminshaw Kontakt aufgenommen, aber noch kein Angebot abgegeben. Ich sollte herausfinden, wie weit das Projekt gediehen war.

Mr. Cleminshaw sagte mir, dass es noch keine Entscheidung gegeben hätte. An sich seien die Chancen für Carl Zeiss Jena nicht schlecht, schließlich sei man mit dem Gerät aus Jena sehr zufrieden gewesen. Die Entscheidung würde aber im Stadtrat fallen, und da müsse man mit politischen Problemen rechnen. Die Mehrheit im Stadtrat sei sogar eher fortschrittlich und würde uns gern eine Chance geben, wenn die technischen und kommerziellen Bedingungen für uns sprechen. Man fürchte aber einen negativen Einfluss für kommende Wahlen, wenn der Stadtrat beschließen sollte, von den „Roten" ein Planetarium zu kaufen. Selbst wenn wir mit dem Preis entgegenkommen würden, wäre der Preis eventuell, die nächste Wahl zu verlieren. Während des Gespräches erwähnte keiner von uns die Ereignisse des 13. Augusts und seiner Folgen. Es war aber ziemlich klar, dass unsere Chancen dadurch nicht verbessert wurden.

Allerdings hatte dieses Gespräch einige Jahre später positive Folgen, und ich möchte diese Nachwirkung schildern. Im Herbst 1964, nachdem wir recht erfolgreich anlässlich der Hamburger Generalversammlung der IAU mit einer kleinen Ausstellung aufgetreten waren, erhielt ich die Nachricht, es gebe neue Interessenten in Kanada für ein Großplanetarium. Unser kanadischer Vertreter, Risty Perotto, komme mit zwei Kanadiern, Jim Wright und Ian McLennan, aus Calgary. Sie würden sich erst die Planetarien in London und Paris ansehen, dann nach Jena kommen und anschließend auch nach Oberkochen gehen. In Kanada stand der 100. Jahrestag des Übergangs von der Kolonie zum Bundesstaat bevor, der 1967 im ganzen Land durch eine Vielzahl von Aktivitäten begangen werden sollte. So war für Calgary ein Centennial Park geplant, in dem ein Planetarium die Hauptattraktion sein würde.

Ich erhielt diese Nachricht von Günther Heckel, einem technischen Kaufmann der Exportabteilung, mit dem ich 1955/56 fünf Monate lang in Indien tätig war. Keiner von uns beiden wusste vorher, wo Calgary lag und ob es irgendeine wirtschaftliche oder politische Bedeutung hatte. Schließlich kamen die Gäste an und wir Jenenser waren überrascht: Die beiden Kanadier waren nämlich nicht lang gediente Vertreter des Stadtrates sondern junge Leute, so um die 30. Es gab also keine Probleme im gegenseitigen Umgang, wir waren bald, wie man so sagt, auf der gleichen Wellenlänge. Die Kanadier kamen in eigener Sache, denn sie wollten, wenn alles gut ginge, die Planetarien leiten bzw. betreiben.

Das Programm war relativ einfach. Wir zeigten zuerst das Gerät im Jenaer Zeiss-Planetarium. Es war zwar das Gerät von 1926, aber durch zahlreiche Umbauten funktionsmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Bevor eine Neuerung in die Produktion kam, wurde sie im Jenaer Planetarium ausgiebig erprobt. Z. B. war die stufenlose Steuerung der Hauptantriebe wesentlich bedienungsfreundlicher als die mehrstufigen Getriebe des alten und der Oberkochener Geräte. Dann wurde noch ein neues Gerät in Baugruppen in der Fertigung vorgeführt. Dazu gehörte auch eine Besichtigung des 2-m-Teleskops in Tautenburg, das die kanadischen Amateurastronomen außerordentlich beeindruckte. Neben Günther Heckel bat ich nur noch den Planetariumskonstrukteur Gerhard Vogel zu den Besprechungen. Auf einen Dolmetscher konnten wir verzichten. Wenn notwendig übersetzten wir abwechselnd, falls wir Herrn Vogel etwas präzisieren mussten.

Obwohl die Atmosphäre aufgelockert war, gaben die Kanadier nicht zu erkennen, wie sie sich entscheiden würden oder welche Chance wir hatten. Anschließend wollten sie ja noch nach Oberkochen, und das hatte mich von Anfang an geärgert. Ich hätte gern das letzte Wort gehabt, so wusste ich nicht, mit welcher Taktik man in Oberkochen vorgehen würde.

Die Kanadier hatten eine Reihe von Änderungswünschen in Bezug auf Zusatzeinrichtungen und auch einige Veränderungen am Hauptgerät. Es gab keine großen Diskussionen zwischen Herrn Vogel und mir, die Wünsche waren entweder vernünftig, oder wir hatten keine Schwierigkeiten, Gegenargumente gegen etwas zweifelhafte Wünsche anzubringen. Mit Günther Heckel hatte ich bezüglich der kommerziellen Seite keine Probleme. Wir waren uns einig, den Preis des Gerätes durch die Sonderwünsche nicht ungebührlich anwachsen zu lassen. Und wir waren sicher, ein Verkauf nach Calgary würde unsere Chancen für Toronto verbessern. Wir konnten doch nicht den ersten Kunden mit einem höheren Preis bestrafen.

Zum Schluss wurde es doch ernst: Sie wären an sich positiv beeindruckt, meinten die Kanadier, sowohl von den Vorführungen als auch von den technisch-kommerziellen Verhandlungen. Aber, wenn unser Gerät um so viel besser als das Oberkochener Gerät sei, warum hätten wir nicht mehr Geräte auf dem Weltmarkt verkauft. Wir waren nicht sprachlos. Ich verwies zunächst auf die Lieferungen nach Kalkutta, Akashi, Kairo, Lissabon und berichtete dann von meinem Gespräch mit Mr. Cleminshaw im August 1961. Wir als die „Roten" hätten aus politischen Gründen im Westen geringere oder gar keine Chancen. Meine Ausführungen wurden etwas ungläubig entgegengenommen.

Die Kanadier reisten ab, und wir mussten abwarten, wozu sie sich entscheiden würden. Es dauerte einige Zeit, bis wir erfuhren, dass man sich in Calgary für Carl Zeiss Jena entschieden hatte. Ich wollte nun wissen, was in Oberkochen vorgefallen wäre. Erst nach Vertragsabschluss wurde uns die Situation geschildert: Zum ersten habe man die jungen Leute gar nicht so ernst genommen, dann sei in einem großen Kreis verhandelt worden und zwar mit Dolmetscher. Der Ritus war so, dass die Kanadier einen Wunsch äußerten, der ins Deutsche übersetzt wurde. Dann gab es eine längere Diskussion unter den Vertretern von Oberkochen in deutscher Sprache untereinander und schließlich eine kurze, ins Englische übersetzte Antwort. Wenn auch die Kanadier nicht Deutsch verstanden, so konnten sie doch aus Stimmlage, Mimik und Gestik erfassen, wie ihre Frage oder Bemerkung aufgefasst worden war. Die Wünsche wurden entweder abgelehnt oder, wenn sie angenommen wurden, mit Mehrkosten verbunden. So sei eine ganze Zeit in der Verhandlung gegangen, bis schließlich die Herren Wright und McLennan erklärten, dass sie von Jena ein besseres Gerät zu günstigeren Bedingungen kaufen würden. Da waren die Oberkochener Herren betroffen, und einer von ihnen fragte zum Schluss, ob die Kanadier denn wirklich von den „Roten" ihr Planetarium kaufen wollten. Und da erinnerten sich die beiden an meinen Bericht von dem Gespräch mit Cleminshaw in Los Angeles.

Davon ahnte ich damals noch nichts.

Eine zweite Verabredung hatte ich mit Mr. Allan McClure wegen seines Astrographenobjektivs. M. war ein junger Mann, und ich versprach, ihm nach meiner Rückkehr ein Angebot zu schicken.

Nachdem ich in Los Angeles große Entfernungen zurückgelegt hatte, zum Sunset Boulevard mit dem Chinesischen Theater und den Sternen der Hollywood-Größen auf dem Bürgersteig, machte ich mich am Sonntag, dem 3. September, mit dem Bus nach Glendale, einem Vorort von Los Angeles, auf den Weg. Ein Kollege aus der Exportabteilung, Kurt Tittelbach, hatte erfahren, dass ich nach Kalifornien reisen würde. Er sagte mir, er habe dort einen Onkel, von dem ab und zu Pakete gekommen seien, ob ich nicht versuchen könnte, ihn zu besuchen und Grüße zu überbringen. Ich hatte an dem Sonntag nichts vor und war selbst neugierig, meldete mich aber nicht an. Wenn der Onkel anwesend wäre, dann würde er sich auch so freuen, wenn nicht, war es eben ein Ausflug.

Der Busfahrer zeigte mir, wo ich aussteigen musste, und bald sah ich das Einfamilienhaus kalifornischer Bauart. Unverkennbar - ein Gartenzwerg zeigte es an, dass ich an der richtigen Adresse war. Nach meinem Klingeln öffnete eine ältere Frau und rief dann nach dem Hausherrn, der bald kam. Ein etwa 80 Jahre alter Mann begrüßte mich im reinsten Jenaer Dialekt und bat mich in das Haus. Ich erzählte meine Geschichte und überbrachte die Grüße. Wir setzten uns in den Garten vor eine große Hibiskushecke, und ich erfuhr seine Lebensgeschichte. Er war vor dem ersten Weltkrieg auf den Weg nach Brasilien, um dort eine Farm aufzubauen. Auf der Überfahrt nach Amerika lernte er einen reichen Amerikaner aus Kalifornien kennen, der für sein Anwesen einen tüchtigen Gärtner suchte. Er nahm die Stelle an und lebte seitdem mitten im Hollywood der Filmwelt. Sein Arbeitgeber war in der Filmbranche tätig, und in seinem Haus gingen die Hollywood-Stars ein und aus. Er nannte mir eine Reihe der frühen Filmgrößen, von einem hatte er sogar ein Auto gekauft, das er aber nicht mehr fahren durfte. Er erkundigte sich nach der Entwicklung von Jena, nannte auch Straßen und Plätze, die inzwischen mindestens dreimal den Namen gewechselt hatten. Da ich kein Jenenser war, wusste ich nur, dass der Alexander-Puschkin-Platz früher Carl-Alexander-Platz geheißen hatte.

Wieder in Jena berichtete ich Herrn Tittelbach von meinem Besuch und erfuhr nach einiger Zeit, dass der Onkel zwei Wochen nach meinem Besuch verstorben sei.

Der nächste Flug brachte mich nach Tucson, Arizona. Wie ich schon bei dem Bericht über die Konferenz erwähnt hatte, war in der Nähe auf dem Kitt Peak ein neues großes Observatorium im Entstehen, stark beeinflusst von Aden B. Meinel, dessen Arbeiten ich an Hand der Berichte in der Zeitschrift „Sky & Telescope" und aus Konferenzberichten kannte. Meinel baute mit dem Kitt Peak Observatorium zugleich ein Optisches Zentrum in Tucson auf, das in der Folge wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Technologie der Astrogroßoptik erbrachte. In der Tradition von G. Ritchey, der die Optik für die Teleskope des Mt. Wilson Observatoriums im Observatorium selbst gefertigt hatte, fortgesetzt mit der Fertigung des 5-m- und des 3-m-Spiegels wurden auch die Optiken für das Kitt Peak Observatorium vor Ort und nicht durch kommerzielle Firmen gefertigt. Am ehesten war noch die kalifornische Firma Boller & Chivens im Teleskopgeschäft, aber mehr durch die Mechanikfertigung.

Der Kitt Peak liegt etwa 15 km von Tucson entfernt in einem heiligen Gebiet der Papago-Indianer. Eine drei Jahre dauernde Prüfung der klimatischen Bedingungen im Westen der USA hatte den Kitt Peak als den besten Platz von 50 Standorten ergeben. Es verwundert nicht, dass die Indianer zunächst gegen den Bau des Observatoriums waren. Man vermutete sogar, dass dort eine Raketenabschussbasis gebaut werden sollte. Es gelang schließlich den Astronomen, die Indianer von der Redlichkeit des Vorhabens zu überzeugen. Einige führende Indianer wurden in das in Tucson gelegene Steward-Observatorium eingeladen und konnten dadurch die Welt die Himmelswunder schauen.

Das größte Bauprojekt auf dem Kitt Peak war der Sonnenturm, der mit einem 2-m-Planspiegel in einem Polarcoelostaten ausgerüstet werden sollte. Man konnte die Neigung des Berges nach Süden ausnutzen, die etwa dem Polhöhenwinkel entsprach. Nachdem ich einen Plastikhelm aufgesetzt hatte, durfte ich durch die Baustelle gehen. Schon im Rohbau dominierte das Teleskopgebäude das Bergplateau. Der Coelostat sollte in 30 m Höhe aufgebaut werden und das Licht zu einem 1,5-m-Parabolspiegel von 92 m Brennweite leiten. Durch ein umfangreiches Kühlsystem sollte für ein möglichst ungestörtes Mikroklima gesorgt werden und zusätzlich mittels Vakuumspektrographen höchste Beobachtungsqualität erreicht werden.

Das größte Spiegelteleskop war im September 1961 ein 84-inch-Teleskop, im gleichen Monate wurde das Projekt eines 4-m-Teleskops von N. U. Mayall auf den Weg gebracht.

In Tucson hatte ich praktisch nur einen Zwischenstop gemacht. Ich wohnte in einem kleinen Hotel und wollte am nächsten Morgen um 9 Uhr mit der Continental Airways nach El Paso weiterfliegen. Die Fluglinie bot einen kostenlosen Limousinen-Service vom Hotel zum Flugplatz, und so brauchte ich mich nicht um ein Taxi bemühen. Die Abfahrt war für 8 Uhr geplant, und ich wartete und wartete, mit mir noch weitere Reisende. Die Fahrt zum Flugplatz sollte etwa 20 Minuten dauern und man sollte spätestens 30 Minuten vor Abflug bei der Abfertigung sein. Schließlich kam um 8.30 Uhr eine der superlangen Limousinen, teilweise besetzt. Daher musste zuerst Platz für Reisende und Gepäck geschaffen werden. Dann ging es schließlich los mit der Bemerkung, das Flugzeug würde auf uns warten. Als wir am Flugplatz ankamen, wurden wir in aller Ruhe abgefertigt. Mein Gepäck wurde sorgfältig gewogen, sogar einige Kilo Übergewicht ermittelt, die Zusatzgebühr kassiert, und dann ging es ins Flugzeug. Die Tür klappte zu und schon heulten die Motoren der 4-motorigen Turbo-Prop-Maschine. Eine Abfertigung wie auf einem Busbahnhof.

In El Paso nahm ich mir ein Zimmer in einem Holiday Inn Hotel im Stadtzentrum. Auf einem Stadtbummel kam ich auch an die Grenze zu Mexiko. Am Rio Grande ging es über eine Brücke nach Ciudad Juarez. Ich hätte gern einen Abstecher nach Mexiko gemacht und erkundigte mich bei einem Grenzbeamten. Er sagte, er würde mich schon nach Mexiko lassen, aber nicht wieder zurück, denn ich hatte nur ein Visum für einen einmaligen „Entry" in die USA. Später erfuhr ich, dass man es mit solchen Prozeduren sehr ernst nimmt. Ein europäischer Astronom war zu einem Studienaufenthalt in die USA gekommen. Bei einem Sonntagsausflug mit der Bahn an der US-kanadischen Grenze befuhr er eine Linie, die vorübergehend auch durch kanadisches Gebiet geht. Dort gab es auch eine Station, und er stieg zu einem Zwischenaufenthalt aus. Als er mit dem nächsten Zug weiterfahren wollte, ließ man ihn nicht wieder in die USA einreisen.

Mein erstes Ziel war das Sacramento Peak Observatory im Staate New Mexico. El Paso liegt im Staate Texas, in den ich anschließend zum Besuch des McDonald Observatoriums reisen wollte. Wie schon erwähnt sollte mich in Alamogordo ein Wagen des Observatoriums abholen. Die Fahrt von El Paso nordwärts führte an dem Raketenversuchsgelände White Sands Missile Range in der Wüste von New Mexiko vorbei. Alamogordo liegt westlich des Sacramento Gebirges, in dessen Nähe die erste Atombombe gezündet worden war. Als ich dort ausstieg, wartete bereits der Wagen auf mich, sein Fahrer war ein US Air Force-Angehöriger, denn das Sacramento Peak Sonnenobservatorium wurde von der US Luftwaffe unterhalten. Auf der Fahrt zum etwa 2000 hohen Sacramento Peak fragte er mich, ob ich in Mexiko gewesen wäre. Ich erzählte meine Geschichte und er sagte dazu, dass ich da etwas versäumt hätte. Allerdings, so konnte ich aus seiner Art entnehmen, bezog er sich mehr auf die Vergnügungsviertel jenseits der Grenze. Er bemerkte nämlich, dass nach dem Zahltag der amerikanischen Soldaten die Preise dort höher wären. Wofür konnte ich mir schon denken.

Als wir dem Ziel unserer Fahrt nahe waren, passierten wir ein Ortsschild: Sunspot, N.M. Üblicherweise steht dann noch die Zahl der Einwohner, die ich aber vergessen habe. Dort wohnen die Sonnenphysiker und anderen Mitarbeiter mit ihren Familien, immerhin 50 km entfernt von der nächsten Stadt Alamogordo.

Im Observatorium wurde ich freundlich empfangen, offenbar gab es keine besonderen Vorschriften für Besucher aus dem östlichen Lager, vielleicht auch, weil dort keine Staatsgeheimnisse zu verbergen waren. Mein Interesse galt dem großen Koronographen des Observatoriums mit einem 400 mm Objektiv und den anderen Sonnenteleskopen. Zeiss hatte während des Krieges für die Luftwaffe eine Reihe von Koronographen und anderen Sonnenteleskopen geliefert, die von Prof. Kiepenheuer koordiniert worden waren. Primär ging es um die Vorhersage von Funkstörungen durch erhöhte Sonnenaktivität, letztendlich um die Sonnenforschung, um die Ursachen zu erforschen. So war auch das Sonnenobservatorium auf dem Sacramento Peak entstanden. Später wurde dort ein großer Sonnenturm mit einem Alt-Azimut-Coelostaten von 1 m Spiegeldurchmesser gebaut, der durch seine Vakuumausrüstung die bestmöglichen Beobachtungsbedingungen bot.

Ich konnte im Observatorium übernachten und wurde zum Abendessen in die Familie des Direktors eingeladen. Als ich mich nach der Versorgung des kleinen Ortes erkundigte, erfuhr ich zum ersten Mal von dem allgemeinen Gebrauch der Gefrierkonservierung. Die Gefriertruhen böten, so wurde mir erläutert, sogar die Möglichkeit, kostengünstig einzukaufen. Als Beispiel wurde der beliebte Truthahn erwähnt, der im November zum Thanksgiving Day teuer aber sonst billiger wäre.

Am nächsten Tag wurde ich wieder zum Bus nach Albuquerque gebracht und fuhr dann auf demselben Weg, wie ich auch gekommen war, nach El Paso und bereitete mich auf meinen Trip zur Mc Donald Sternwarte etwa 300 Kilometer östlich von El Paso auf dem Wege nach Carlsbad vor. Ich hatte mich für den Bus entschieden und würde etwa 5 Stunden unterwegs sein. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass wir eine Zeitzonengrenze passieren würden. Es spielte eigentlich auch keine Rolle, weil ich ja nach meiner Ankunft im Observatorium anrufen wollte. Zwischendurch gab es noch eine obligatorische Pause, alle Greyhound-Busse machen das, meist an einer Tankstelle an einer Straßenkreuzung. Zwar war im Bus eine Toilette mit Waschgelegenheit, aber doch ziemlich eng und während der Fahrt problematisch zu benutzen. Die Geschwindigkeit des Busses musste sich an die Verkehrsvorschriften halten, auch wenn es praktisch leere Straßen waren, auf denen wir über Land fuhren. Die Höchstgeschwindigkeit lag nur bei rund 100 km/h, also die Geschwindigkeit, die die Grünen für Deutschland fordern. In einem der damals üblichen großen Straßenkreuzer kommt einem diese Geschwindigkeit fast wie eine Stadtfahrt vor.

Schließlich hielt der Bus an einer Kreuzung, und der Fahrer sagte, ich wäre nun dort, wohin ich wollte. Wir waren in eine hügelige Landschaft gekommen, nichts von einem Gebirge, obwohl das Observatorium doch in 2100 m Höhe liegen sollte. Die Straße hatte unmerklich in größere Höhen geführt. An der Kreuzung lag ein Supermarkt, mehr ein Landwarenhaus, in einem barackenähnlichen Gebäude. Ich fragte nach dem Telefon und rief dann im Observatorium an, das etwa 20 km entfernt lang. Ein Auto würde mich gleich abholen, also hatte ich Zeit, nach dem „Bahnhof" Ausschau zu halten. Es waren nur etwa 50 Meter, da sah ich die natürlich unbeschrankte Straßenkreuzung der einspurigen Bahn. Wenige Meter nach der Kreuzung lag der Haltepunkt, durch ein Schild an einem Telegrafenamt markiert.

Die Fahrt mit dem Wagen zum Observatorium führte dann doch in eine größere Höhe auf den Mt. Locke. Die McDonald Sternwarte entstand 1932 aus den Mitteln einer Stiftung des texanischen Millionärs W. J. McDonald. Das 2,1-m-Teleskop war damals das zweitgrößte Teleskop der Welt und konnte über Jahrzehnte von den günstigen Beobachtungsbedingungen, weitab von Industrie und Wohngebieten, profitieren.

Ich kannte das Teleskop aus einer Beschreibung, die als Fotokopie zum Bestand der Abteilungsbücherei gehörte. Die Englische Montierung hatte eine Besonderheit, dass das Gegengewicht nicht an der verlängerten Deklinationsachse sondern in der Nähe des Nordpfeilers an der Stundenachse befestigt. Dadurch war die Beweglichkeit der Beobachtungbühne verbessert, ein ewiges Problem bei größeren Teleskopen. Das Teleskop hat auch einen Primärfokus, der von einer Beobachtungsbühne bedient werden konnte, die wie ein Rettungsboot beiderseits des Kuppelspalts an Haltearmen befestigt war. Schon bei Tage erschien mir die Arbeit beschwerlich, um so mehr bei Nacht. Man bestätigte dies mir, es habe schon einige Karambolagen mit dem Teleskop gegeben und auch Quetschungen. Wie bequem war es in Tautenburg, erheblich erleichtert durch die Gabelmontierung.

Ich konnte auch den Coudéspektrographen besichtigen, dessen Kollimator ebenfalls in der Polachse aufgebaut war. So hatte ich meine Eindrücke von den amerikanischen Coudégitterspektrographen vervollständigt und war in der Lage, die vorhandene Literatur korrekt zu interpretieren.

Ich wohnte in einem kleinen Gästehaus in der Nähe des Observatoriums und erinnere mich an die exotische Stimmung in der stockdunklen Nacht. Am nächsten Tag fuhr ich wieder nach El Paso und übernachtete in einem Holiday Inn am Flughafen, denn ich wollte früh am Morgen weiter in Richtung Osten fliegen.

Mein erstes Ziel war Nashville, Tennessee, nicht wegen der Country Musik, sondern wegen eines Zwischenstops für den Weiterflug nach Cleveland, Ohio gebucht. Dort gab es ein Schmidt-Teleskop wie die 90-cm-Zeissteleskope. Von El Paso konnte ich nicht direkt nach Cleveland fliegen, und so flog ich mit einer kleinen Fluglinie, sogar Erster Klasse, denn es gab keine andere. Das Flugzeug war eine zweimotorige Metropolitan, an deren Besonderheit ich mich erinnere, dass sie eine bordeigene Treppe hatte. So ging das Aus- und Einsteigen leicht und schnell wie bei einem Großbus, ohne aufzutanken.

Wir hatten noch zwei Zwischenstops und sollten gegen 17 Uhr in Cleveland ankommen. Wir flogen nicht sehr hoch und kamen in eine Wetterlage mit zahlreichen Kumuluswolken vor uns. Der Pilot verstand sein Geschäft und wich jedesmal, vermutlich mit Hilfe des Wetterradars, den Wolken aus. Wir hatten Bodensicht und ich genoss den Flug, der ohne jede Turbulenzen verlief. Man hatte uns über Bordfunk gesagt, dass es schließlich noch 20 Minuten bis zur Landung dauern würde. Dann kam das Signal zum Anschnallen, und kurz darauf waren wir gelandet, glatt, ohne Probleme. Allerdings wunderte ich mich wegen dieser vorzeitigen Landung. Im Hotel angekommen, vernahm ich wenig später, dass zum ursprünglich geplanten Landezeitpunkt ein Wolkenbruch über dem Flugplatz niedergegangen sei. Glück gehabt!

In Cleveland hatte die Firma Warner & Swasey ihren Sitz, die um die Jahrhundertwende die größten Teleskope der USA gebaut hatte. Ich hatte die Spur dieser Teleskope verfolgt: den 914-mm-Lick-Refraktor, den 2,5-m-Hookerspiegel auf dem Mt. Wilson, den 2,1-m-Spiegel der McDonald Sternwarte und im Jahre 1959 den 1020-mm-Yerkes Refraktor. Ich fand aber nichts mehr von den Werkstätten der berühmten Firma.

In New York traf ich wieder mit Henry Berman und Mr. Frank von der Ercona Corporation, unserer USA-Vertretung, zu einer Abschlußbesprechung zusammen. Wir sprachen über das Planetarium von Los Angeles und die inzwischen schwieriger gewordenen politischen Bedingungen. Der kommerzielle Effekt dieser Reise wirkte mehr durch die Repräsentanz eines Zeiss-Vertreters bei der IAU-Konferenz und bei den Sternwarten-Besuchen.

Vielleicht sollte ich noch eine Bemerkung zur politischen Situation nach dem 13. August 1961 machen. Da, wie ich erwähnt hatte, meine Frau nicht in Jena und auf dem kleinen Dorf bei Mühlhausen telefonisch kaum erreichbar war, wusste ich nicht, was eigentlich „zu Hause" vor sich ging. In den Zeitungen gab es keine Schlagzeilen, Europa war weit. Im Fernsehen hatte ich gelegentlich Berichte über Ereignisse an der Mauer gesehen, aber keinen zusammenhängenden Bericht. Es gab auch keine Weisung von Jena, mich zu melden oder sofort zurückzukommen.

So flog ich zunächst nach Toronto und versuchte mit Risty Perotto das Planetariumsgeschäft voranzubringen, und dann nach einem Zwischenaufenthalt in Montreal nach Amsterdam. Der Flug ging in die Nacht hinein, und wir landeten am frühen Morgen. Ich hatte eine Buchung mit der polnischen Fluglinie LOT, die gegen 14 Uhr abfliegen sollte. Ich hoffte, noch den Abendzug nach Jena zu erreichen. Als wir zum Abflug aufgerufen wurden, gab es eine unverständliche Ergänzung. Als wir zum Flugzeug kamen, glaubte ich, die Information hätte sich auf den Flugzeugtyp bezogen. Wir sollten nämlich mit einer viermotorigen IL 18 fliegen. Nach dem Start stellte ich aber fest, dass wir gar nicht in Richtung Osten flogen, ich glaubte schon im falschen Flieger zu sitzen. Auf eine Frage bei der Stewardess erfuhr ich, der Flug würde außerplanmäßig über Paris mit einer Zwischenlandung führen. Mein Zeitplan war durcheinander. Aber so würde ich auch einmal in Paris sein, und wenn es nur der Flugplatz wäre. Wie üblich wurden wir nach der Landung in den Transitraum geleitet, in 45 Minuten sollte es weiter gehen. Nachdem ich Platz genommen hatte, schaute ich mir den Trubel der ankommenden und abreisenden Passagiere an. Auf einmal glaubte ich einen Bekannten zu erkennen. Wenn ich mich nicht täuschte, musste es Dr. Henry King vom Londoner Planetarium sein. Ich hatte ihn im Mai 1959 auf der ersten internationalen Konferenz der Planetariumsdirektoren in New York kennengelernt. Ich war mir nicht sicher, denn das müsste schon ein besonderer Zufall sein. Auch er schaute zu mir her und war offenbar ebenfalls unsicher, ob ich der Mann aus Jena sei. Da dachte ich, meine 2 Meter Körpergröße könnte als Erkennungssignal wirken. So war es auch, und wir staunten beide, dass wir uns dort trafen. Er kam von einem Urlaub in Südfrankreich und war auf dem Weg nach London. Wir ahnten damals beide noch nicht, dass wir uns später noch öfter treffen würden. Dr. King übernahm nämlich 1968 die Leitung des McLaughlin-Planetariums in Toronto, das mit einem Jenaer Zeiss-Großplanetarium ausgerüstet worden war.

Schließlich landete die IL 18 gegen 17.30 Uhr in Schönefeld/Diepensee, und ich war, wenn ich mich richtig erinnere, der einzige Passagier. Es dauerte ziemlich lange, bis ich meinen Koffer hatte, weil man vergessen hatte, ihn auszuladen. Dann stand ich da und wusste nicht, was ich machen sollte. Der Abendzug war gegen 16.30 Uhr abgefahren. Da versuchte ich mein Glück und schaute auf dem kleinen Parkplatz nach einem Wagen aus dem Bezirk Gera, der mich vielleicht ein Stück mitnehmen könnte. Zu meiner ersten Freude stand eine EMW-Limousine mit dem Kennzeichen N...., aber niemand war zu sehen. So ging ich zur Information und bat um eine Ansage, der Fahrer des Wagens möchte sich bei der Information melden. Nach einer Weile kam ein Mann und fragte, was man von ihm wolle. Ich fragte ihn, woher er sei? Aus Jena ! Ob er noch nach Jena fahren würde? Ja, wenn er und seine Fahrgäste mit dem Abendessen fertig wären. Ob noch Platz im Wagen sei und wer die Fahrgäste wären? Platz wäre noch und die Fahrgäste seien Zeiss-Leute, die von einer Dienstreise nach Berlin zurück nach Jena führen.

Mein Problem war gelöst. Im Restaurant stellte ich fest, dass ich bekannt war und mitfahren durfte. Die Pointe des Zufalls war typisch DDR. Eigentlich hatten die Kollegen gar nichts auf dem Flugplatz zu tun. Sie wussten aber, dass man in dem Flughafenrestaurant gut essen konnte, und so kam es, dass ich sie traf.

Am Samstag, den 16. September war ich nach sechs Wochen USA-Reise wieder zurückgekehrt. Aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten in ein festbegrenztes geschlossenes Land.

Die „Volkswacht" und das ASCORECORD

In der Beilage der „Volkswacht" vom 31. Oktober 1964 erschien unter dem Hauptthema „Du und Deine Welt" auf den Seiten 46/47 folgende Reportage von Rolf König:


ASCORECORD bestand Examen

Noch bevor die vielarmigen Deckenleuchten des kleinen, durch eine Schiebewand geteilten Saales verlöschen, erscheint an der Leinwand, die an der Zwischenwand hängt, ein Lichtbild. Es ist gut erkennbar und erfordert vom Betrachter zudem weder ein Urteil über das Motiv noch über die Farbnuancen. Nein, es ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme und erheischt bloßes Erkennen.

Das Bild zeigt ein Gerät: Auf den drei miteinander verstrebten Beinen eine runde Platte, darauf Okulare wie die des Mikroskops, ein Rahmen, Achsen und andere Teile, deren Funktion für den Laien besondere Erklärung bedarf. Es ist das Koordinatenmeßgerät des VEB Carl Zeiss Jena.

Hans Gerhard B e c k, Diplom-Astronom und schon durch seine Größe von genau zwei Metern den Sternen näher als ein Mensch von durchschnittlicher Größe, wendet sich an die Zuschauer und erklärt:

Die Astronomen richten ihre Kameras zum Himmel und erhalten eine Platte mit vielen tausend Sternen. Sie haben es sich in den Kopf gesetzt, die Entfernung zwischen dem einen und den anderen Stern zu messen. Dazu bedient man sich eines solchen Gerätes. Sie schauen in die Okulare, lesen jeweils zwei siebenstellige Zahlen ab und schreiben sie auf. Nun wird auch der beste Astronom durch vieles Ablesen und Aufschreiben einmal müde. Es kommt vor, daß er falsch abliest oder aufschreibt. Und so traten die Astronomen an die Gerätebauer heran: Könnt ihr uns das nicht so bauen, daß man fast im Schlaf vermessen kann, mit Hilfe der Elektronik?

Das haben wir getan.

Hans Gerhard Beck zeigt das nächste Bild: „Hier das eben gezeigte Gerät. Aber dazu gekommen ist ein Schrank. Er enthält die Elektronik. Daneben ein Steuerpult und eine Schreibmaschine, die mit einem Lochband gekoppelt werden kann. Die Astronomen stellen das Gerät nur noch ein, drücken auf einen Knopf, und während zwei siebenstellige Zahlen auf einer Scheibe erscheinen, beginnt die Schreibmaschine zu schreiben und das Lochband zu ticken. Sie halten die ermittelten Werte fest. Alles zusammen ist das neue Gerät ASCORECORD.

Wir entwickelten das Gerät in sehr kurzer Zeit, praktisch in 15 Monaten. Und wir haben es auf den modernsten Stand gebracht. Das bestätigten uns zwei internationale Ausstellungen in Hamburg und Lissabon, wo die Fachwelt das Gerät unter die Lupe nahm.

Wenn Sie diese 15 Monate noch einmal überdenken, werden sie mir zustimmen: Es war eine großartige Sache und jeder ist in dieser Zeit gewachsen. Das verlangte einfach die Aufgabe. Mit dem heutigen Zusammensein schließen wir ein Kapitel ab. Bevor wir jedoch essen (ein Seitenblick zu dem appetitlichen kalten Büfett), trinken und tanzen, schauen wir uns einige Farbdias an, die unsere Kollegen, die in Hamburg und Lissabon waren, aufgenommen haben."

In dem kleinen Saal des Jenaer Volkshauses verlöschen die Deckenleuchten. Die Bilder an der Leinwand führen die Zuschauer in die beiden Städte, wo ihnen bescheinigt worden war: Examen mit Auszeichnung bestanden! Sie, das sind die Mitglieder der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft ASCORECORD mit ihren Frauen, Bräuten und Freundinnen. Es gibt eine Ausnahme: Beim Ehepaar Reuter war „er" Gast.

Dieser Abend läßt aber auch Zeit, noch einmal zurückzudenken, wie alles begann.

Es begann schon lange vor den bewußten 15 Monaten. Das Koordinatenmeßgerät war von Zeiss schon vor dem zweiten Weltkrieg gefertigt worden, allerdings nur wenige Exemplare. 1952 wurde die Produktion wieder aufgenommen, mit zwei oder drei Geräten pro Jahr. Das nahende und dann begonnene Zeitalter der künstlichen Erdsatelliten und Raumschiffe steigerte die Nachfrage, und die Stückzahl erhöhte sich auf zehn im Jahr. Auf der Jubiläumsmesse 1965 wird man dem ASCORECORD einen Kranz umhängen. Es ist das fünfzigste.

Damals, vor etwa einem Jahrzehnt, lernt Hans Gerhard Beck anläßlich seines Berufspraktikums das Gerät bei Zeiss kennen. Er soll es auf Meßgenauigkeit untersuchen. Aber um einen exakten Vergleich zu dem Vorkriegsgerät zu haben, sind gründliche Untersuchungen nötig. So wird das Gerät Thema seiner Diplomarbeit.

Sie erfordert einige tausend Messungen. Sein Urteil: Das Koordinatenmeßgerät 3030 ist ein vorzügliches Gerät. Es eignet sich sowohl für Himmels- als auch für Luftbildaufnahmen. Seine Genauigkeit von zehntausendstel Millimetern entspricht den Anforderungen der Astronomen. Und nach einem Vergleich mit Konkurrenzgeräten kommt er zu dem Schluß: Das Zeiss-Gerät ist das genaueste und bequemste, das es auf der Welt gibt.

Dennoch: Er hat sie verspürt, die gedankenlähmende Müdigkeit nach Hunderten Messungen. Er versetzte sich in die Lage der Astronomen, die eine Fotoplatte vor sich haben, mit 100 000 Sternen drauf. Die sich vielleicht für 10 000 Sterne interessieren und sie vermessen, in einer Stunde 40, also in 250 Stunden.

Zu diesen Gedanken gesellen sich jene, die nach den Möglichkeiten suchen, wie denn das Gerät weiterzuentwickeln, zu automatisieren sei. Dabei tut sich ihm ein Berg auf: Die außerordentlich hohen Kosten für die Entwicklung der Automatik und Elektronik, das Problem der Amortisierung, die Gewißheit, daß eben wegen der Genauigkeit Lösungen von anderen Warengruppen nicht übernommen werden können. Wollte man das Prinzip, Maßstäbe statt Präzisionsspindeln zu verwenden, aufgeben, ginge das auf Kosten der Genauigkeit. Diesen Trumpf können sie nicht aus der Hand geben.

Parallel zu den eigenen Gedanken kommt mehr und mehr der Druck von Zeiss-Kunden. Es bleibt nicht verborgen: Die Konkurrenz beginnt ihre Geräte zu automatisieren. So Gärtner in den USA und Grubb Parsons in England.


Inzwischen hat das sechste Jahrzehnt des Jahrhunderts begonnen. Im Sommer 1961 reist Hans Gerhard Beck nach den USA, eingeladen zu einer internationalen Tagung in Berkeley bei San Franzisko. Dort spricht er mit Fachleuten anderer Länder. Und ein Zeiss-Kunde macht ihn dort noch einmal darauf aufmerksam, was im Gange ist. Während der Rückreise beherrscht Hans Gerhard Beck ein Gedanke: Jetzt oder nie!

Aber wo ist die Lösung? Sie hat er nicht im Gepäck.

Zurückgekehrt stellt er die Frage: Wer macht mit? Wer liefert was? Und er schart die erste Gruppe von Kollegen um sich. Sie werden sich klar: Wir haben ein prima Gerät. Aber es braucht eine Registriereinrichtung. Welchen Weg gehen? In den USA entwickeln sie ein vollautomatisches Super-Koordinatenmeßgerät. Können wir das? Ein Riesenaufwand. Eine Arbeitsgruppe von 30 Wissenschaftlern und Ingenieuren, die fünf bis sechs Jahre Entwicklungszeit braucht, und an die drei Millionen Mark Entwicklungskosten. Welcher Absatz stünde dem gegenüber? Vielleicht fünf Geräte. Und der Preis? Vielleicht eine Million Mark. Unmöglich!

Also ein anderer Weg: Das bewährte Gerät komplettieren. Das bedeutet sichere Absatzperspektive. Über 40 Geräte sind ja schon geliefert, die ergänzt werden können.

Im Dezember 1962 ist ein entscheidender Punkt erreicht. Dr. Schnabl hat gerade eine Entwicklung im Zusammenhang mit dem Kernspurmeßmikroskop erfolgreich abgeschlossen, ein vor- und rückwärts zählendes Impulszählverfahren. Bei der Vorführung erkennen sie: Das könnte die Ausgangsbasis sein. Ja, das ist sie!

Dann beraten sie den Termin: Ein Jahr ist zu kurz, zwei Jahre wieder zu lang, obwohl es kein Staatsplanthema ist. Und außerdem: Warum immer im vierten Quartal eine Entwicklung abschließen? Machen wir eine Ausnahme.

Plötzlich erinnern sie sich: Im August 1964 tagt in Hamburg der 12. Kongreß der Internationalen Astronomischen Union. Und einige Tage später beginnt in Lissabon ein Internationaler Photogrammetrischer Kongreß. Dort könnten sie der gesamten internationalen Fachwelt das Gerät vorführen. Das kommt viel billiger, als wenn einige Leute in der Welt umherreisen und das Gerät anpreisen. Aber was heißt d a s  Gerät? Z w e i  Geräte brauchen sie, weil sich beide Kongresse überschneiden. Also genügt nicht ein Labormuster, nein, sie brauchen zwei produktionsreife Mustergeräte.

Außer der Aufgabenstellung ist also auch der Termin klar. Aber was soll, was kann das Gerät kosten? Da sind zum Beispiel die Halbleiterbauelemente.

Moment, fragen wir so: Was bietet das Gerät? Eine Meßgeschwindigkeit von maximal 8 Sekunden. Die Produktivität ist mindestens um 100 % höher. Was ist das dem Kunden wert? Halt, da ist doch noch der Lochstreifen. Damit lassen sich komplizierte mathematische Formeln im Rechenautomat lösen. Und denken wir noch dran, was kostet so ein Gerät bei der Konkurrenz? Es müßte auf jeden Fall ein weltmarktfähiger Preis sein.

So untersuchen sie Fakt um Fakt, rechnen und vergleichen, knobeln um die wirtschaftlichste Lösung und nennen schließlich einen Richtpreis, der den später kalkulierten nur um 1.4 Prozent übertrifft.

Das ist wie ein Planspiel am Sandkasten. Sie wissen, wohin sie wollen, kennen ihre Kräfte, wissen, daß es nicht glatt gehen wird. Aber sie sind eine Gruppe junger Menschen, Elektroingenieure, die darauf brennen, moderne elektronische Geräte zu bauen. Freie Bahn der Elektronik! Sie wollen es jenen, die das Gegenteil behaupten, durch die Elektronik würden die Geräte auch nicht besser, beweisen. Das ist ihr Beitrag zur bevorstehenden Elektronik-Konferenz.

Ihr Optimismus ist notwendig, als es darum geht, Material zu bestellen und Termine durchzusetzen, Kapazitätslücken zu ergattern, ja, ergattern. Lager nach Transistoren und anderen Teilen zu durchstöbern. Sie stoßen auf dieses Hindernis und jenes. Es fehlt zum Beispiel ein Archiv, in dem qualifizierte Leute ´rumstöbern und herausfinden können, wie eine bestimmte Elektronik aufzubauen ist. Das spürt der Ingenieur Wolfgang  E i c h h o r n. Er ist 32 Jahre alt, Sohn eines Schlossers, stammt aus Gera und arbeitet wie ein Schrittmacher. Die Zeit im Betrieb reicht dazu nicht aus. Oft kommt er abends nach Hause, die Tasche voller Arbeit, und das Wohnzimmer verwandelt sich zum Konstruktionsbüro. Das Fernstudium kommt ein bißchen zu kurz in dieser Zeit, aber das kann man aufholen, leichter auf jeden Fall als verlorener Boden auf dem Weltmarkt. Das versteht auch Wolfgangs Frau, die vorübergehend nicht arbeitet, und sie widmet sich den drei Kindern und dem Haushalt. Wenn das Ansehen der Republik auf dem Spiel steht, sagte sie, muß man da sein.

Mit wem ich auch sprach, der Name Eichhorn fiel oft und immer voller Achtung vor dem Fleiß und Können dieses Genossen. Der mit 25 Jahren noch jüngere Diplom-Ingenieur Heinz P u r u c k e r nannte ihn den Vater des Ganzen. Er, Heinz Purucker, war nämlich erst vor einem dreiviertel Jahr von der Ingenieurschule gekommen, bevor er bei Zeiss begann und das gleich in der FEKEL 2, in der Arbeitsgemeinschaft ASCORECORD. „Ich hatte", so sagte er, „vom Tuten und Blasen keine Ahnung! Aber Ingenieur Eichhorn führte mich gut ein. So lernte ich das Gerät und meine Aufgabe schnell kennen." Was war das? „Übersichtsschaltpläne und Verdrahtung des Gesamtgerätes. Wir arbeiteten großartig zusammen im Kollektiv, vielleicht, weil wir alle jung sind. Jetzt bin ich Geräteverantwortlicher für die Nullserie. Die Arbeit macht mir Spaß."

Siegfried Schierer, der Laborant, ist gar erst 23. Er arbeitet an der digitalen Zähltechnik und macht seine Sache ausgezeichnet. Zwar steht er noch im Ingenieurfernstudium, aber gearbeitet hat er schon wie ein Ingenieur. Nur der Lohn entsprach dem eines Laboranten. Warum eigentlich? Wir sagen doch, die Leistung entscheide über die Entlohnung. Seinen Elan erklärt Siegfried Schierer so: „Der Ingenieur Eichhorn steckte alle an. Es war einfach prima, wie unsere Mannschaft zusammenstand."

Ingenieur Rosemarie R e u t e r, 26 Jahre jung, ist die einzige Frau im Kollektiv, aber oho! Bestimmt wird sie ihrem jetzt neun Monate alten Töchterchen einmal erzählen: „Weißt du, daß du fünf Wochen zu früh kamst, mitten in der dicksten Arbeit am ASCORECORD? Du hattest es so eilig, daß ich noch nicht einmal Urlaub nehmen konnte. Und mit mir waren meine Kollegen genauso überrascht. Ich habe doch am Zählteil, dem Herz der Elektronik, gearbeitet. Eine schöne Aufgabe war das. Man sah es täglich wachsen, so wie du täglich wächst. Die Besucher, die ich nach deiner Geburt empfing, das waren Kollegen, die mich um Rat fragten, wie es weitergeht. Du bist in aufregenden Tagen geboren worden, aber sie waren schön. Ich dachte immer: Mit so einer Gruppe gleich an ein neues Gerät, da kommt etwas zustande.

Sie, über die hier etwas mehr gesagt ist, stehen für das Kollektiv. Für die Ingenieure G a t t n a r, M e y n, B r a u n e r, D ü n k e l, B r ü c k n e r, F i s c h e r, K ö h l e r, für die Diplom-Ingenieure F e h l k a m m, R i e b e l, P o h l e, für die Elektromechaiker H ö l z e r und andere, die alle zum Kollektiv gehören.

Anfang Juli 1964. In einem Keller des VEB Carl Zeiss Jena steht ASCORECORD fertig montiert und in Tag- und Nachtschichten erprobt. Seine Schöpfer sind bereit, das Gerät den leitenden Genossen und Kollegen des Werkes vorzuführen. Natürlich sind sie alle aufgeregt. Und die Aufregung steigt, als sie kurz vorher einen Fehler feststellen. Sie starren auf die Scheibe, auf der die Zahlen aufleuchten. Kein Zweifel: Ein Maßstab zählt falsch herum! Wie ist das möglich nach 24-stündiger Dauererprobung? Doch das Rätsel wird schnell gelöst. Das Gerät war an eine andere Stelle gerückt worden, dabei hatte sich der Maßstab dejustiert. Diese Panne ist schnell behoben.

Wenige Tage später werden beide Geräte verladen und gehen auf die Reise. Eines nach Hamburg, das andere nach Lissabon. Westdeutschlands Tor zur Welt ist auch das Reiseziel von Hans Gerhard Beck, Wolfgang Eichhorn und drei anderen Kollegen.

In Hamburg stellen sie erfreut fest, es ist alles da. Das Gerät wird montiert und nach einigem Probieren funktioniert es. Also können sie beruhigt sein. Leicht gesagt. Ein Risiko ist dabei 1600 Astronomen sind auf dem Kongreß. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: siegen oder sich blamieren. Beides erfährt die ganze Welt.

Der ihnen zugewiesene Platz ist bescheiden, aber gut genutzt. JENA leuchtet es in großen Buchstaben über den Köpfen. Gegenüber ist der Stand von Rohde & Schwarz, einem Münchner Werk für Elektronik. Einem Ingenieur der Firma führen sie das Gerät als erstem noch vor der Eröffnung vor. Und ernten das erste Lob: Donnerwetter, das Niveau ist ausgezeichnet, die Entwicklungszeit unglaublich kurz, und alles vom VEB Carl Zeiss Jena, alle Achtung! Das steift den Rücken!

Natürlich kommen die Kunden des VEB Carl Zeiss Jena zuerst. Aber die Flüsterpropaganda sorgt für ein schnelles Bekanntwerden. Sie merken es an den Besuchern aus den USA und aus England. Und die Meinung eines Amerikaners, nachdem er das Gerät geprüft hat: Sie in der DDR sind weit in der Anwendung der Elektronik.

Sie ernten Anerkennung von vielen Seiten, wohlgemerkt von der Konkurrenz. Von der es zwei Arten auf diesem Kongreß gibt. Da ist die faire, ehrliche Konkurrenz, zu der auch ein englischer Wissenschaftler gehört, der ehrlich zugibt: Das Zeiss-Gerät aus Jena ist besser als das einer englischen Firma. Und der Vertreter dieser Firma lädt Hans Gerhard Beck ein, erklärt sein Gerät und übergibt Informationsmaterial. Diese Konkurrenz achtet die Leistung des andren und beglückwünscht ihn.


Eine andere Art Konkurrenz ist jene aus Oberkochen, die sich den Namen Zeiss anmaßen. Obwohl dem Organisationskomitee der Ausstellung mitgeteilt worden war, welches Gerät der VEB Carl Zeiss Jena ausstellen würde, wußten die Vertreter von Oberkochen nichts davon. Auch sie kamen mit einem Koordinatenmeßgerät mit Elektronikteil.

Die Herren aus Oberkochen sahen sich plötzlich einer Konkurrenz gegenüber aus einem Staat, der für sie nicht existiert. Die Reaktion ist verständlich. Einige Vertreter aus Oberkochen akzeptierten die Leistung, denn sie steht als Realität in Form des Gerätes vor ihnen. Einer will jedoch die Situation retten und tritt mit Gegenargumenten auf, die an den Haaren herbeigezogen sind und folglich von den Vertretern des VEB Carl Zeiss Jena restlos widerlegt werden können.

Die Kollegen aus Jena konnten zufrieden sein, Ihre Erwartungen wurden übertroffen, auch was den Preis betrifft. Die Geräte der Konkurrenz waren wesentlich höher im Preis als der, den sie in Jena für ihr gerät errechnet hatten.

Noch vor Ende des Kongresses sagt Wolfgang Eichhorn seinen Kollegen in Hamburg auf Wiedersehen. Seine Reise führt jetzt über Berlin - Prag - Genf nach Lissabon. Auf dem Flugplatz empfangen ihn die Herren der Zeiss-Vertretung. Seine erste Sorge gilt dem Gerät. Es ist gut angekommen und NACH EINIGEN Korrekturen funktioniert es einwandfrei.

Da taucht ein neues Moment auf: Wie wird sich die Hitze auf das ASCORECORD auswirken? In der Halle sind 32 Grad. Anfangs entstehen Pausen zwischen zwei Besuchern. Also schaltet Wolfgang Eichhorn während dieser Pausen das Gerät ab. Doch später kommt er nicht mehr dazu. Denn dann reißt der Strom der Interessenten nicht mehr ab. Wenn der eine vom Gerät aufsteht, steht schon ein anderer bereit, um sich zu setzen. Und das Gerät übersteht die Hitze Portugals.

Unterdessen ist man bei Zeiss in Jena in Sorge, weil keine Nachricht aus Lissabon kommt. Telegramm nach Lissabon: Geht das ASCORECORD noch? Wolfgang Eichhorn erfährt ganz nebenbei von diesem Telegramm. Seine Antwort: Warum soll es nicht gehen?

Das ist die Geschichte der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft ASCORECORD des VEB Carl Zeiss Jena. Es ist eine Seite in dem großen Buch, das das Kollektiv des ganzen Werkes schreibt. Sie enthält viele Lehren und Erfahrungen, die es wert sind, beachtet zu werden. Vor allem, wenn über die Perspektiven des Zeiss-Werkes beraten wird.

Das Kollektiv ASCORECORD wurde zum 15. Jahrestag unserer Republik mit dem Staatstitel „Sozialistisches Kollektiv" ausgezeichnet und vor einer Woche war jenes Zusammensein, von dem anfangs die Rede ist.

Wie hatte Hans Gerhard Beck am Ende seiner Rede gesagt? Dieser Tage habe ihm ein Kollege gratuliert und für das Gerät guten Absatz gewünscht. Nicht so, habe Hans Gerhard Beck geantwortet. Wünschen Sie uns lieber, daß die Produktion bald beginnt.

Ja, das wünschen wir diesem prächtigen Kollektiv!

Japan - Land der Morgenröte

In Saalfeld, wo unsere Familie seit 1936 lebte, gab es eine so genannte Japaner-Villa im oberen Teil der Stadt, zwischen Garnsdorf und dem Gelände, in dem nach dem Krieg das neue Krankenhaus gebaut wurde. Vermutlich ist von dem Haus nichts mehr übrig, denn es erlitt als eines der ersten Häuser Saalfelds Bombenschäden.

Es war Pfingsten, wahrscheinlich 1942. Ich erinnere mich an dieses Ereignis, das ich selbst nicht miterlebte, weil ich damals meine Großeltern in Blankenstein besucht hatte in Form einer kleinen Exkursion. Ich war zwar mit dem Bummelzug dorthin gefahren, hatte aber mein Fahrrad mitgenommen und fuhr am Pfingstmontag mit dem Rad die 50 km zurück nach Saalfeld.

Zu Hause erfuhr ich von dem Bombenangriff: Die nahe unserer Wohnung gelegene Japaner-Villa sei durch Bomben zerstört worden.

Was war die Japaner-Villa? Ein Haus im japanischen Stil, das sich jemand hatte bauen lassen, der lange Zeit in Japan verbracht hatte und wieder heimgekehrt war.

Ich gehörte zu den Neugierigen, die in den Tagen danach den Bombenschäden aus der Nähe betrachten wollten, kam aber nicht nahe genug, um bei dieser Gelegenheit herauszufinden, was das Besondere an einem japanischen Haus war. Ich fand aber einen großen Splitter einer Sprengbombe von etwa 40 cm Länge, den ich mit nach Haus nahm.

Japan war Verbündeter des Dritten Reiches. Man sprach von der Achse Berlin-Rom-Tokio. Eines Tages während des 2.Weltkriegs, wahrscheinlich vor dem „Russland-Feldzug" 1941, wurde das Jungvolk Saalfelds zum Bahnhof bestellt. Wir sollten Spalier stehen, denn der japanische Außenminister Matsuoka würde mit einem Sonderzug dort kurz halten. Wir sollten ihn bejubeln mit einem japanischen Gruß, der so ähnlich wie „Bonze" klang. Der Zug hielt, jemand schaute zum Fenster heraus, und wir riefen: „Bonze! Bonze!" Immer wieder und wieder, dann fuhr der Zug davon. Ob er verstanden hatte, dass wir eigentlich „Banzei!" sagen wollten? „Hundert Jahre mögest Du leben!"

Über den Kriegsverlauf vom Angriff auf Pearl Harbour bis zu den See- und Luftschlachten im Pazifik berichtete die Propagandamschinerie von Joseph Goebbels, aber ich erinnere mich nicht, dass die Lebensumstände in Japan bekannt waren.

Die Atombombenschläge auf Hiroshima und Nagasaki waren unvorstellbar. Wie würde Japan die Niederlage überwinden?

Japanische Lebensart lernte ich im Sommer 1958 indirekt kennen, als ich nach etwa zwei Monaten Aufenthalt in China auch nach Nord-Korea, nach Phöngjang, kam. Meinen Aufenthalt in Nord-Korea habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Korea war jahrzehntelang von Japan besetzt gewesen, und ich lernte dort einiges kennen, was ich dann in Japan wieder fand.

Nordkorea erschien mir damals moderner als China zu sein, obwohl die Bewohner durch den Koreakrieg stark gelitten hatten. Während in China alle im „Mao-Look" gekleidet waren, hatten die Koreaner offenbar ihre traditionelle Kleidung beibehalten. Es gab aber auch Frauen in europäischer Kleidung, z. B. im Kostüm.

Als ich dann im Juni 1960 nach Japan kam, fand ich schnell heraus, das war noch eine andere Welt, eine Mischung von Tradition und Moderne. Allerdings sahen wir damals, so bin ich mir sicher, nur die Fassade im Sinne einer Folklore. Natürlich fiel eine japanische Frau in der traditionellen Kleidung mehr auf als ein Büromädchen oder eine Verkäuferin in Rock und Bluse. Das war besonders bemerkenswert, wenn man dieselbe Person einmal traditionell und das andere mal praktisch gekleidet sah. Allerdings hatte schon Tucholsky auf einen solchen Effekt aufmerksam gemacht, nämlich wenn die Krankenschwester ihre Alltagskleidung trägt.

Ich kam also nach rund 24 Stunden Flug mit zwei Zwischenlandungen in Stavanger und Anchorage gegen 17 Uhr in Tokio an und wurde von etwa gleichaltrigen japanischen Mitarbeitern unserer Vertreterfirma NICHI-MEN empfangen. Meine Zeiss-Kollegen, die das Gerät in Akashi montiert und justiert hatten, waren auch dabei. Ich wurde nicht lange gefragt, ob ich etwa müde sei, sondern das japanische Betreuungsprogramm begann sofort mit einem Stadtbummel. Da ich keinen Reiseführer hatte und auch sonst keine aktuelle Literatur über Japan und Tokio, folgte ich treulich, meine Kollegen waren ja dabei. Ich möchte mich nicht auslassen, was ich sah und welche Eindrücke ich hatte. Im Prinzip war mir manches Äußere von China und Korea her vertraut. Die ersten Schwierigkeiten hatte ich in einem kleinen Restaurant, weil jeder im Schneidersitz Platz nahm. Das kannte ich schon von Korea, und es war mir damals schon schwer gefallen. Natürlich wurden vorher die Schuhe ausgezogen, denn der Fußboden war mit Reis-Strohmatten bedeckt. Mit Stäbchen essen konnte ich auch schon. Etwas problematischer erschien mir der Alkoholkonsum. Ich hatte mir nie viel aus Schnaps oder Bier gemacht, kannte aber die Wirkung des Alkohols. Es wurde eifrig angeboten, und sowohl die japanischen Betreuer als auch meine beiden Kollegen schienen ziemlich trinkfest zu sein. Da ich aber quasi Zeiss zu repräsentieren hatte, wollte ich nicht Gefahr laufen, einen über den Durst zu trinken. Anstelle härterer Getränke beschränkte ich mich, bis auf wenige Ausnahmen, auf Bier, und ich habe in Japan damals soviel Bier getrunken, wie nie zuvor in meinem ganzen Leben.

Das ist auch schon ein Hinweis, wie intensiv wir betreut wurden. Dabei fiel mir auf, dass das Leben in Restaurants und Bars sehr teuer war. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Firma NICHI-MEN soviel an dem Planetariumsverkauf verdient hatte, dass sie uns so großzügig betreuen ließ. Wie teuer ein Restaurantbesuch war, merkten wir, als wir uns einmal unseren Betreuern gegenüber revanchieren wollten. Der Spaß kostete mehrere Hundert DM (umgerechnet), obwohl wir uns nur mit Bier und Snacks bedienen ließen. Dann wurde mir klar, dass unsere japanischen Betreuer Teilhaber dieser Großzügigkeit waren, und ich gab es auf, darüber nachzudenken.

Selbstverständlich wurden einige Tempel und Parks besucht, auch der Kaiserpalast (von außen) gehörte zu unserem Programm.

Dann interessierte mich die japanische Konkurrenz auf dem Gebiet der Astrogerätetechnik, und ich wollte die Zeiss-Ausrüstungen in den Planetarien und Observatorien besichtigen.

Das Observatorium Tokio war in den 20er Jahren mit einem 650-mm-Refraktor und einem großen Sonnenturm von Zeiss ausgerüstet worden, die weiterhin in Betrieb waren. Von einer japanischen Konkurrenz auf dem Gebiet der Astrogroßgeräte war nichts zu sehen. Anders auf dem Gebiet der Amateur-Astronomie und der Aussichtsfernrohre. Allerdings ließ die Qualität sehr zu wünschen übrig. Solche Geräte waren offenbar kein so gutes Geschäft wie die japanischen Kameras, die in der Zeit des Koreakriegs bei den Amerikanern großen Anklang fanden.

Etwas kritischer schien die Konkurrenz auf dem Gebiet der Planetarien zu sein. Eine Firma GOTO in Tokio hatte begonnen, kleine Planetarien zu bauen und vor allem in Japan zu verkaufen. Ein Besuch wurde vereinbart, und ich war doch überrascht, was sich in der kleinen Fabrik dort entwickelte. Vor allem ein Planetarium mittlerer Größe mit vielen Funktionen der Großplanetarien erregte meine Aufmerksamkeit, da diese eine Marktlücke füllen könnten. GOTO war auch in Akashi als Mitbewerber aufgetreten, hatte aber ein solches Gerät nicht entwickelt und lieferbereit.

Wir besuchten auf dem Weg nach Akashi auch das Zeiss-Planetarium in Osaka, das von einer Elektrizitätsgesellschaft betrieben wurde.

Unsere Monteure hatten während der Montage in Kobe gewohnt, und so nahmen auch wir dort Quartier. Als ich fragte, warum sie in Kobe und nicht in Akashi gewohnt hatten, bekam ich die Antwort, dass Akashi praktisch ein großes Dorf sei, allerdings mit 100.000 Einwohnern. Kobe bot da mehr, vor allem auf kulturellem Gebiet, aber auch sonst auf dem Gebiet der Unterhaltung.

Als wir dann nach Akashi kamen, hatte ich auch denselben Eindruck. Eine Unzahl der kleinen japanischen Häuser bestimmte 1960 das Stadtbild. Umso imponierender der Observatoriums- und Planetariums-Komplex, der genau auf dem Zonenzeitmeridian Japans lag.

Wie ich mich überzeugen konnte, war unser Planetariumsgerät übergabebereit, und so stellten wir uns zu der feierlichen Eröffnung ein. Es war ein schöner Sommertag, und es kamen viele Gäste, jeder durch einen Anhänger nach Rangfolge gekennzeichnet. Wir Zeissianer waren geehrte Gäste, und ich durfte auch eine kleine Rede halten.

Die Vorführung fand Beifall, und nach der Besichtigung aller Räume versammelten sich die Gäste in einem großen Zelt auf einer Freifläche vor dem Gebäudekomplex. Es wurde viel fotografiert, und ich wurde gemeinsam mit der „Miss Akashi" konterfeit. Bei solchen Gelegenheiten sind die Damen in den traditionellen Gewändern gekleidet. Wir Zeissianer erhielten als Geschenk eine so gekleidete Puppe in einem kleinen Glaskasten, die ich tatsächlich heil nach Hause brachte. Sie gehört zum Souvenir-Ensemble in meinem Arbeitszimmer.

In Kobe, der ehemaligen Kaiserstadt, besichtigten wir wieder Parks und Tempel. Mir fiel auf, dass nirgendwo Kriegsschäden zu sehen waren. Anscheinend waren die Städte, die wir besuchten, von Bombenangriffen verschont geblieben. Das war auch in Tokio so, selbst in der Hafenstadt Yokohama. Es gab auch keine „kulturellen" Ruinen aus Japans Vergangenheit. Als ich mich bei unseren Betreuern danach erkundigte, klärten sie mich auf. Die anscheinend mehrere Jahrhunderte alte Burg, die hervorragend erhalten oder „restauriert" erschien, war ein völliger Neubau im alten Stil mit einem modernen Kern. Sie gehörte nun nicht mehr einem Samurai, sondern wurde vom Staat erhalten.

So ist Japan mit einem ganzen Netz von Sehenswürdigkeiten überzogen, die von Touristen bevölkert sind. Die Ströme neugieriger, dauernd fotografierender Japaner fielen mir damals schon auf. Wohl organisiert, durch die inzwischen auch bei uns bekannten Fähnchen identifizierbar, wurden sie durchgeschleust. Was mir damals auch schon auffiel, vielleicht mehr als DDR-Bürger, war das Riesenangebot an Souvenirs jeder Art. Da ich seiner Zeit bei Dienstreisen nach der BRD an mein Reiseprogramm gebunden war, ist mir kein Vergleich möglich. In der DDR gab es wohl nur die üblichen Ansichtskarten.

Bei den technischen Errungenschaften Japans fällt dem Ausländer zuerst das Verkehrssystem auf. Ein dichtes Netz von U- und S-Bahnen verbindet die Vororte mit den Zentren, und in der „Rush Hour" morgens und abends sollte man es nicht versuchen, in den Menschenmassen am Verkehr teilzunehmen. Wesentlich geordneter geht es bei den Fernzügen zu, den „Shinkansen". Diese Hochgeschwindigkeitszüge verkehren im Stundentakt und können sogar mit den Flugverbindungen konkurrieren. Am Bahnsteig herrscht fast preußische Ordnung. Der Zug hält auf Zentimeter genau an der vorbestimmten Stelle. Am Boden ist die Wagennummer ebenso markiert wie die Anordnung der Sitzplätze. Im Nu ist Aus- und Einsteigen erledigt, und der Zug fährt weiter. Neben dem Fahrkomfort – man merkt fast nichts von den über 200 km/h – ist besonders der Bedienungskomfort zu erwähnen. Unablässig wird Ordnung gehalten, aber auch Speisen und Getränke sowie Zeitungen und Zeitschriften werden angeboten. Die „Bordverpflegung" wird in kleinen Pappkästchen angeboten, als warme oder kalte Speise. Bemerkenswert ist auch die Verpackungskultur. Wenn man die Schachtel geöffnet hat, findet man ein kulinarisches Stilleben.

Solche Stilleben findet man übrigens auch in Schaukästen vor Restaurants, in denen die Speisekarte illustriert dargeboten wird. Aus Kunststoff modelliert und naturgetreu farbig gestaltet sieht man, was man dann auf dem Teller haben wird. Dazu sind eine Bestellnummer und der Preis angezeigt. Ich kannte das Prinzip bereits aus der UdSSR. In einer Mensa waren die Gerichte, allerdings in natura, ausgestellt, und man brauchte nur mit dem Finger auf den Teller zeigen, wenn man des Russischen nicht mächtig war. Seit einiger Zeit wird das Verfahren auch in der Mensa der Fachhochschule Jena im Zeiss-Speisesaal praktiziert.

Damals, 1960, kümmerten wir uns nicht um die Auswahl und die Preise. Unsere japanischen Betreuer hielten uns in Bewegung, und wir konnten so nebenbei einige Besonderheiten in Japan kennenlernen. Die Visitenkarte spielte und spielt auch heute noch eine besondere Rolle. Sie wird zu Beginn der Bekanntschaft nahezu zeremoniell mit mehrfachen Verbeugungen übergeben, Das besondere an einer Japanischen Visitenkarte sind die Ortsangaben für die Adresse. Die oft durch eine Kartenskizze ergänzt werden. In Tokio gibt es nämlich keine Ordnung in den Straßenbezeichnungen und auch kein übersichtliches Liniennetz. Das merkten auch die Amerikaner 1945, und sie waren die ersten, die etwas Ordnung brachten. Wenn man jemanden besuchen will, dann ist es zweckmäßig eine Visitenkarte mit Kartenskizze dem Taxifahrer zu geben. An jeder U- und S-Bahnstation findet man Übersichtskarten.

Es ist bekannt, dass die Durchschnittsgröße der Japaner geringer ist als die der Angehörigen der „weißen Rasse". In einem Couplet aus den 20er Jahren ist die Wendung bekannt: „...in Japan ist alles so klein!" Das merkte ich, als ich eines Tages im Kino Platz nehmen wollte. Alle Plätze waren möglicherweise aus Schicklichkeitsgründen durch dünne Bretter abgetrennt, aber meine Sitzfläche war größer und ich musste mich vor auf die Kante setzen. Das Thema Schicklichkeit wird in jeder Kultur anders gesehen. Während sonstwo die betreffenden Lokalitäten für Männlein und Weiblein streng getrennt sind, gibt es hier nur eine gemischte Örtlichkeit, wie ich einem Kaufhaus zur Kenntnis nahm. Auch in den öffentlichen Bädern geht es gemischt zu, wobei es unschicklich sein soll, den Nacken einer Frau zu betrachten.

In den Bars wurden die Gäste vom weiblichen Personal zum Trinken animiert, aber sehr geschäftsmäßig. Kam ein anderer Gast, dann war er das Ziel der Steigerung des Umsatzes. Eine für uns etwas eigenartige Form der Unterhaltung fanden wir in einem so genannten Arbeits-Salon. Woher das Etablissement seinen Namen hat, habe ich nicht erfahren. Es ist aber bekannt, dass sich viele der Herren der Schöpfung nach der Arbeit erst einmal in der einen oder anderen Art von Kneipe einen hinter die Binde zu gießen. Der Arbeits-Salon ist ein Tanzlokal, in dem die Damen quasi Taxi-Girls sind. Für eine bestimmte Zeit und zu einem bestimmten Preis stehen sie zum Tanz zur Verfügung. Die Kosten werden mit der Getränkerechnung beglichen.

Wenn man das Lokal betritt, passiert man ein Spalier solcher Damen und kann sich seine Partnerin auf Zeit aussuchen. Die meisten können nur Japanisch, und so ist es praktisch unmöglich, eine Unterhaltung zu führen. Was besonders irritiert, ist das Bestellsystem. Ab und zu hört man einen Aufruf über einen Lautsprecher, und dann kann es passieren, dass die nette Dame sich höflich entschuldigt und verschwindet. Ein Stammgast ist gekommen und hat sie angefordert. Die Preise sind gesalzen, aber es herrscht immer Betrieb.

Einmal waren wir bei unserem Hauptbetreuer zu sich nach Hause eingeladen, und ich lernte nun eine japanische Wohnung kennen und konnte Rückschlüsse auf die Japaner-Villa in Saalfeld ziehen. Was inzwischen durch Film und Fernsehen bekannt ist, war die sparsame Möblierung. Es gab keine Möbel im Sinne der westlichen „Kultur", es gab nur kleine Wohnräume. Deren Größe wurde nicht in Quadratmeter angegeben, sondern in der Zahl der Tatamis, der Schlafmatten, die nebeneinander ausgelegt aus dem Wohnzimmer ein Schlafzimmer machten. Nun waren wir im Sommer in Tokio, und die dünnen Außen- und Zwischenwände waren angenehm, weil man sie seitlich verschieben konnte. Es gab also weder Türen noch Fenster, wie wir sie kennen. Das Wohnzimmer war auch das Speisezimmer. Der Tisch war niedrig, etwa 30 cm hoch, Stühle gab es keine. Was uns sehr eigentümlich vorkam, war die Beteiligung der Hausfrau, die mehr wie eine Serviererin tätig war, ohne an der Gesellschaft teilzunehmen.

Wie würde man in einem solchen Haus aber im Winter leben können, der in Japan ziemlich kalt werden kann? Eine Heizung für den ganzen Raum wäre sinnlos, so gab es kleine Öfchen, früher mit glühender Holzkohle beschickt, die man unter dem Tisch oder unter dem gesteppten Hausmantel „aufstellte". Unumgänglich war ein großer Badezuber, der auch Platz für mehrere Personen bot, in dem man sich am Morgen oder wenn es gar zu kalt war, aufwärmte. Die „Morgenwäsche" erfolgte vorher, außerhalb des Zubers, so dass dessen Wasser prinzipiell für mehrere Badegänge brauchbar blieb. In günstigen Gegenden kam das heiße Wasser auch aus heißen Quellen.

Interessant waren natürlich auch die Angebote auf dem Gebiet der Unterhaltungselektronik, nach dem Kamerabau die zweite Welle der Eroberung des Weltmarkts durch die Japaner. Der Transistor war das Schlagwort für die Miniaturisierung der Geräte, die bisher mit Röhren ausgestattet waren. Wie groß bereits das Angebot war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Interesse konzentrierte sich ohnehin nur auf solche Kaufobjekte, deren Preise im Rahmen der Ersparnisse von Reisespesen lagen. Da ich ein „Radio-Fan" war, kaufte ich mir einen kleinen Transistor-Empfänger, der so groß wie eine der üblichen Taschenlampen mit breiter Batterie war und auch nur für Mittelwellenempfang verwendet werden konnte.

Das blieb mir von meinem ersten Japanbesuch im Juni 1960 in Erinnerung. Allerdings erinnere ich mich auch an den Kontrast der Lebensumstände, als ich auf der Rückreise in Kalkutta Zwischenaufenthalt hatte. Verwöhnt von peinlicher Sauberkeit und moderner Technik kam ich in das gleiche Indien zurück, das ich schon von meinem längeren Aufenthalt 1955/56 kannte.

Den zweiten Besuch Japans im Sommer 1978 unternahm ich mit meinem Kollegen Reinhard Hamatschek. Der Anlass war die internationale Tagung der Planetariums-Direktoren in Nagoya. Es gab aber auch noch Interessenten für Planetarien in Sapporo und astronomische Geräte in Sendai.

Dieses Mal konnten wir nach Japan auf dem kürzesten Weg fliegen: Zwischen Moskau und Tokio gab es inzwischen einen regelmäßigen Non-Stop-Flugverkehr, der abwechselnd von der Aeroflot der UdSSR und der JAL Japans unterhalten wurde. Tokio hatte auch einen neuen Flughafen, weit außerhalb des Stadtzentrums gelegen, allerdings mit einem bequemen S-Bahn-Zubringer-System. Immerhin waren 18 Jahre seit meiner ersten Reise nach Japan verstrichen. Überall waren Hochhäuser entstanden trotz der Erdbebengefahr. Das Schienen- und Autobahnnetz war dichter geworden, aber zwischendrin dominierten immer noch die traditionellen Ziegeldächer auch auf moderneren Gebäuden.

Die Teilnahme an der Planetariumskonferenz war auch aus Informationsgründen wichtig. In den Vorträgen wurde der „Weltstand" der Planetariums-Präsentation dargestellt und auch Gedanken über den Trend der Entwicklung ausgetauscht. Oberkochen hatte zwei neue Geräte nach Tokio und Nagoya geliefert, allerdings bevor wir den internationalen Durchbruch mit den Planetarien für Calgary, Toronto und Vancouver erzielt hatten. Schließlich war noch die japanische Konkurrenz, neben Goto auch die Firma Minolta, von besonderem Interesse.

Die Planetariums-Konferenz verlief in einem lockeren Rahmen. Die meisten Leute kannten sich schon von früheren Konferenzen und bemühten sich, ihre eigenen Leistungen hinsichtlich Programmen und Öffentlichkeitsarbeit darzustellen. Auf der Tagung selbst kam es zu keiner Konfrontation der Konkurrenten, was ja auch wenig Sinn machte, schließlich hatte sich jede Institution einmal für einen Planetariumstyp einer Firma entschieden. Das Planetarium in Nagoya hatte Oberkochen 1962 installiert und war nicht besonders herausgeputzt worden. Z.B. merkte man das an den Panorama-Projektoren, die nicht gut zueinander justiert waren und Farbmängel aufwiesen.

Zu den Teilnehmern gehörten auch führende Mitarbeiter der kanadischen Firma IMEX, die ein neues Superweitwinkel-Projektionssystem anboten. Inzwischen gibt es viele IMEX-Filmtheater, in denen mit speziellen IMEX-Kameras gedrehte Filme aufsehenerregende Naturschauspiele darbieten: Eine nie versiegende Einnahmequelle ohne speziellen Aufwand für das Planetarium selbst.

Natürlich fuhren wir auch nach Akashi. Aus dem großen Dorf war eine Großstadt geworden, und das Observatorium mit dem Planetarium war immer noch ein Besuchermagnet. Unser Gerät arbeitete mehr als zufriedenstellend. Hier möchte ich eine Geschichte aus der neueren Zeit einfügen, die mir Wilfried Lang, der Leiter des Planetariumsbereiches der Carl Zeiss Jena GmbH, erzählte. Er hatte auch das Planetarium in Akashi besucht, das bei dem großen Erdbeben in Kobe erhebliche Schäden davongetragen hatte. Die Innen-Kuppel hatten flächenmäßig große Schäden, und der Betrieb war auch deswegen eingestellt worden. Welchen Schaden das Gerätesystem davongetragen hatte, konnte man nicht genau sagen. Ob man es schon einmal wieder eingeschaltet habe, fragte Lang. Nein! Na, dann solle man es doch einmal machen! Gesagt, getan, und die elektrische Anlage war noch intakt und damit die wesentlichen Planetariumsfunktionen.

Vom Süden der Hauptinsel Japans fuhren wir dann nach Sendai, eine Universitäts-Stadt nördlich von Tokio. Wir wurden von einem Zeiss-Mitarbeiter aus der Handelsvertretung der DDR begleitet. Auch insofern hatte sich einiges auf dem politischen Weltparkett getan. Die DDR war nach dem Abkommen von Helsinski international anerkannt und demzufolge auch in den Staaten offiziell durch Botschaften vertreten. Denen zugeordnet waren die Handelsvertretungen, die die Vertreter der DDR-Außenhandelsorganisationen unter Kontrolle hatten. Dementsprechend war auch das Regime der Betreuung, die mehr eine Überwachung war. Der Postverkehr mit der DDR lief nur über die Botschaft, selbst Ansichtskarten waren obskure Objekte.

Die Kontakte zu den Kunden liefen eine Zeit lang durch die Zeiss-Vertretung NICHI-MEN, aber wir waren wahrscheinlich nur kleine Lichter. Aus dem Buch des ehemaligen Generaldirektors des Zeiss-Außenhandels Gerhardt Ronneberger erkennt man, welche Interessen die DDR und das gesamte RGW in Japan hatten: Import von Hochleistungselektronik von strategischer Bedeutung, die dem Embargo unterlag.

Von Sendai aus, wo wir mehr oder weniger nur Klinken geputzt hatten, fuhren wir mit dem Shinkansen nach Norden und unterquerten die Meerenge vor Sapporo in einem Tunnel. In dieser Stadt, die durch die olympischen Winterspiele weltbekannt geworden war, gab es ein Planetariumsprojekt, und wir sollten erkunden, welche Chancen wir haben würden.

Alle Wetter! Unruhige Flüge!

Im Mai 1959 nahm ich an der ersten internationalen Konferenz der Planetariumsleiter teil und konnte darauf einige Planetarien im Osten der USA besuchen. So fuhr ich mit dem Zug von New York nach Chicago, weil mir die Eisenbahn sicherer als ein Flugzeug erschien. In Chicago angekommen, machte ich mich auf den Weg zum Adler-Planetarium, das am Ufer des Michigan-Sees liegt. Ich kam da auch an einem kleinen Flugplatz vorbei, auf dem reger Betrieb war. Fortwährend starteten und landeten kleine Sportflugzeuge.

Von den Mitarbeitern des Planetariums freundlich aufgenommen, konnte ich alles eingehend besichtigen. Während des Rundgangs wurde ich gefragt, ob ich noch gern etwas Bestimmtes in Chicago sehen würde. Ja, den Großen Yerkes-Refraktor, das größte Linsenfernrohr der Welt. Ich wüsste zwar nicht genau, wo das Observatorium liegt, aber wenn es möglich wäre? Ja, selbstverständlich! Da fliegen wir dann nach dem gemeinsamen Mittagessen hin.

Ich dachte bei mir, das kann doch gar nicht so weit sei, dass wir dahin fliegen müssen! Gibt es da eine Fluglinie mit regelmäßigem Verkehr?

Als wir beim Mittagessen saßen, fragte ich nach der Flugverbindung, nicht ohne einen Hintergedanken. Inzwischen hatten sich Wolken zusammengeballt, und es war am Nachmittag mit einem Maigewitter zu rechnen. Ich äußerte Bedenken, da ich inzwischen erfahren hatte, dass wir einen solchen Privatflieger benutzen würden. Man beruhigte mich, bei solchem Wetter würden nur Piloten fliegen, die ihr Handwerk verstehen. Bei schönem Wetter könnte jeder Idiot fliegen, und da sei es wie im Straßenverkehr wesentlich gefährlicher!

Wir sind dann doch mit dem Auto gefahren, und es war nicht sehr weit. Neben dem Kuppelgebäude war der Landeplatz, eine Wiese mit einem Windsack.

Meine Abneigung gegenüber der Fliegerei in den 50er Jahren war nicht ganz unbegründet. Die Flugzeuge waren umgebaute Militärtransporter, wie z.B. die DC 3, die als „Rosinenbomber" während der Luftbrücke nach Berlin bekannt geworden war. Die Piloten kamen aus der Militärfliegerei, wo teilweise raue Sitten herrschten. Kritisch war die niedrige Gipfelhöhe von etwa 5000 m, man konnte nicht über das schlechte Wetter steigen. In den Tropen musste man mit Gewitterwolken bis in 10.000 m Höhe rechnen. Dann dauerte es noch einige Zeit, bis die Flugzeuge mit Wetterradar ausgestattet waren.

Mein erster Gewitterflug im September 1955 war noch ziemlich harmlos. Ich war Mitglied einer Reisegruppe des DDR-Außenhandels auf dem Weg nach Indien. Wir flogen mit einer viermotorigen Superconstellation der AIR INDIA. Wir waren in Prag gestartet, und es war mein erster Flug. In Zürich erfolgte die erste Zwischenlandung, und auf dem Weg zum Transitraum dröhnten die Motoren scheinbar noch immer in meinen Ohren. Erst als ich nach dem Hinweis eines erfahrenen Mitreisenden den Druckausgleich im Ohr hergestellt hatte, konnte ich wieder normal hören. Wir starteten in den Abend hinein und erhielten nach etwa einer Stunde unser Abendessen. Wir sollten etwa 4 Stunden nach Kairo fliegen zur nächsten Zwischenlandung. Auf halbem Wege kam die Anzeige: „Fasten Seat Belts!", also anschnallen. Es dauerte nicht lange, und wir waren in den Turbulenzen eines Gewitters, das wir überflogen. Blitze zuckten, aber nicht in unserer Nähe, Donner war nicht zu hören. Nach einer halben Stunde waren wir durch und hatten bis kurz vor Bombay einen ruhigen Flug.

Bei der Landung mussten wir durch ein Wolkenfeld mit großen Cumuli, es ging etwas auf und ab, dann waren wir angekommen.

Von September 1955 bis Ende Januar 1956 flog ich mehrmals zwischen Neu Delhi, Kalkutta und Bombay hin und her, ohne irgendwelche Wetterkapriolen.

Dann hatte ich ein eigenartiges Erlebnis auf dem Flug von Budapest nach Sofia im Herbst 1956. Es schien bestes Flugwetter zu sein, denn wir hatten klaren Blick auf die Bergketten des Balkans, die wir in schätzungsweise 300 m Höhe überflogen. Es hatte gerade Frühstück gegeben. Ich saß im Mittelteil und konnte den Boden hinter dem rechten Flügel der IL 14 gut beobachten. Auf einmal schien das Flugzeug wie mit einem Riesenfahrstuhl nach unten zu sinken. Ich hatte mich vorsichtshalber angeschnallt und hatte weniger Probleme, auch weil bei mir das Geschirr schon abgeräumt war. In den vorderen Reihen stieg das Geschirr scheinbar in die Höhe, auch die Passagiere mussten sicheren Halt suchen. War das ein Luftloch? Immer näher kamen die Bergkuppen, wir mussten etwa 150 m abgesunken sein. Dann hatte der Pilot das Flugzeug in der Gewalt. Mit Vollgas überwand er den Fallwind, und bald war der Spuk vorbei.

Meine nächste größere Reise führte mich nach China. Im März 1958 flog ich mit zwei Zeiss-Mechanikern zuerst von Berlin-Schönenfeld nach Moskau, Zwischenlandung in Minsk. Unser Flugzeug war wieder eine IL 14, ein russischer Nachbau der amerikanischen DC 3, mit den gleichen Flugeigenschaften. Die Reichweite war gering, und so mussten wir auf dem Flug von Moskau nach Peking mehrfach zwischenlanden. Der Mensch gewöhnt sich an alles!

Mitte Juni flogen wir zurück, zunächst nach Ulan Bator in der Mongolei. Die Landebahn war eine Grasfläche, kein Problem für Militärpiloten. Nach ein paar Tagen sollte es weiter nach Irkutsk gehen, und von dort würden wir mit der ersten Düsenpassagiermaschine der Welt, der TU 104, nach Moskau fliegen. Wir starteten mit einer IL 14, wurden aber etwa zur Hälfte der Flugzeit umgeleitet und hatten eine technisch bedingte Zwischenlandung in Ulan Ude, östlich von Irkutsk. Wieder auf einer grünen Wiese! Was war der Grund? An unserem Flugzeug lag es nicht, aber in Irkutsk sei „Schlechtes Wetter!". Nach einiger Zeit starteten wir wieder und landeten bei schönstem Sommerwetter in Irkutsk. Das schlechte Wetter war Bodendunst, der sich erst spät verzogen hatte.

Die TU 104 konnte schneller und höher als andere Propellerflugzeuge fliegen, etwa 900 km/h und 10.000 m Gipfelhöhe. Wie schnell man diese Höhe erreicht, konnte an einem Höhenmesser an der Kabinenwand über der Tür zum Cockpit abgelesen werden. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, und man konnte danach die Wolkenhöhe bestimmen. Bei der Landung begann der Sinkflug eher, man merkte es auch an dem gedrosselten Geräusch der Düsenaggregate.

Dennoch gab es Zwischenlandungen in Nowo-Sibirsk, Tomsk und Omsk. Auf dem Flug nach Westen kamen wir immer mehr in ein Schlechtwettergebiet großer Ausdehnung. Nach dem Start in Omsk reichten die verschiedenen Etagen der Schichtwolken bis in unsere Gipfelhöhe.

Beim Sinkflug tauchten wir in das Wolkenmeer ein. Wolken, nichts als Wolken! Am Höhenmesser, der eine Anzeige wie eine Uhr hatte, konnte man ziemlich genau die Höhe ablese: Ein Umlauf des großen Zeigers entsprach, wenn ich mich recht erinnere, 500 m. Nach einiger Zeit hatten wir noch 1000 m Höhe, ohne Bodensicht! Auch bei 100 m waren wir immer noch in den Wolken. Inzwischen hatten wir die Sitzgurte angelegt, und man hat uns mit ruhiger Stimme versichert, dass wir bald in Moskau landen würden. Als der Höhenmesser bei Null Meter Höhe angekommen war, lockerten sich die Wolken und schließlich landeten wir bei -80 m Höhe. Man hatte vergessen, in den Höhenmesser den zu erwartenden Luftdruck in Moskau einzugeben.

Im Jahr 1959 hatte Carl Zeiss Jena überraschend den Auftrag zur Lieferung eines Großplanetariums nach Japan erhalten. Obwohl man in Japan begonnen hatte, die Zeiss-Planetarien zu kopieren, ging der Auftrag an uns, weil wir kurzfristig ein erprobtes Gerät liefern konnten. Es sollte in Akashi aufgestellt werden, dem Ort, der in Japan auf dem Zonenzeit-Meridian liegt. Unsere Planetariumsspezialisten hatten termingemäß gearbeitet, und ich sollte das Gerät übergeben.

Nach Japan flog man damals mit vielen Zwischenlandungen „untenrum", d.h. über den Mittelmeerraum (Rom oder Athen), über den Nahen Osten (Kairo oder Beirut), über Arabien (Abu Dhabi oder Bahrein), dann Pakistan/Indien (Karachi, Bombay, New Delhi oder Kalkutta), dann Hinterindien (Bangkok, Rangoon, Singapur) schließlich über Hongkong oder Manila. Seit 1960 konnte man auch „obenrum" fliegen, über den Nordpol, der kürzesten Route. Ich war neugierig auf solch einen Flug zur Zeit der Mitternachtssonne und erhielt die Genehmigung für einen Flug mit der KLM auf der so genannten Polarroute. Die Rückreise wollte ich dann auf der bisher üblichen Route machen, weil ich in Indien einiges erledigen sollte.

Ich fuhr mit dem Zug durch die BRD nach Amsterdam und war rechtzeitig vor Abflug der Maschine auf dem Flughafen Schiphol. Die Maschine der KLM, eine DC 7c war extra für den Langstreckenflug konzipiert, und wir würden Japan nur mit einer Zwischenlandung in Alaska/Anchorage erreichen. Der Abflug sollte gegen 22 Uhr erfolgen und die Ankunft gegen 17 Uhr Ortszeit Tokio. Flugzeit der zwei Etappen je 11 Stunden mit einer Stunde Aufenthalt in Anchorage. Da war ja auch noch die Datumsgrenze, die wir überflogen, und die Mitternachtssonne.

In Amsterdam war es gegen 22 Uhr schon dunkel, als wir starteten. Kurz nach dem Start kam eine Ansage, dass die Maschine in Stavanger einen technischen Halt machen würde um aufzutanken. Wegen starkem Gegenwind würde mehr Treibstoff benötigt.

Es dauerte nicht lange, da wurden die Motoren gedrosselt. Mit der Aufforderung, die Sitzgurte zu befestigen, kam die Information, dass wir in Kürze in Stavanger landen würden. Draußen war es dunkel, und kein Licht war zu sehen. Das konnte sein, weil wir vom Meer her den Flugplatz anflogen oder weil wir noch in den Wolken steckten. Nur Geduld! Auf einmal heulten die Motoren auf, ich wurde in meinen Sitz gepresst, und aus dem Auspuff, den ich gut sehen konnte, schoss ein meterlanger Feuerstrahl. Offenbar mussten wir durchstarten, weil etwas beim Anflug nicht geklappt hatte. In der Kabine war kein Höhenmesser, so dass man nur vermuten konnte, was geschah. Die Maschine kreiste eine Weile, und das „Landespiel" lief zum zweiten Mal ab, und zwar genauso wie beim ersten Mal einschließlich Durchstarten. Die Lage erschien ernst, aber nicht hoffnungslos. Beim dritten Anflug endlich klappte es, und die Erde hatte uns wieder.

Im Transitraum erfuhren wir, dass wir tatsächlich vom Meer her angeflogen waren, aber wegen der schlechten Sicht konnte der Pilot die übliche Befeuerung der Landebahn nicht rechtzeitig erkennen. Um den dritten Anflug zu sichern, habe man auf der parallelen Landebahn Benzin ausgegossen und in Brand gesetzt. Wahrscheinlich kam so etwas in Stavanger öfters vor.

Nach dem Start wurde es bald hell, und wir überflogen den Nordpol mit gutem Blick auf die Eiswüste. Wir hatten eine Streckeninformation, die auf einem Zettel herumgereicht wurde, und es war erstaunlich, wie die Zeitangaben waren, z. B. wann wir das amerikanische Festland erreichen würden. Sehr interessant war der Flug über den Yukon-River. Nach der Landung in Anchorage wurden wir wieder in den Transitraum dirigiert, allerdings musste ich mein Transitvisum vorweisen, was sonst nicht gefordert wird.

Es war weiterhin heller Tag, wie würden 11 Stunden Flug nach Tokio benötigen und dort gegen 17 Uhr ankommen. Wie viel Uhr war es in Anchorage Ortszeit? Da ich nicht wusste, in welcher Zeitzone wir waren, gab ich die Rechnung auf, allerdings war ich sicher, dass wir erst am nächsten Tag ankommen würden. Das ließ mich nachdenken, ob ich denn für den verlorenen Tag Reisespesen bekommen würde? Verhungern würde ich jedenfalls nicht, denn wir wurden am laufenden Band mit allerlei Köstlichkeiten verwöhnt. Der Zielort des Flugzeugs war übrigens Djakarta, ehemals Holländisch-Ostindien, und so waren zahlreiche Indonesier an Bord, und das angebotene Speiseprogramm war entsprechend exotisch.

Nachdem der neue Zettel mit dem Flugverlauf durchgegeben worden war, fragte ich einen der Flugbegleiter, wieso der Kapitän so genaue Angaben machen könne. Ich sei Astronom und würde mich für die Flugnavigation interessieren. Nach einer Weile kam er aus dem Cockpit zurück und lud mich zu einem Besuch des „Allerheiligsten" ein. Es war ruhiges Sommerwetter und die Maschine wurde mittels Autopiloten gesteuert. So konnte mir der Kapitän die Sache erklären: Die jeweilige Ortsbestimmung erfolgte mit dem so genannten LORAN-Verfahren, Long Range Aviation Navigation. Das Flugzeug konnte zwei leistungsfähige Sender anpeilen, die ebenfalls jeweils zwei Winkel messen konnten. Die Basislänge zwischen den Sendern war bekannt. So konnten das Dreieck und der dritte Ort bestimmt werden. Dieses Verfahren hatten die Amerikaner während des 2. Weltkriegs benutzt, um die „Pathfinder" der Bomberflotten ans Ziel zu steuern.

Ich war schon einmal im Cockpit einer kleinen indischen Maschine gewesen, mit der ich im September 1955 von Kalkutta nach Neu Delhi flog. Dort wurde offenbar nach Sicht geflogen, denn man zeigte mir eine leporelloartige Karte im großen Maßstab, mit der ich das Gelände unter mir erkennen konnte. 40 Jahre später durfte ich auf dem Flug von Moskau nach Schönefeld in den Cockpit eines Airbus A 300. Ein himmelweiter Unterschied gegenüber früher, wo die Wände mit einer Unzahl von Anzeigeinstrumenten „tapeziert" waren, zweifach für Pilot und Co-Pilot. Nun war alles computergesteuert mit den Anzeigen auf Bildschirmen.

Die Landung in Tokio erfolgte also folgerichtig pünktlich, und mein japanisches Programm war sehr interessant.

Der Rückflug „untenrum" erfolgte wieder mit einer Superconstellation der AIR INDIA über Manila, Bangkok mit dem Ziel Kalkutta. Dort sollte ich das eingelagerte Groß-Planetarium inspizieren. Kalkutta kannte ich nur aus dem Winter 1955/56, und ich war ziemlich geschockt, als ich die Maschine verließ. Abgesehen von der feuchten Hitze war die Luft modrig von dem Sumpf in der Nähe des Flugplatzes. Im „Grand Hotel", das ich als ein relativ modernes Hotel in Erinnerung hatte, war die Klimaanlage im Speisesaal ausgefallen, und die Ventilatoren an der Decke bewegten träge die stickige Luft.

Eigentlich wollte oder sollte ich noch nach Karachi fliegen, aber die Zeit hatte in Tokio nicht gereicht, ein Visum zu erlangen. Ich musste irgendwie nach Bombay fliegen, denn von dort starteten die Überseeflüge der AIR INDIA westwärts. Die direkten Inlandsmaschinen Kalkutta–Bombay waren ausgebucht, über Neu Delhi nach Bombay wäre ein großer Umweg gewesen. Ich konnte dann, weil ich ein internationales Ticket hatte, mit einer AIR INDIA Maschine von Kalkutta nach Bombay fliegen. Es war diesmal eine Boeing 707, die um 18 Uhr startete. Das Geräusch der Düsentriebwerke beim Start kannte ich schon von der russischen TU 104, auch die starke Beschleunigung war mir vertraut. Es dauerte trotzdem fast eine Minute, bis wir abhoben. Kurz nach dem Abheben rumpelte es erheblich: die Fahrwerke waren eingezogen worden, dann waren wir bald auf 10.000 m Höhe, über uns der Sternenhimmel, unter uns die Finsternis des indischen Subkontinents.

Es war Monsunzeit und ich war froh, dass wir auf kürzestem Weg nach Bombay kämen, aber irgendwann würden wir schon etwas von den Regenwolken merken, die im Geschwader ankamen. Es sah aber anscheinend gut aus. Etwa eine Stunde vor der Landung glaubte ich sogar, Lichter am Boden zu sehen, dann begann der Sinkflug mitten in eine Wetterfront. Das Flugzeug, immerhin 50 Tonnen Leermasse, wurde hin und her, auf und ab geschoben und gestoßen. Ich hielt mich an meinem Sessel fest, den Sitzgurt unterstützend, wie in einer riesigen Achterbahn flogen wir dahin, allerdings ohne Looping! Eine Flugbegleiterin saß kreidebleich in meiner Nähe, wahrscheinlich war ihr das Ganze ebenfalls nicht geheuer. Der Pilot schien aber die Sache im Griff zu haben, denn nach einer halben Stunde landeten wir zur vorgesehenen Zeit mitten in einem Wolkenbruch. Wir mussten nach der Landung noch eine halbe Stunde in der Maschine bleiben, bis der Regen einigermaßen nachgelassen hatte. Während dieser Zeit startete eine TU 104 der CSA auf der benachbarten Startbahn, Guten Flug!

Auf der Fahrt mit dem Bus in die Stadt erfuhren wir, dass dies die erste Monsunfront des Jahres war. Alle Gullys waren verstopft, und Unterführungen standen unter Wasser.

Der Weiterflug nach Zürich über Beirut brachte keine Probleme, nur einen kleinen Spaß. Neben mir in der Maschine saß eine Deutsche mit zwei Kindern, die so um die 5 Jahre alt waren. Nach dem Start wollte der eine Steppke, dass die Mutter das Fenster öffnen sollte, damit frische Luft hereinkommt.

Von Zürich flog ich mit einer Maschine der Lufthansa nach Frankfurt am Main. Von dort aus ging es mit dem Zug nach Jena.

Es gab aber auch ganz normale Flüge in diese Gegend. 1962 flog ich von Prag über Moskau und Taschkent nach Neu Delhi und dann weiter nach Kalkutta, um dort das Planetarium zu übergeben, das ich 1956 an den Birla Trust verkauft hatte. Die Rückreise ging über Kairo, alles ohne Wetterkapriolen.

Nach Indien kam ich einige Jahre später wieder, um die Vorbereitungen für die Montage zweier 1-m-Teleskope zu besprechen, von denen eines in Nainital im Staate Uddar Pradesh im Norden Indiens und das andere in Kavalur in Mittelindien, halbwegs zwischen Madras und Bangalore gelegen, stehen sollte. Nach Abschluss der Besichtigungen und Besprechungen flogen wir von Madras nach Trivandrum an der Südspitze Indien. Dort gab es Interesse für ein Planetarium, und wir rechneten uns einige Chancen aus. Im dortigen Staat Kerala war nämlich die KP Indiens Regierungspartei. Nach Trivandrum wurde in kleinen Etappen mit kleinen Flugzeugen geflogen, denen man die Militärtransportmaschine noch ansah oder die einem indischen Bus in der Ausstattung ähnelte. Die DC 2 war einfach und robust gebaut. Ich glaube sogar, dass das Fahrwerk wie bei der deutschen JU 52 fest angebaut war. Es gab auch kein Bugrad, nach der Landung war das Spornrad der dritte Unterstützungspunkt. Ich wurde von Mr. Alvarez von unserer Vertretung in Bombay begleitet, der mir erklärte, dass diese Maschinen von erfahrenen Militärpiloten geflogen würden, vor allem wegen der Überquerung des Gebirges an der Westküste.

Auf dem Hinflug merkten wir nichts, abgesehen von den vier Zwischenlandungen. Am Tag unseres Rückflugs türmten sich die Kumuluswolken über dem Gebirge, allerdings waren sie noch weiß gefärbt. Nach dem Start stieg die Maschine immer höher, bis es allmählich sogar kalt in der Kabine wurde. Der Pilot wollte die Wolken offenbar überfliegen, was ihm auch gelang, denn es gab nur minimale Turbulenzen. Die erste Zwischenlandung verlief glatt, der Himmel sah wie ein Sommerhimmel aus. Bei der zweiten sahen wir schon ein paar Pfützen auf dem Beton am Warteplatz, bei der dritten musste es gerade geregnet haben. Als wir aber den letzten Flugplatz vor Madras erreichten, schien es Nacht werden zu wollen. Dunkle Wolkengebirge, wohin man auch sah. Wir waren anscheinend durch eine dünne Stelle zum Flugplatz gekommen.

Eigentlich hatte ich keine Lust, mich in dieses Chaos zu begeben. „Kann man auch mit der Bahn nach Madras fahren?", fragte ich Alvares. „Ja, aber die Fahrzeit beträgt 24 Stunden!" Mit dem Flugzeug waren es zwei Stunden. Schließlich blieben wir im Flugzeug, denn wir waren überzeugt, dass die Piloten ihr Handwerk verstanden und ebenfalls heil nach Hause kommen wollten.

Eine kleine Maschine muss gegen den Wind starten, um Auftrieb zu bekommen. Bei einem Gewitter kommt der Wind aus der dunkelsten Ecke. So starteten wir ins Gewitter hinein, aber kaum hatten wir einige Höhe, machte der Pilot eine 180°-Wendung und flog in die Richtung, in der noch hellere Wolken zu sehen waren. Es gab aber kein einfaches Reißaus, bald waren wir mitten im Gewitter drin. Um uns zuckten Blitze, und zugleich gab es starke Turbulenzen, auf und ab, wie in einem Expressfahrstuhl. Donner war natürlich nicht zu hören, und so erprobte ich eine Autosuggestion: Ich schloss die Augen und überzeugte mich, dass es zwar heftige Turbulenzen seien, aber bald würden wir durch sein! Ich musste mich wieder an der Sitzfläche festhalten, aber blieb im „Sattel". Nach einer halben Stunde war tatsächlich der Spuk vorbei. In Madras strahlte der Sternenhimmel, von keinem Wölkchen getrübt.

In der Zeit von 1959 bis 1979 flog ich achtmal in Richtung USA und Kanada und lernte dabei die Entwicklung des Flugverkehrs zu und in den beiden Ländern kennen. Start- und Zielhafen in Europa waren in dieser Zeit Amsterdam oder Kopenhagen. Zuerst flog die KLM mit der viermotorigen DC 7C in 12 Stunden nach New York im Direktanflug. Es gab aber auch Flüge mit Zwischenlandungen in Shannon/Irland oder in Gander auf Neufundland. Auf der Westroute dauerte der Flug wegen des häufigen Gegenwinds zwei Stunden länger als der Rückflug. Mein erster direkter Flug nach Kanada war für Januar 1965 vorgesehen. Ich sollte mich um die Vorbereitungen der Errichtung unseres ersten Groß-Planetariums in Calgary kümmern.

Der Abflug über den Atlantik sollte in Kopenhagen beginnen. Da der Starttermin am frühen Morgen lag, sollte ich dort übernachten, auf Kosten der SAS-Fluggesellschaft, wie sonst üblich. Mein Zubringer war eine IL 18 der Bulgarischen Fluggesellschaft Balkan Air, die am Nachmittag in Berlin-Schönefeld starten würde. So konnte ich einen Vormittagszug von Weimar nach Berlin nehmen. Ich hatte eine Platzkarte und fand mein Abteil in einem eigentümlichen D-Zugwagen, der vorn und hinten quasi halbe Abteile hatte. Dort hatte ich auch Gesellschaft mit einem anderen Dienstreisenden, der ebenfalls mit der bulgarischen Maschine nach Kopenhagen und dann weiter nach Oslo fliegen wollte. Welch ein Zufall!

Die Abfertigung auf dem Flughafen war nicht aufwendig, wir waren nämlich die einzigen Passagiere, die in Schönefeld zustiegen. Im Flugzeug gähnende Leere, vielleicht drei Bulgaren, wenn ich mich recht erinnere, darunter auch eine ältere Frau, die ich als eine bulgarische Bäuerin angesehen habe. Wohin wollte sie? Das erfuhr ich gleich nach der Landung in Kopenhagen. Die SAS-Betreuerin, die sich meiner annahm, fragte mich, ob ich mich um diese Frau auf der weiteren Reise kümmern könne. Sie sei wie ich auf dem Weg nach Toronto und spreche nur bulgarisch. Wir würden im gleichen Hotel untergebracht und es käme darauf an, dass sie nicht den Abflug verschläft. Gegen 6 Uhr sollten wir aufstehen, und ich machte es ihr mit ein bisschen Russisch und Mimik klar. Es klappte auch alles, und unser Flugzeug hob pünktlich ab. In Jena und Berlin hatte es noch keinen Schnee gegeben, aber nach dem Start flogen wir durch leichte Schneeschauer. Welches Wetter würden wir in Kanada vorfinden?

Zielflughafen war Montreal, der Flugweg führte an Island, der Südspitze Grönlands vorbei in Richtung Goose Bay. Alles schien normal zu verlaufen, wir erreichten die Etappenziele pünktlich, und bald würden wir am frühen Nachmittag Ortszeit in Montreal landen. Der Sinkflug begann in großen Schleifen, was man an der wandernden Sonne erkennen konnte. Unter uns lagen dicke Wolkenmassen, in die wir allerdings nicht eintauchten. Nach der dritten Runde kam die Ankündigung: Wegen eines Schneesturms über Montreal könnten wir nicht landen und würden nach New York umgeleitet. Schön, dann eben mal wieder in New York!

Nach einiger Zeit hatten wir Bodensicht, aber ich suchte vergeblich nach irgendwelchen markanten Bodenformationen, Orten oder Flüssen. Im Landeanflug kamen wir aufs Meer hinaus und kurz vor der Landung sah ich eine große Inschrift „BOSTON". Glatt gelandet merkten wir nichts von einem Schneesturm. Mit uns waren andere transatlantische „Flieger" in Boston geparkt, darunter eine andere SAS, die nach Chicago fliegen sollte. Nun hieß es erst einmal warten.

Allerdings mussten wir die Prozedur der US-Immigration über uns ergehen lassen. Unsere Pässe wurden einbehalten, und dann durften wir in den Transitraum. An einem Zeitungsstand fand ich die Mittagsausgabe einer New Yorker Boulevard-Zeitung mit großen Schlagzeilen: „N.Y. Airports Closed because of Slush ans Sleet". Matsch und Schneeregen hatten die Rollbahnen zu Rutschbahnen gemacht. Über 400 Flugzeuge waren umgeleitet worden. Deswegen konnten wir nicht landen. Wie würde es weiter gehen? Ich wusste es nicht, hatte aber noch das Problem, der Bulgarin klar zu machen, wo auf dieser Welt wir uns befanden. Sie hatte Adresse und Telefonnummer ihres Sohnes in Toronto bei sich, den sie besuchen wollte. Unsere SAS-Betreuer riefen dort an, und Mutter und Sohn hatten sich zuerst einmal telefonisch getroffen.

Ich nahm dann Kontakt mit dem SAS-Vertreter auf und erklärte ihm, dass ich gar kein Interesse habe, nach Montreal zu kommen. Darüber hatte man sich auch schon Gedanken gemacht und die Passagiere nach Montreal und die nach Chicago „vermischt". Der Flug nach Chicago sollte aber auf alle Fälle über New York erfolgen.

Es wurde schon dunkel, als die Passagiere der SAS nach New York aufgerufen wurden. Aber nicht nur das, das schlechte Wetter schien auch nach Boston kommen zu wollen. Wir flogen jedenfalls durch Schneewolken und gewannen Höhe. In dreißig Minuten sollten wir in New York sein, was prinzipiell stimmte, aber wir waren erst einmal „über" New York und flogen eine Schleife nach der anderen, etwa dreißig Minuten lang, allerdings mit besserer Stimmung. Wir hatten gute Bodensicht und ich erkannte New York und das Umland. Als wir gelandet waren, gab es eine geringe Chance, noch am selben Abend nach Toronto weiterzufliegen. Die Abendmaschinen waren ausgebucht, weil zu wenige Maschinen von Toronto nach New York gekommen waren.

Wir wurden in einem Hotel auf dem Flughafengelände untergebracht, und ich rief von dort meine Frau an, die mich bereits in Toronto wähnte. Am nächsten Morgen flogen wir mit American Airlines in einer DC 9 nach Toronto, und ich konnte meine bulgarische Mitreisende ihrem Sohn übergeben. Mein kanadischer Betreuer, Risty Perotto von der Firma Jena Instruments, empfing mich am Flugplatz. Nichts war von einem Wintereinbruch zu merken. Solche Wetterkapriolen seien im Winter nichts Ungewöhnliches. Ein riesiger Schneegürtel baue sich auf, wenn aus dem Norden eine Kaltfront Polarkälte herantreibt, die durch kein Gebirge aufgehalten wird.

Zum Schluss will ich noch zwei Sprüche wiedergeben: „Heruntergekommen sind sie immer!" und „Erzählen kann nur der, der nach Hause gekommen ist!"

Flugabenteuer und seltsames: die Sonne im Norden

Wie es der Zufall so will, treffe ich auf dem Teichgraben am 20. Juni 2002 einen alten Bekannten, von dem ich lange nichts gehört hatte. Kein Wunder, denn er lebt seit langem in Australien, und ich traf ihn bei sich zu Hause in Melbourne im März 1968. Ich kannte ihn aber schon länger, denn er war immer wieder einmal in Jena zur Vertreterkonferenz oder auf der Leipziger Messe. Er gehörte zu den Technischen Kaufleuten von Zeiss und war irgendwie nach Australien gekommen und dort geblieben.

Er erkannte mich eher als ich ihn, aber als das Stichwort Melbourne fiel, wusste ich, es war Martin Schade. Er hatte sich wenig verändert, und man sah ihm sein Alter (Jahrgang 1931) nicht an. Er war seit langem australischer Staatsbürger und nun „senior citizen", den im schlimmsten Fall nach australischem Recht ein soziales Netz auffangen würde. Ich hatte davon schon bei einer anderen Gelegenheit gehört, bei Bedürftigkeit wird eine Mindestrente mit finanziellen Zuschüssen garantiert.

Martin Schade hatte eine längere „Wanderung" vom Heiligenberg ins Stadtzentrum unternommen und war auch am Friedhof vorbeigekommen. Dort war er auch am Grab von Hugo Schrade und hatte sich gefreut, wie gut es gepflegt war.

Dann fragte ich ihn nach seiner Familie, denn die Schades haben, wie wir, sechs Kinder: Recht stolz erzählte er, dass alle eine Universitätsausbildung haben, zwei Zahnärzte, zwei Chemiker und zwei andere technische Berufe!

Er fragte nun mich, ob ich damals mit seiner Frau das Gastspiel von Marlene Dietrich besucht hätte. Das war so und ich werde noch darauf zurückkommen.

Über Australien wusste ich, auch aus den Erzählungen von Martin Schade, nicht sehr viel. Die ehemalige Sträflingskolonie wurde wahrscheinlich in der Oberschule in Erdkunde behandelt, dann hatte ich 1961 in Berkeley die eigenartige Sprechweise der Australier kennengelernt. Dort traf ich vor dem Beginn der Gereralversammlung der Internationalen Astronomischen Union auf australische Astronomen, die ein eigenartiges Englisch sprachen. Diesen „slang" hat man mit einem Spruch charakterisiert, der schwer aufzuschreiben ist. Wenn man das Lied kennt aus „My Fair Lady", „The rain in Spain stays mainly in the plain", dann funktioniert es in etwa: Die „ai"-s werden wie die deutschen „ei"-s gesprochen. Das gilt auch für die „a"-s in dem Spruch: „What is a basin (beisin)?" „That´s, where the Australians wash their face (feice) in!" Dann gab es noch die Geschichte, vermutlich durch die vielen Einwanderer aus dem Nachkriegsdeutschland verbreitet, dass man in Australien riesige Fleischmengen in Form von Steaks verzehre und kaum Kartoffeln!

Zu den Einwanderern gehörte auch der Astronom Dr. Heinz Gollnow aus Göttingen, der an der Sternwarte in Canberra Anstellung gefunden hatte. Dort war nach dem Krieg ein 1,88-m-Spiegelteleskop von Grubb Parsons aus Newcastle/Großbritannien in Betrieb genommen worden, und Gollnow richtete eine Anfrage nach einem Prismenspektrographen an Carl Zeiss Jena. Er war mit dem damaligen Leiter der Astroabteilung, Dr. Georg Hartwig, bekannt, und es kam zu einem Auftrag gegen Ende der 50er Jahre. Ich hatte damals die Möglichkeit, dieses Spezialgebiet kennenzulernen, und kümmerte mich um die Erprobung der Baugruppen und des fertiggestellten Spektrographen. Es gab Zeitverzug, weil die Erprobung aufwendig war, und entsprechendes Drängen aus Canberra. Man hatte, wie sonst üblich, eine Anzahlung geleistet, und war besorgt, dass irgendwann die kommerziellen Bande zerstört würden. Dabei war das Teleskop noch nicht soweit erprobt, dass man den Spektrographen dringend benötigt hätte.

Ohne abgeschlossene Erprobung wurde der Spektrograph geliefert, und es wurde auch prompt einiges erkannt, was wir ohne weiteres noch in Ordnung gebracht hätten, wenn dazu Zeit gewesen wäre.

Wenn man im englischen Sprachgebiet von Australien spricht, dann wird die Gegend dort auch „Down under!" genannt und man denkt dabei, dass die Australier quasi „kopfüber" leben. Davon merkt man natürlich nichts, aber der Himmel ist ganz anders, bekannte Sternbilder, wie der Orion, stehen tatsächlich auf dem Kopf. Es gibt keinen südlichen Polarstern, mit dem man so bequem mittels Großem und Kleinen Wagen die Himmelrichtung finden kann. Dafür muss das Kreuz des Südens herhalten, das in Australien aber nicht zirkumpolar ist. Man kann da leicht in Schwierigkeiten kommen.

Auf dem Gebiet der Teleskope hatten wir mit starker Konkurrenz aus England zu rechnen, aber es gelang uns doch, ein 500-mm-Spiegelteleskop mit zugehöriger 5-m-Kuppel nach Auckland/Neuseeland zu verkaufen. Wie ich später erfuhr, hatten wir die Firma Grubb Parsons wegen unseres niedrigen Preises sehr geärgert, was uns gar nicht bewusst war. Unser Problem waren nicht die Preise der technischen Ausrüstungen, sondern vielmehr die Montagekosten. Nach einem ersten Überschlag wären sie höher gewesen, als die Ausrüstung gekostet hatte. Schon allein die Reisekosten waren erheblich, und es wurden auch mehrere Leute verschiedener Qualifikation benötigt. Das Problem löste sich in Wohlgefallen auf, weil Techniker der Sternwarte Canberra diese Arbeit übernahmen.

Es ging um Planetariumsprojekte in Australien, weshalb ich im März 1968 dorthin reisen sollte. In Sydney war man schon fast in der Planungsphase, aber auch in Melbourne und Canberra hofften wir und unsere australische Vertretung, Interessenten zu finden. Unsere Position war eigentlich günstig: Wir hatten drei Großplanetarien gegen starke Oberkochener Konkurrenz nach Kanada (Calgary, Toronto und Vancouver) geliefert. Wir hatten dabei einen technischen Vorsprung unter Beweis stellen können. Seit 1960 nahmen neue Großplanetarien von Carl Zeiss Jena in Akashi/Japan, Kalkutta/Indien, Colombo/Ceylon und Jakarta/Indonesien den Betrieb auf. Schließlich hatten wir 1967 das neue Raumflug-Planetarium „SPACEMASTER", das erste Planetarium mit automatischer Steuerung, auf den Markt gebracht.

Die Reise sollte nicht lange dauern, weniger als zwei Wochen, was auch reichen würde, wenn vor Ort alles gut vorbereitet wird. Sydney, Melbourne und Canberra waren die Stationen.

Allerdings sollte ich zuvor in der VAR, wozu Ägypten damals gehörte, wegen eines Satellitenbeobachtungsgerätes mit dortigen Militärs verhandeln. Kairo lag einerseits ohnehin auf der Strecke, andererseits verlangten es auch die sogenannten Flugroutenvorschriften der DDR, soweit wie möglich mit der DDR-Fluggesellschaft Interflug zu fliegen, dann wieder so weit wie möglich mit einer Fluggesellschaft eines anderen RGW-Staates.

Ich sollte also dann von Kairo aus mit der CSA, der ČSSR-Fluglinie nach Singapur und dann mit BOAC, der Britischen Übersee-Fluggesellschaft, nach Sydney fliegen.

Der Beginn meiner Reise war auf einen Montag festgelegt. Unglücklicherweise war der Starttermin in Berlin-Schönefeld gegen 8 Uhr morgens. Der übliche D-Zug nach Berlin, die „Bonzenschleuder", kam dort erst um 9 Uhr an. Der frühere Zug fuhr in Jena um Mitternacht ab und war gegen 4 Uhr morgens in Schönefeld, nicht gerade die beste Verbindung! Da gab es noch eine Chance, mit einem Dienstwagen mitgenommen zu werden. Der Dienstwagen fuhr auch, aber er war schon ausgebucht. Also um Mitternacht zum Saalbahnhof! Eigentlich auch kein Problem, denn ich hatte nur relativ leichtes Gepäck. In Australien würde ich mit leichter Kleidung auskommen. Deshalb wollte ich laufen. Allerdings verschlechterte sich das Wetter zum Wochenende in solchem Maß, dass es am Sonntagabend begann, in Strömen zu regnen. Keine Chance, eine Taxe zu bekommen!

So machte ich mich auf den Weg. Als Regenmantel die sogenannte „Nato-Plane", in der rechten Hand den Koffer, in der linken Hand die Aktentasche. Na ja, tröstete ich mich, wenn ich auch nass am Saalbahnhof ankomme, der Zug ist sicher geheizt, und bis Berlin bin ich gewiss wieder trocken.

Dann erwartete ich, dass nicht viele Leute mitfahren und ich eine Chance habe, mich schlafen zu legen in der Polsterklasse. Der Zug kam, und es gab uralte Waggons, ähnlich denen der damaligen Personenzüge, links ein Platz, dann der Gang, rechts zwei Plätze. Es war nichts mit hinlegen und schlafen, und es gab auch keine wärmende, trocknende Heizung. Was soll´s, umkehren konnte ich nicht. Irgendwie döste ich in einer Ecke und irgendwie wurden meine Sachen auch trocken.

Als ich um 4 Uhr in Schönefeld ankam, hatte sich das Wetter eher verschlechtert. Im Flughafengebäude ging es zu wie in Gorkis „Nachtasyl", aber es gab nichts, worauf man sich etwas ausruhen konnte. Die Sessel waren unbequem und dann kamen nach einiger Zeit die Reinigungsbrigaden. Und der Wind peitschte in Böen Regenschauer gegen die Fenster der Halle.

Schließlich kam die Zeit der Abfertigung, bei Fernflügen etwa 2 Stunden vor Abflug. Nach dem üblichen Ritual einschließlich Zollkontrolle war ich in der „Abflughalle". Die war noch im alten Flughafengebäude, alles spielte sich zu ebener Erde ab, man hatte aber keinen Ausblick auf das Flugfeld.

Es warteten noch andere Flugpassagiere, aber ich konnte zunächst nicht erkennen, wer mit nach Kairo fliegen würde. Immerhin hätten in der viermotorigen Turboprop-Maschine IL 18 eine Menge Leute Platz gefunden. Dann kam ein Aufruf: „Aus technischen Gründen verschiebt sich der Abflugzeitpunkt für die Maschine nach Kairo um voraussichtlich 2 Stunden."

So ein Mist! Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich mit der Bonzenschleuder rechtzeitig in Schönefeld angekommen.

Dann wurde eine andere Maschine nach Bratislava aufgerufen. Etwa 20 Leute gingen zum Ausgang, sie wollten mit einer zweimotorigen Propellermaschine IL 14 fliegen, was wegen des schlechten Wetters sicher keinen Spaß machen würde.

Nach etwa einer Stunde öffneten sich die Ausgangstüren, aber diesmal, um eine Gruppe einzulassen. Es waren die Leute, die nach Bratislava abgeflogen waren, aber wegen schlechter meteorologischer Bedingungen dort nicht landen konnten.

Etwa alle zwei Stunden wurden wir für weitere zwei Stunden vertröstet, aber das Wetter wurde nicht besser. Natürlich ließ man uns nicht verhungern, doch das besserte die Stimmung auch nicht.

Je später es wurde, um so mehr dachte ich an ein Visa-Problem. Mein Einreise-Visum für die VAR lief um Mitternacht ab, und die Zeit wurde allmählich knapp. Schließlich starteten wir gegen 18 Uhr und merkten eigentlich nur im Steigflug etwas von den Wetterkapriolen. Da es Nacht war, konnten wir auch nichts am Boden sehen. Nach dem Abendessen döste ich vor mich hin, bis wir gegen Mitternacht Ortszeit in Kairo landeten.

Dort erwarteten mich Kollegen der Zeiss-Vertretung, die dort offenbar bekannt waren. Ohne weitere Fragen erhielt ich meinen Stempel. Diese Hürde hatte ich übersprungen.

Im Transit nach Indien war ich im September 1955 ebenfalls mitten in der Nacht in Kairo gelandet und wunderte mich damals über die Männer, die quasi in Nachthemden gekleidet waren. 1962 machte ich auf der Rückreise aus Kalkutta einen Zwischenstopp von einigen Tagen und lernte das Land etwas näher kennen, natürlich auch die antiken Sehenswürdigkeit um Kairo. Die ägyptischen Astronomen wollten Sonnenforschung betreiben, und per Zufall traf ich den bekannten west-deutschen Sonnenforscher Kiepenheuer. Er testete an einem See in der Oase El Fayum die Sichtbedingungen für Sonnenbeobachtung.

Eine Reise nach Ägypten fünf Jahre später wäre nicht ratsam gewesen, denn durch den sogenannten „Sechs-Tage-Krieg" war der Nahe Osten in einer kritischen Lage. Im März 1968 schien sich die Lage beruhigt zu haben, aber vielleicht nur von Mitteleuropa aus gesehen. Die Zeiss-Leute in Kairo hatten ein waches Ohr, aber das Informationsangebot der damaligen Zeit war nur spärlich. Viel Zeit zum Überlegen war nicht. Ich absolvierte das Besuchsprogramm an den beiden folgenden Tagen und bereitete meine Weiterreise für den Donnerstag vor. Da kam auf einmal das Gerücht auf, israelische Panzer wären wieder irgendwo, irgendwohin in Marsch.

So war ich froh, als ich auf dem Kairoer Flugplatz die Düsenmaschine TU 104 der CSA sah, mit der ich weiterfliegen wollte. Zu meiner Überraschung traf ich im Transitraum, in dem sich auch die Passagiere ab Kairo sammelten, zwei mir gut bekannte Zeiss-Kollegen. Mit S. war ich längere Zeit in Indien und China gewesen, N.N. war in der Werbeabteilung für die Organisation von Zeiss-Ausstellungen tätig. Beide waren auf dem Weg nach Japan, wo sie eine Zeiss-Ausstellung betreuen sollten. Sie hatten ebenfalls in Folge der schon erwähnten Vorschriften Singapur als Ziel. Gut, in Gesellschaft reist es sich besser!

Die TU 104 kannte ich schon von meinen Reisen nach China, Indien und innerhalb der UdSSR. Dabei waren die Maschinen meistens ausgebucht, und ich musste mich irgendwie in die Sitzreihe zwängen. Diesmal war das Flugzeug höchstens zu 30% besetzt. Trotzdem waren die Sitzreihen sehr eng aneinander gereiht, und ich musste mich quer plazieren.

Obwohl die TU 104 als Langstreckenflugzeug angepriesen wurde, gab es häufige Zwischenstopps. So sollten wir, wenn ich mich recht erinnere, in Abu Dhabi, Bombay, Bangkok, Rangoon und Kuala Lumpur zwischenlanden, bevor wir nach Singapur kämen. Soweit kamen wir aber nicht!

Nach der Landung in Bombay wurden wir aus dem Flugzeug in die Transithalle gebeten, wo Erfrischungen angeboten wurden. In einer Stunde sollte es weitergehen.

Nach einer Stunde, es war noch dunkel draußen, wurden wir über eine Verzögerung informiert. Es schien ein technisches Problem zu geben. Nach einer weiteren Stunde rückte man mit der Wahrheit heraus: Auf dem Flugfeld sei ein LKW mit einer der Tragflächen der TU 104 kollidiert. Es sei kein merklicher Schaden entstanden, aber das Risiko eines verdeckten Schadens wollte man nicht eingehen. Wir hatten auch keine Lust, als Versuchskaninchen zu dienen. Wie kommen wir weiter?

Es gab zunächst die Variante, eine Ersatzmaschine aus Prag zu holen. Das würde sicher 10 bis 12 Stunden dauern, selbst wenn die Entscheidung dazu unverzüglich fiele. Dann waren unsere Anschlussflüge in Singapur nicht mehr zu erreichen. Nahezu akademisch war die Frage, ob es nicht eine Möglichkeit für mich gäbe, mit einer Inlandsmaschine der Indian Airlines nach Kalkutta zu fliegen, um dort schon in die BOAC-Maschine einzusteigen, die ich ohnehin ab Singapur nutzen würde.

Zeitmäßig war das kein Problem, aber die DDR-Bürokratie hatte vorgesorgt. Die Flugscheine waren nicht auf andere, insbesondere „westliche" Fluggesellschaften transferierbar. Wir saßen fest und wurden zunächst in ein Hotel in Bombay verfrachtet mit dem Trost, am Abend käme die Ersatzmaschine aus Prag.

Wir bezogen ein Drei-Bett-Zimmer und holten erst einmal den versäumten Schlaf nach. Gegen 22 Uhr sollte es weiter gehen, aber das war nur ein Gerücht. Es kam keine Ersatzmaschine aus Prag, und es würde erst am nächsten Tag weitergehen.

Die Lösung für mich war: Ein Inlandsflug bis Madras, von dort mit AIR INDIA über Perth nach Sydney. Wie die anderen nach Japan gekommen sind, habe ich nicht gefragt.

Ich habe nun keine genauen Erinnerungen mehr, wann ich in Madras war und wann es weiterging. Die Entfernung Madras-Perth-Sydney ist beträchtlich und die Flugzeit lang, trotz Boeing 707, schließlich kam auch noch die Ortszeitdifferenz dazu. Erst am nächsten Morgen landeten wir.

Am Flugplatz bei der Einreisekontrolle schien ein Pass weniger wichtig zu sein. Aber es wurde scharf kontrolliert, ob irgendwelche Lebensmittel oder Pflanzenteile eingeführt wurden. Die Geschichte mit der Kaninchenplage in Australien ist bekannt. Neben mir im Flugzeug saß ein Tscheche, der Verwandte in Australien besuchen wollte. Er hatte als Gastgeschenk eine erstklassige Salami mitgebracht, die der Beamte ungerührt im hohen Bogen in den Abfallkübel warf.

Ich wurde von Mitarbeitern unserer Vertretung abgeholt, es war immerhin Samstag, aber noch Betrieb in den Büros.

Allerdings wurde ich zunächst nach Melbourne weitergereicht, und ich merkte bald, dass in Australien ein Flugzeug als ein schienenloser D-Zug angesehen werden kann. Die Passagiere sahen so aus, als ob sie mit dem Bus eine Landpartie machen würden.

Textfolge: Flugabenteuer……….

Nach der Ankunft auf dem Flughafen bemerkte ich, wie streng die Lebensmittelkontrolle auch innerhalb Australiens ist. Auf dem Vorfeld, gleich neben dem gelandeten Flugzeug, standen große Behälter, in die irgendwelche „Mitbringsel" im hohen Bogen flogen.

Ich wurde von Martin Schade abgeholt, mit dem noch das weitere Programm besprach, und der mich auch außerhalb der Dienstzeit betreute.

Melbourne, die Stadt der Olympischen Spiele 1956, bot aus Zeitgründen nicht viel zum „Sightseeing", abgesehen vom Botanischen Garten, den wir allerdings nur aus dienstlichen Gründen besuchten. Es gab in Melbourne einen Ortsverband der Royal Astronomical Society, der auch eine Monatszeitschrift herausgab. Als Tauschexemplar für die Jenaer Rundschau kam sie regelmäßig in meine Hände. Einer der Herausgeber bemühte sich eifrig um ein Planetarium für Melbourne. Er war Amateur-Astronom und Mitarbeiter im Botanischen Garten, daher der Dienstbesuch.

Das Ergebnis des freundlichen Gedankenaustauschs war, dass offenbar die Zeit für ein Planetarium für Melbourne noch nicht reif war. Es gab weder ein staatliches noch städtisches Projekt, in das man ein Planetarium hätte einordnen können. Auch private Sponsoren waren nicht in Sicht.

Einen Teil der Zeit in Melbourne verbrauchte ich für weitere Reise-vorbereitungen. Da die Vertretung von Carl Zeiss Jena in Australien zu der australischen Fluggesellschaft ANZAS (Australia New Zealand Air Service) gehörte, schien mir das einfach, wobei ich mich allerdings irrte. Der Abstecher nach Canberra war natürlich kein Problem. Schon eher die Rückreise mit der CSA ab Singapur, die allerdings nur einmal in der Woche flog.

Das wäre an sich auch kein Problem gewesen. Aber es gab inzwischen eine neue Aufgabe für mich: In Burma gab es ein großes, sehr großes Observatoriumsprojekt. Dort sollte ich die Lage sondieren, „weil ich einmal in der Gegend war".

Die Sache war höchst kompliziert, weil eine Einreise, auch mit einem Transitvisum, zeitlich streng limitiert war. Man durfte nur einreisen, wenn man innerhalb von 24 Stunden wieder ausreist, und man musste dafür eine feste Buchung haben.

Bei ANZAS schaute man in die „Bibel" der internationalen Flugverbindungen, und es gab tatsächlich, einmal pro Woche, eine solche Möglichkeit, bei der eine Maschine abends gegen 22 Uhr ankommt und eine andere am nächsten Abend gegen 23 Uhr abflog. So weit, so gut! Nun benötigte ich das Transitvisum, das ich bei der Burmesischen Botschaft in Canberra bekommen würde. Da ich sowieso nach Canberra musste, erschien das auch kein Problem.


In Canberra besuchten wir das Observatorium auf dem Mt. Stromlo, das kurz zuvor von Waldbränden bedroht war. Dort lernte ich auch Dr. Gollnow kennen, der inzwischen mit dem Zeiss-Spektrographen vertraut war. Ich erklärte ihm noch einmal, was ich vor Jahren schon schriftlich erklärt hatte, dass es uns nur an der Zeit gefehlt hatte, um das Gerät vollständig zu erproben und zu optimieren. Bei einem Folgegerät hatten wir praktisch die gleichen Erfahrungen wie Dr. Gollnow gemacht, und das Gerät arbeitete einwandfrei an einem 600-mm-Teleskop in Sonneberg.

Bei der Burmesischen Botschaft war man sehr freundlich, verlangte aber zwei Passbilder. Ich hatte aber keine Passbilder für den Visumantrag. Heute wäre so etwas richtig lachhaft, aber damals, 1968, war es weder in Melbourne noch dann in Canberra möglich, Passbilder sofort zu erhalten. Es hätte mindestens drei Tage gedauert. In Athen hatte ich dereinst erlebt, wie pfiffig ein Straßenfotograf Passbilder herstellte. Mit einer alten Plattenkamera mit doppeltem Auszug fotografierte er das Passbild im Pass. Anstelle eines Films oder einer Platte verwendete er Fotopapier, das er schnell entwickelte. Das noch nasse, kaum gewässerte Papiernegativ klemmte er an die gleiche Halterung, die zuvor den Pass aufgenommen hatte. Dann wurde das Negativ fotografiert und zwar wieder auf Fotopapier. Das ganze dauerte eine Viertelstunde, die Qualität war nicht berühmt, aber dem Zweck angepasst. Doch auch das Problem ließ sich lösen. Im Physikalischen Institut der Universität, das wir besuchten, hatte einer der Mitarbeiter eine Polaroid-Kamera, und ich hatte bald darauf mein Visum.

Die Buchung wollte ich in Sidney machen, wo ich auch Nachricht aus Jena erwartete, mit der mir eine Abweichung von der Flugroutenvorschrift genehmigt wurde. Ich hätte mit BOAC fliegen sollen und wollte in deren Büro die Buchung bestellen. Es dauerte eine ganze Weile, die ABCs wurden gewälzt, auch telefoniert. Dann kam die niederschmetternde Antwort: „Sorry! Es gibt keine solche Verbindung! Das ganz ist ein Druckfehler. Es ist dieselbe Maschine, die um 22 Uhr ankommt und um 23 Uhr weiterfliegt. Eine Zahl, die Kurzbezeichnung für den Wochentag, war verdruckt. Also war es nichts mit einem Aufenthalt in Burma. Auch nicht schlecht, dann flog ich eben mit der Maschine weiter.

Natürlich waren dies nur Nebenaufgaben. In Sydney sah es so aus, als ob bessere Aussichten für ein Planetarium bestehen. Es gab schon ein Projekt der Stadtplanung, über das bereits im Magistrat beraten wurde. Sydney sollte nach der Harbour Bridge und dem weltberühmten Opernhaus ein weiteres Wahrzeichen bekommen, den Sydney City-Tower. In diesen Komplex sollte das Planetarium integriert werden. Es gab verschiedene Besprechungen. Im Magistrat war allerdings der Verantwortliche „out of town", und auch das Architekturbüro musste sich mehr um den eigentlichen Turm kümmern als um das Drumherum. Mit solchen Situationen war ich vertraut. Im Januar 1965 hatte ich fast einen Monat in Toronto zugebracht, bis ich alle Interessenten und Verantwortlichen für ein geplantes Planetarium „abgeklappert" hatte. Begonnen hatte ich im Sommer 1959 und im Sommer 1965 erhielten wir dann den Auftrag.

Zu den Schwierigkeiten bei solchen Verhandlungen gehörte, dass ein DDR-Bürger bis zu 6 Wochen auf ein Visum warten musste und normalerweise dem noch 4 Wochen Wartezeit vorgeschaltet waren, bis der Reiseantrag von den DDR-Behörden genehmigt wurde. Es war aber praktisch unmöglich, solche Verhandlungen nur durch die örtliche Zeiss-Vertretung und auch nicht von Jena aus zu führen, nichtzuletzt wegen des noch niedrigen Niveaus der internationalen Kommunikation. Die Telefonverbindungen waren so schlecht, dass man sie nur zum Informationsaustausch, aber nicht zu irgendwelcher Konversation verwenden konnte.

An einem Sonntag beschloss ich, die Umgebung meines Hotels zu Fuß zu erkunden. Ich wohnte am „King´s Cross" in der Nähe des Brunnens, der den australischen Gefallenen des 2. Weltkriegs gewidmet war. Aus einer Unzahl radial angeordneter Röhrchen kam das Wasser, wurde aber am Ende jedes Röhrchens durch eine Prallplatte in eine kreisförmige Wasserscheibe verwandelt. In der Gesamtwirkung entstand so das Bild einer Wasserkugel, ähnlich einer riesigen Pusteblume.

Ich hatte einen Stadtplan bei mir und war sicher, wieder den Weg zurück zum Hotel zu finden. So machte ich es immer, wenn ich in einer neuen Stadt war. So war ich z.B. auch 1961 in New York von der Südspitze Manhattans bis zum Central Park gewandert. Nachdem ich eine ganze Weile kreuz und quer gelaufen war, schaute ich im Stadtplan nach, wo ich war, und beschloss, den Rückweg anzutreten. Um mich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden, habe ich mir angewöhnt, ab und zu einen Blick rückwärts zu werfen, wie der Rückweg aussieht. Das hatte ich auch auf meiner jetzigen Wanderung getran, aber ich konnte nichts erkennen, was ich mir vor kurzem eingeprägt hatte. Ich schien in immer fremdere Gegenden zu kommen. Als ich dann wieder in den Stadtplan sah, hatte ich zuerst einige Mühe, meinen neuen Standort zu finden. Er lag in der entgegengesetzten Richtung gegenüber dem vorigen Standort. Da ging mir ein Licht auf: Die Sonne hatte mich irritiert. Ich hatte sie wie zu Hause benutzt, um die Südrichtung zu bestimmen und danach die Karte orientiert! In Australien steht aber die Sonne mittags im Norden! Das mir das als Astronomen passieren musste, war schon peinlich.

Als ich schließlich wieder im Hotel war, sah ich auf dem Tisch der Rezeption eine Boulevard-Zeitung ausliegen, auf deren Titelseite in großen Schlagzeilen von einem Flugzeugunglück berichtet wurde. „Sidney-bound Airliner crashed shortly after Take-off at Heathrow". Das Wort "Sydney-bound" erregte meine Aufmerksamkeit. Das hieß soviel wie „Zielort". Ich nahm die Zeitung mit und las den ganzen Bericht: Eine Maschine der BOAC auf der Strecke London-Sydney war betroffen. Kurz nach dem Start war ein Düsentriebwerk der Boeing 707 in Brand geraten und zu Boden gestürzt. Es gelang dem Piloten, die Maschine zu einer Notlandung zu steuern, allerdings hatte es 18 Todesopfer gegeben. Als ich weiter las, bekam ich eine Gänsehaut. Die Unglücksmaschine war das Flugzeug, mit dem ich am übernächsten Tag nach Europa hätte fliegen wollte. Es war nach einer umfangreichen Reparatur wegen einer zuvor erfolgten Havarie zum ersten Mal im Liniendienst. Was wäre gewesen, wenn die erneute Havarie erst auf der Rückreise passiert wäre?

Als ich am nächsten Tag bei BOAC nachfragen ließ, wurde bestätigt, dass der von mir gebuchte Flug ausfallen würde, weil es kurzfristig keinen Ersatz gab. Man war aber bereit, mein Ticket auf QUANTAS, die australische Übersee-Fluglinie, umzuschreiben.

Der Flug nach Singapur ließ die Größe des australischen Kontinents erkennen. Da wir aber mit der Zeit flogen, fiel das nicht besonders auf. Nach Singapur landeten wir in Kuala Lumpur, wo im Transitraum ein großes Sortiment von Zinngegenständen ausgestellt war. Dann ging es weiter über Kalkutta, Bahrein nach Athen und von dort nach Amsterdam.

Wenn ich mich recht erinnere, landeten wir am frühen Morgen bei klarem Himmel. Als ich die Maschine verließ, merkte ich, was die klare Luft bedeutete. Es war sogenanntes Rückseitenwetter. Hinter einer Kaltfront strömten kühlere Luftmassen. Da ich meinen dünnen Mantel im Koffer hatte, war es im Sommeranzug ziemlich kühl. Ich hatte den Koffer aber nach Schönefeld durchgebucht und musste nun versuchen, ihn aus dem Umladegepäck herauszuholen. Der Versuch misslang, weil gar kein Koffer nach Schönefeld ausgeladen worden war. Koffer und Mantel waren auf dem Weg nach London! Das hieß also: eine Verlustmeldung aufgeben und auf´s Beste hoffen.

Nach etwa 2 Stunden flog ich nach Schönefeld, und kam dort gegen 14 Uhr an. Das Wetter war das gleiche!

Bei der Zollkontrolle im Einreisebereich wies ich meine Zollerklärung vor, jedoch ohne Gepäck. Man hatte Verständnis, und ich durfte passieren. Ich erkundigte mich noch am Schalter „Lost baggage", wie ich denn zu meinem Koffer käme. Eine freundliche Antwort: Den könne ich mir dann abholen. Ich würde Bescheid bekommen. In der so genannten Einreisehalle suchte ich mir einen Sitzplatz, denn es war dort gemütlicher als auf dem offenen zugigen Bahnsteig des Bahnhofs Schönefeld. Ein Zug nach Jena fuhr erst in zwei Stunden.

Auf einmal eine Ansage: „LOT gibt die Ankunft ihrer Maschine aus London bekannt!" Hollah! Wenn ich Glück hatte, war mein Koffer aufgefunden und umgeleitet worden. Ich ging wieder in die Halle, musste noch einmal erklären, dass mein Koffer verloren gegangen war, und durfte dann am Laufband warten.

Nach einiger Zeit kam er in Sichtweite. Ich nahm ihn in Empfang und durfte sogar beim Zoll glatt vorbeigehen.

Nun nur noch den Zug nach Jena nehmen, und die Flugabenteuer waren vorbei. Ich konnte einen Bumerang und kleine Koala-Bären als Mitbringsel verteilen, auch vier australische 50 Cent-Stücke, die so groß wie ein 5 DM-Stück waren. Damals war der australische Dollar mehr wert, und die Münzen hatten einen Silbergehalt, dessen Wert höher als der Nominalwert war.

Kanada 1959 - 1979

Meine erste Reise nach Kanada unternahm ich im Frühjahr 1959, es war ein Anhängsel an meine erste USA-Reise. Wie ich bereits im Bericht über diese Reise geschildert habe, sollte ich in Toronto einen Zwischenstopp machen, bevor ich von Montreal aus mit der KLM nach Amsterdam fliegen würde.

In Toronto erwartete mich Risty Perotto, ein Feinmechaniker, der vorher bei Leitz Canada angestellt war. Er war von Mr. Tobis angeworben worden, um das Mikro-Geschäft zu betreuen, das er von Leitz her kannte. Es gab in Toronto Interesse für ein Groß-Planetarium, und ich sollte Kontakt mit einflußreichen Persönlichkeiten aufnehmen.

Risty war etwa gleichaltrig mit mir, zwei Jahre älter um genau zu sein, und wir verstanden uns gleich gut, was auch über 40 Jahre geblieben ist. Tobis stammte aus der Tschechei, war damals um die 50, und hat es per dato zu einem Alter von 92 Jahren gebracht. Wir besuchten das Observatorium in Toronto und sprachen mit Astronomen. Ich konnte von meinem Erfolg in Kalkutta berichten, wo ich 1956 ein Groß-Planetarium an den Birla-Trust verkauft hatte, ebenso von der Tagung der Planetariums-Direktoren in New York. Es war aber mehr eine Pflichtübung, weil ich gerade in der Gegend war, konkrete Gespräche gab es nicht.

Tobis, der der reine Geschäftsmann war, traf ich dann in Montreal. Er hatte aus der Tschechei etwas Kapital mitgebracht, war aber nicht sehr erfolgreich und versprach sich nun von der Zeiss-Vertretung eine bessere Entwicklung seines Unternehmens. Der Verkauf eines Groß-Planetariums würde einen Aufschwung bringen. Auf dem Mikro-Sektor musste man sich gegenüber Leitz erst etablieren.

Die nächste Reise nach Kanada war wiederum so wie die erste. Im Anschluss an die Teilnahme an der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union im August 1961 und eine Rundreise zu mehreren Observatorien der USA war ich wieder nach Toronto gekommen, weil ich gerade in der Gegend war. Inzwischen hatte mit Juri Gagarin das Zeitalter der „Weltraumflüge" begonnen, und die Planetarien hatten eine wichtige Funktion der Informationsverbreitung übernommen. An den Planetarien wurden nun nicht nur Piloten der Luftfahrt in Navigation ausgebildet, auch die Kosmonauten und Astronauten trainierten dort. Astronomie war nicht mehr eine Wissenschaft, die auf einem Elfenbeinturm betrieben wurde.

So kamen weltweit auch die Projekte für Planetarien ins Laufen. Ein Planetariumsgeschäft ist jedoch keine einfache Sache, manchmal dauert es Jahre, oft sogar Jahrzehnte, bis ein Projekt zur Realisierung kommt. Man braucht erst einmal Enthusiasten, die in vielen Fällen nicht Fachastronomen sondern Liebhaberastronomen sind. Am besten ist es, wenn bereits eine Volkssternwarte oder ähnliche Einrichtung mit einem Vorschlag an die Stadtverwaltung herantritt, die ein Projekt in ihren Stadtbebauungsplan einbaut. Das allerwichtigste in den westlichen Ländern, insbesondere USA und Kanada, sind Sponsoren, wie wir sie heute nennen. Im englisch-amerikanischen Sprachgebrauch wurden sie „donor" = Spender genannt. Deren Name geht dann auf die Institution über, wie z.B. bei den „Hayden", „Adler" oder „Griffith" Planetarien. Am Besten ist es noch, wenn irgendetwas zu Feiern ist.

Mir war es also klar, dass ich auch bei meinem zweiten Kanada-Besuch nicht so nebenbei ein Groß-Planetarium verkaufen würde. Die Hauptsache war, man blieb am Ball!

Nach den Ereignissen vom 13. August 1961 hatten sich unsere Chancen in den USA verschlechtert. Darüber habe ich mich in meinem Bericht von der zweiten USA-Reise geäußert im Zusammenhang mit meinem Besuch des Griffith-Planetariums. Aber Kanada schien etwas neutraler zu sein, wie wir bald feststellten. Die Kanadier kamen sogar zu uns, dank der intensiven Bemühungen von Risty Perotto, was ja auch seine Aufgabe war!

Die Geschichte der Verhandlungen habe ich bereits im Bericht über meine zweite USA-Reise aufgeschrieben, und ich füge sie der Einfachheit hier an. Sie gehört an beide Stellen und der geneigte Leser wird die Wiederholung verzeihen.

Im Herbst 1964, nachdem wir recht erfolgreich anlässlich der Hamburger Generalversammlung der IAU mit einer kleinen Ausstellung aufgetreten waren, erhielt ich die Nachricht, es gebe neue Interessenten in Kanada für ein Großplanetarium. Unser kanadischer Vertreter, Risty Perotto, komme mit zwei Kanadiern aus Calgary, Jim Wright und Ian McLennan. Sie würden sich erst die Planetarien in London und Paris ansehen, dann nach Jena kommen und anschließend auch Oberkochen sehen. In Kanada stand der 100. Jahrestag des Übergangs von der Kolonie zum Bundesstaat bevor, der 1967 im ganzen Lande durch eine Vielzahl von Aktivitäten begangen werden sollte. So war für Calgary ein Centennial Park geplant, in dem ein Planetarium die Hauptattraktion sein würde.

Ich erhielt die Nachricht von Günther Heckel, einem technischen Kaufmann der Exportabteilung, mit dem ich 1955/56 fünf Monate lang in Indien tätig war. Keiner von uns beiden wusste vorher, wo Calgary lag und ob es irgendeine wirtschaftliche oder politische Bedeutung hatte. Schließlich kamen die Gäste an, und wir Jenenser waren überrascht: Die beiden Kanadier waren nämlich nicht lang gediente Vertreter des Stadtrates sondern junge Leute, so um die 30. Es gab also keine Probleme im gegenseitigen Umgang, wir waren bald, wie man so sagt, auf der gleichen Wellenlänge. Die Kanadier kamen in eigener Sache, denn sie wollten, wenn alles gut ginge, die Planetarien leiten oder betreiben.

Das Programm war relativ einfach. Wir zeigten zuerst das Gerät im Jenaer Zeiss-Planetarium. Es war zwar das Gerät von 1926, aber durch zahlreiche Umbauten funktionsmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Bevor eine Neuerung in die Produktion kam, wurde sie im Jenaer Planetarium ausgiebig erprobt. Z. B. war die stufenlose Steuerung der Hauptantriebe wesentlich bedienungsfreundlicher als die mehrstufigen Getriebe des alten und der Oberkochener Geräte. Dann wurde noch ein neues Gerät in Baugruppen in der Fertigung vorgeführt. Dazu gehörte auch eine Besichtigung des 2-m-Teleskops in Tautenburg, das die kanadischen Amateurastronomen außerordentlich beeindruckte. Neben Günther Heckel hatte ich nur noch den Planetariumskonstrukteur Gerhard Vogel zu den Besprechungen gebeten, auf einen Dolmetscher konnten wir verzichten. Wenn notwendig übersetzten wir abwechselnd, falls wir Herrn Vogel etwas präzisieren mussten.

Obwohl die Atmosphäre aufgelockert war, gaben die Kanadier nicht zu erkennen, wie sie sich entscheiden würden oder welche Chance wir hatten. Anschließend wollten sie ja noch nach Oberkochen, und das hatte mich von Anfang an geärgert. Ich hätte gern das letzte Wort gehabt. So wusste ich nicht, mit welcher Taktik man in Oberkochen vorgehen würde.

Die Kanadier hatten eine Reihe von Änderungswünschen in Bezug auf Zusatzeinrichtungen und auch einige Veränderungen am Hauptgerät. Es gab keine großen Diskussionen zwischen Herrn Vogel und mir, die Wünsche waren entweder vernünftig oder wir hatten keine Schwierigkeiten, Gegenargumente gegen etwas zweifelhafte Wünsche anzubringen. Mit Günther Heckel hatte ich bezüglich der kommerziellen Seite keine Probleme. Wir waren uns einig, den Preis des Gerätes durch die Sonderwünsche nicht ungebührlich anwachsen zu lassen. Und wir waren sicher, ein Verkauf nach Calgary würde unsere Chancen für Toronto verbessern. Wir konnten doch nicht den ersten Kunden mit einem höheren Preis bestrafen.

Zum Schluss wurde es doch ernst: Sie wären an sich positiv beeindruckt, meinten die Kanadier, sowohl von den Vorführungen als auch von den technisch-kommerziellen Verhandlungen. Aber, wenn unser Gerät um so viel besser als das Oberkochener Gerät sei, warum hätten wir nicht mehr Geräte auf dem Weltmarkt verkauft. Wir waren nicht sprachlos. Ich verwies zunächst auf die Lieferungen nach Kalkutta, Akashi, Kairo, Lissabon und berichtete dann von meinem Gespräch mit Mr. Cleminshaw im August 1961. Wir als die „Roten" hätten aus politischen Gründen im Westen geringere oder gar keine Chancen. Meine Ausführungen wurden etwas ungläubig entgegengenommen.

Die Kanadier reisten ab, und wir mussten abwarten, wozu sie sich entscheiden würden. Es dauerte einige Zeit, bis wir erfuhren, dass man sich in Calgary für Carl Zeiss Jena entschieden hatte. Ich wollte nun wissen, was in Oberkochen vorgefallen wäre. Erst nach Vertragsabschluss wurde uns die Situation geschildert: Zum ersten habe man dort die jungen Leute gar nicht so ernst genommen, dann sei in einem großen Kreis verhandelt worden und zwar mit Dolmetscher. Der Ritus war so, dass die Kanadier einen Wunsch äußerten, der ins Deutsche übersetzt wurde. Dann gab es eine längere Diskussion unter den Vertretern von Oberkochen in deutscher Sprache untereinander und schließlich eine kurze, ins Englische übersetzte Antwort. Wenn auch die Kanadier nicht Deutsch verstanden, so konnten sie doch aus Stimmlage, Mimik und Gestik erfassen, wie ihre Frage oder Bemerkung aufgefasst worden war. Die Wünsche wurden entweder abgelehnt oder, wenn sie angenommen wurden, mit Mehrkosten verbunden. So sei es eine ganze Zeit in der Verhandlung gegangen, bis schließlich die Herren Wright und McLennan erklärten, dass sie von Jena ein besseres Gerät zu günstigeren Bedingungen kaufen würden. Da waren die Oberkochener Herren betroffen, und einer von ihnen fragte zum Schluss, ob die Kanadier denn wirklich von den „Roten" ihr Planetarium kaufen wollten. Und da erinnerten sich die beiden an meinen Bericht von dem Gespräch mit Cleminshaw in Los Angeles.

Meine dritte Reise unternahm ich Anfang des Jahres 1965. Etwa Mitte Januar ging meine Reise los. Diesmal sollte ich von Kopenhagen aus nach Montreal fliegen. Ich benutzte den D-Zug von Weimer nach Berlin und fand Platz in einem eigentümlichen Wagen. Am Anfang und Ende des Wagens gab es nämlich ein halbes Abteil. Neben mir nahm eine junge Frau Platz, und wir kamen ins Gespräch. Sie wollte ebenso wie ich nach Schönefeld und von dort aus nach Kopenhagen und weiter nach Oslo fliegen. So ein Zufall!?

Das Flugzeug nach Kopenhagen war eine viermotorige Turboprob-Maschine vom Typ IL-18 der bulgarischen Fluggesellschaft „Balkan Air", das von Sofia kommend in Schönefeld zwischengelandet war. Wir staunten nicht schlecht, als außer uns nur noch eine ältere Frau, eine Bulgarin mitflog. Wie wir von der Stewardess erfuhren, wollte sie am nächsten Tag von Kopenhagen aus nach Montreal und dann weiter nach Toronto fliegen. Noch ein Zufall!

Wir landeten bei leichtem Schneetreiben in Kopenhagen und wurden zu einem Hotel in der Innenstadt gefahren. Man vertraute mir die ältere Frau an, die außer bulgarisch nichts verstand. Wir mussten am anderen Morgen relativ früh aufstehen, und ich versuchte, ihr das mit Brocken von Russisch klar zu machen. Ich sagte auch, dass ich mich weiter um sie kümmern würde, denn ich würde ja auch nach Toronto fliegen.

Als wir abflogen, hatte das Schneetreiben zugenommen, und es war sicher, dass auch in Kanada mit Schnee zu rechnen war. Während des Fluges waren wir jedoch guten Mutes, denn wir hatten immer wieder Bodensicht. Erst etwa eine Stunde vor der Landung kamen wir in hochreichende Wolken, und zur angegebenen Zeit begann das Flugzeug, einen Kreis zu fliegen, dann noch einen. Na, das kann ja mal vorkommen, dass man im Warteraum Schleifen fliegen muss. Schließlich wurde uns über Lautsprecher mitgeteilt, dass wegen starker Schneefälle eine Landung in Montreal nicht möglich sei. Wir würden vorübergehend nach New York umgeleitet! Schön, wieder in New York!

Im Landeanflug rissen die Wolken auf, und wir hatten Bodensicht. Es sah aber nicht nach einem Anflug auf New York aus. Kein Hudson River, von Manhattan ganz zu schweigen. Aber wir würden landen, denn wir flogen immer niedriger. Ein paar Minuten vor der Landung, wir hatten Wasser unter uns, teilte man uns mit, dass wir in Boston landen würden. Hauptsache erst einmal wieder fester Boden unter unseren Füßen!

Auf dem Rollfeld standen schon einige Flugzeuge, die sicher nicht für Boston bestimmt waren. Eine weitere SAS, eine AIR FRANCE und zwei ALITALIA. Im Transit-Raum hatte sich eine große Menge „gestrandete" Passagiere versammelt, die ebenso wie wir eigentlich nicht in Boston landen wollten. Beamte der US-Einwanderungsbehörde kontrollierten die Pässe, und wir harrten der Dinge, die da kommen würden. Das Wetter war übrigens erträglich, wie es schien. An einem Zeitungsstand lagen die neuesten Zeitungen mit dicken Schlagzeilen. „Schneesturm über New York! Die Rollbahnen durch Schneematsch blockiert! Über 40 Flugzeuge umgeleitet!" Wir waren offenbar in Boston gefangen. Ich hatte einige Mühe, der Bulgarin zu erklären, wo wir waren. Sie hatte die Telefonnummer ihrer Verwandten in Toronto, und sie durfte mit ihnen telefonieren. Es war inzwischen Nachmittag geworden und das Wetter verschlechterte sich offenbar.

Die SAS-Fluggesellschaft hatte dann einen Einfall: Eine Maschine sollte von Boston nach Chicago fliegen, ihrem eigentlich Ziel nach der Zwischenlandung in Montreal. Die andere sollte nach New York fliegen. Von dort würden die Passagiere weiter verteilt. Also wieder an Bord und im beginnenden Schneetreiben gestartet. Nach New York ist es von Boston nicht weit, eine halbe Stunde ungefähr. Aber so schnell kamen wir nicht wieder auf den Boden, denn der Warteraum war überfüllt mit Maschinen, die erst gegen Abend landen konnten. Ich hatte gehofft, dass wir nach Kanada weiter fliegen könnten, aber alle Maschinen waren ausgebucht mit den Passagieren, die sich im Laufe des Tages angesammelt hatten.

Wieder hatten wir es mit den Einwanderungsbeamten zu tun, die unsere Pässe einbehielten. In einem Transit-Hotel auf dem Flughafengelände konnten wir übernachten und, ich rief meine Frau an, um ihr von meinen Eskapaden zu berichten.

Am anderen Morgen war es hell und klar, als ob es niemals einen Schneesturm gegeben habe. Erfreulicherweise konnten wir mit einer Maschine der American Airlines direkt nach Toronto fliegen. Die Bulgarin kam zu ihrer Familie, und ich war wieder bei Risty Perotto, der mich im Motel „Four Seasons" in der Innenstadt unterbrachte.

Risty erklärte mir die Klimabedingungen dort. Es gäbe einen sogenannten „Schneegürtel", wenn die arktischen Luftmassen in breiter Front und nicht durch Gebirge behindert nach Süden strömten und sich mit den feuchtwarmen Luftmassen aus dem Golf von Mexiko mischten. Dann entstehen die bekannten Blizzards mit Sturm und Unmengen von Schnee. Es war kalt in Toronto, aber ich brauchte ja nicht zu laufen.

Mein Programm, alle einflußreichen Leute in Toronto zu sprechen, ließ sich nicht in wenigen Tagen absolvieren. Da gab es zunächst eine Begrüßungsparty für mich, auf der einige Medienleute eingeladen waren. Dann gab es einen Lunch-Termin, dann wieder einen Dinner-Termin. Dann wieder eine Cocktail-Party. Und immer wieder gab ich meine Statements ab: Tradition von Carl Zeiss Jena, Planetarien und Astronomische Geräte von Weltruf, Referenzen. Die beste war das Projekt Calgary.

In meinem Zimmer im Motel hatte ich auch einen Fernseher, noch schwarz-weiß, aber zehn Programme: zwei kanadische und acht US-amerikanische. Um 6 Uhr begann das Frühstücks-Fernsehen, und das ging bis in die late-late-Show so gegen 2 Uhr morgens, immer mit den nun bekannten Werbeunterbrechen. Welch ein Unterschied zu dem DDR-Fernsehprogramm! Der Schwerpunkt lag bei der Unterhaltung: Gameshows „Wer bin ich?", alte Filme und Musikrevuen.

Es war vorgesehen, dass wir nach Calgary fliegen würden, um dort Kontakt mit dem Architekten und der Stadtverwaltung aufzunehmen. Nachdem wir einen Termin vereinbart hatten, besprachen wir das Reiseprogramm. Wir würden so gegen 9 Uhr in Toronto starten, mit der Zeit fliegen. Die Flugzeit würde etwa 4 Stunden betragen, ein Zwischenstopp in Winnipeg, drei Stunden Zeitdifferenz, also gegen Mittag wären wir in Calgary. Nach dem Mittagessen könnten wir unsere Besprechungen am Nachmittag absolvieren um am Abend so wieder zurückfliegen. Diesmal würden wir gegen die Zeit fliegen und somit die Nacht hindurch. Also 2000 km Toronto-Calgary, drei Stunden Besprechung und wieder 2000 km zurück! Das gefiel mir gar nicht! Wir würden keine Zeit haben, etwas von der Stadt zu sehen, z.B. den vorgesehenen Bauplatz und andere Sehenswürdigkeiten.

Risty sah das ein und quartierte uns im „Holiday Inn" ein. Unsere Besprechungen liefen reibungslos, und wir konnten am Abend an einem Treffen der Ortsgruppe der Royal Astronomical Society of Canada teilnehmen. Zufällig war das Thema Planetarien. Der frühere Direktor des New Yorker Planetariums hielt einen Vortrag über seine Zeit in New York. Er hatte übrigens seinen Job verloren, weil er dem Alkohol zu sehr zugesprochen hatte. Um seinen Vortrag interessant zu machen, erzählte er von einer Begebenheit während des Krieges.

Das Planetarium in New York lief trotz der Kriegszeit. Er bemerkte eines Tages, dass ein Besucher, ein Matrose, während der Vorführung schlief. Das kommt ja öfter vor! Nach längerer Zeit, etwa vier Wochen, sah er ihn wieder, schlafend. Als er ihn nach weiteren vier Wochen wieder schlafend antraf, sprach er ihn an: "Warum kommen Sie regelmäßig alle vier Wochen ins Planetarium, wenn Sie dann doch schlafen?" „Guter Mann", sagte der Matrose. „Ich bin in den vier Wochen mit dem Geleitzug nach Murmansk unterwegs, zwei Wochen hin, zwei Wochen zurück! Da habe ich auch den Himmel über mir, aber ich komme nicht zum ruhigen Schlafen wegen der U-Boote! Können Sie jetzt verstehen, warum ich im Planetarium unter dem Sternenhimmel schlafe?"

Der Vortrag hat sicher mit geholfen, das Publikum auf das Calgary Planetarium vorzubereiten. Wir besichtigten noch den Bauplatz und die Umgebung von Calgary. Der Staat Alberta verfügte damals über eine blühende Wirtschaft. Unter der Erde lag Erdöl und Erdgas in großen Mengen, und über der Erde, auf den riesigen Weideflächen, grasten Rinder en masse. Die Calgary Stampede war eine bekannte Attraktion, auf der die Cowboys ihr Können auf wilden Mustangs zeigten.

Wie vorgesehen, flogen wir dann am nächsten Abend, die Nacht hindurch nach Toronto zurück. Ich bewunderte Risty. Kaum saß er in seinem Sessel im Flugzeug, war er schon eingeschlafen und wachte erst wieder bei der Landung auf. Dabei störten ihn auch heftige Turbulenzen nicht, die wir später einmal auf einem Flug von Quebec nach Montreal hatten.

Während meines Aufenthaltes kam Lorenz Fromm von der Exportabteilung nach Toronto, um nach dem Rechten zu sehen. Da musste ich mich selbst beschäftigen, Berichte schreiben, Fernsehen, Kino. Oder mich den Versuchungen des wilden Westens erwehren.

Das Motel „Four Seasons" war ein Flachbau mit einem Innenhof. Es hatte einen Haupteingang mit Empfangstheke. Es gab aber auch die Möglichkeit, ungesehehen von einem Portier vom Parkplatz aus den Flur zu erreichen. Risty hatte mir geraten, immer die Kette an der Tür vorzulegen. Ich tat es, und das schützte mich eines Tages vor unliebsamen Besuch. Es klopfte an der Tür und ich öffnete so viel, wie die Kette freigab. Draußen stand eine farbige Frau und erkundigte sich nach einem Mister Soundso. Ich erklärte, dass ich das nicht wäre und auch nicht wüsste, wo ein solcher wohne. Das war's für mich. Als ich dies Risty erzählte, grinste er und klärte mich auf: Das wären gewisse Damen, die auf diese Tour Bekanntschaften suchten. Solche Geschichten würden manchmal bös ausgehen! Sie kämen meist aus den USA, wohin sie sich dann wieder zurückzögen, wenn sie Probleme bekommen.

Ich hatte nun etwas mehr Zeit, die Familie Perotto und die Firma Jena Instruments kennen zu lernen. Wie die meisten Leute wohnten die Perottos außerhalb des Stadtzentrums in Scarborough in einem Einfamilienhaus der üblichen amerikanischen Art. Von außen sah alles solide aus, es war auch nicht billig, aber außer dem Schornstein war nichts gemauert. Es gab auch keinen Keller in unserer Art. In dem Untergeschoss waren Garage und Lagerräume untergebracht. Die Wände des Hauses waren quasi Pappwände mit innerer Wärmeisolierung. Das konnte manchmal peinlich werden. Herr Tobis erzählte mir gelegentlich, dass sich offenbar eine Ratte zwischen die doppelte Pappwand verkrochen hatte und dort verendet war. Der Gestank war penetrant, aber wo steckte das Vieh?

Die Wohnräume waren mit „wall-to-wall" Teppich ausgelegt und die Heizung mit Öl war vollautomatisch geregelt. Eine ziemliche Energieverschwendung, aber Öl war ja ausreichend vorhanden.

Die Vororte erreichte man von Toronto aus auf sechsspurigen „motorways", von denen vier morgens in Richtung Stadt freigegeben waren, zwei in der anderen Richtung. Abends war es umgekehrt. Eingekauft wurde in den „malls", die strategisch im günstigen Abstand in einer Gruppe von Vororten lagen. Es gab praktisch keinen öffentlichen Nahverkehr, also war ein Zweitwagen zwingend, um die Kinder in die Schule oder zum Einkaufen zu fahren. In Deutschland herrschten um 1965 noch die Tante-Emma-Läden vor. Downtown gab es natürlich Kaufhäuser, in denen ich gern bummeln ging. Mehr aus Neugierde interessierten mich die Lebensmittel-, Haushalts- bzw. Heimwerker-Abteilungen. So werde ich nicht vergessen, dass in dem einem Kaufhaus ein großer Raum nur Honig aller Sorten aus aller Herren Länder anbot. Dabei waren die Preise nicht so sehr verschieden, aber die Sortenvielfalt war überwältigend.

Schließlich flog ich zurück, über Amsterdam nach Brüssel, wo ich wieder die Sternwarte besuchen sollte. Es ergab sich die Möglichkeit, mit den Herren Fey und Lurquin von der belgischen Zeiss-Vertretung mit dem Auto nach Jena zu fahren, die vor der Leipziger Messe die Vertreterkonferenz besuchen wollten. Sie machten einen Zwischenstopp in Bad Nauheim, und ich konnte eine Bekannte in Bad Homburg besuchen. Im Kofferraum hatte ich einen Karton mit Obst und Süßigkeiten, die ich nicht zu schleppen brauchte. Herr Fey war übrigens das, was man einen feinen Herrn nennt. Meine Frau erinnert sich daran, dass er ihr zur Geburt unserer Tochter Gabriele im August 1960 eine Orchidee in die Klinik brachte, die erste Orchidee ihres Lebens.

Irgendwie schien meine Anwesenheit am Anfang des Jahres etwas in Bewegung gebracht zu haben. Es wurde uns der Besuch von Prof. Don McCrae und Dr. Vic Meen aus Toronto angekündigt. Sie kamen Ende April 1965 in Jena an und wohnten im Hotel „International", wie die meisten Zeiss-Gäste. Günter Heckel und ich waren wieder mit der Betreuung beauftragt, und es schien ziemlich hart für uns zu werden. Prof. McCrae hatte einen Philips-Kassettenrecorder mitgebracht und eine lange Liste mit Fragen. Die Herren gaben sich nicht mit der Angebotsspezifikation zufrieden, sondern fragten mir praktisch Löcher in den Bauch. Dazu kamen Besuche des Jenaer Planetariums und der Astrowerkstatt. Ein Höhepunkt besonderer Art war der 1.Mai 1965. Wie üblich mussten alle Werktätigen am Demonstrationszug teilnehmen, der am „International" vorbei in Richtung Tribüne am Löbdergraben marschierte. Als wir dort vorbeizogen, sahen wir die beiden am Straßenrand vor dem Hotel stehen!

Schließlich war das Programm absolviert, alle Fragen gestellt und beantwortet. Am Nachmittag vor der Abreise schien alles gesagt zu sein. Da bat Prof. McCrae darum, an einer normalen Vorführung des Planetariums um 16 Uhr teilnehmen zu können. Was sollte das? Ging die Fragerei wieder von vorn los? Der Kunde ist König! Wir gingen eben noch einmal ins Planetarium!

Nach der Vorführung fragte mich Prof. McCrae, ob ich wüsste, weshalb sie noch einmal ins Planetarium wollten. Ich verneinte, innerlich eigentlich verärgert, weil ich glaubte, sie wollten noch einmal Fragen stellen. Die Antwort war mehr als beruhigend: „Wissen Sie! Wir haben jetzt mehrere Tage das Planetarium rein technisch gesehen. Nun wollten wir es genießen, das Wunder des künstlichen Himmels. Wir sind begeistert und sind sicher, dass auch die Besucher in Toronto begeistert sein werden!" Ein Stein fiel mir vom Herzen, die Sache schien für uns gelaufen zu sein!

Der Vertrag kam zustande mit harten Bedingungen bezüglich des Liefertermins. Wenn wir nicht pünktlich liefern würden, müssten wir für jede Woche Verzug Vertragsstrafe zahlen. Würde der Verzug mehr als 6 Wochen betragen, dann könnte der Kunde vom Auftrag zurücktreten. Liefertermin war Juni 1966. Diese Bedingungen hatten, wie wir später erfuhren, folgende Bewandtnis. Das Toronto Planetarium sollte im Sommer 1967 eröffnet werden und zwar unter allen Umständen. Wenn Jena nicht im Juni 1966 liefern konnte, dann würde noch genügend Zeit sein, um eine Lieferung aus Oberkochen zu realisieren.

Wir stimmten zu, wir mussten es versuchen. Da aber sowohl für Calgary als auch für Toronto eine Reihe von Änderungen notwendig waren, kamen wir doch in Zeitnot. Der Termin war nicht der Liefertermin ab Jena, sondern an Toronto. Normalerweise lagen sechs Wochen Seefracht dazwischen. Da kam mir die Idee, das Planetarium per Luftfracht zu schicken, wo es innerhalb von drei Tagen am Bestimmungsort sein würde. Luftfracht ist an sich teuerer als Seefracht, aber ich rechnete die Vertragsstrafe einschließlich der Blamage dagegen. Es kam uns dann ein Zufall zu Hilfe. Zunächst ist die Verpackung für Luftfracht leichter als bei Seefracht. Entscheidend war, dass es aus welchem Grund auch immer einen Vorzugstarif für „Projektoren" gab. Das Planetarium war ein Projektor, und der Transport war sogar noch billiger als per Seefracht.

Wir lieferten pünktlich und viel zu früh, denn in Toronto gab es Verzögerungen beim Bau infolge Streiks.

Inzwischen gab es auch in Vancouver Interesse für ein Groß-Planetarium und, so führte mich meine nächste Reise dort hin. Der Termin war ein wenig kritisch, Ende August 1966, weil wir für Ende September Familiennachwuchs erwarteten. Konnte ich meine Frau allein lassen?

Schließlich flogen wir, Risty und ich, zum vorgesehenen Termin nach Vancouver und absolvierten unser Programm. Wir besuchten auch das Observatorium in Victoria auf Vancouver Island, wo ich Prof. Sidney van den Bergh wieder traf, der in Tautenburg einige Zeit als Gastbeobachter tätig war. Er hatte bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass die Tautenburger Schmidt-Variante des 2-m-Teleskops dem sogenannten Big Schmidt-Teleskops auf dem Palomar Mountaim überlegen war.

Am 2. September waren wir fertig und überlegten uns, wo wir das Wochenende verbringen würden. Es war ein langes Wochenende, denn am Montag war Labour Day, ein Feiertag. In Vancouver hielt uns nichts, Calgary lockte nicht. Ich fragte Risty, ob wir nicht mit dem Auto über die Rocky Mountains nach Calgary fahren könnten. „Great idea!" Auch für ihn war es das erste Mal, dass er eine solche Reise machte.

Er mietete ein feuerrotes Ford-Kabriolet, und wir fuhren am Samstag früh auf dem Trans-Canada-Highway nach Norden.

Die Entfernung nach Calagary beträgt rund 1000 km, die wir in zwei Etappen gemütlich zurücklegen wollten. Es war schönstes Wetter, ein sonniger, warmer Herbsttag, auch in den größeren Höhen, die wir allmählich erreichten. Die Gegend war, wie erwartet, wildromantisch. Die Straße erreichte am „Kicking-Horse-Pass" ihre größte Höhe, über 2000 m. An der Wasserscheide machten wir eine Pause. Dort kann das Phänomen richtig beobachtet werden. Eine kleine Quelle speist ein schmales Rinnsal, das sich nach einigen Metern teilt. Ein Teil fließt zum Stillen Ozean, der andere in die Hudson Bay, also zum Atlantik. Parallel zur Straße führt eine Eisenbahnlinie, die einige Mühe hat, die Steigung zu überwinden. An einer Stelle gibt es einen Aussichtspunkt an der Straße, an dem auf Stein der Fahrplan der Züge eingemeißelt ist. Das Interessante dabei ist, dass der Zug in einem Tunnel verschwindet und nach einer Weile oberhalb der Tunnelöffnung wieder herauskommt, während unten noch das Ende des Zuges zu sehen ist.

Wir übernachteten in einem Motel in Revelstoke, und ich rief von dort meine Frau an. Sie war nicht sehr fröhlich, denn sie hatte einige körperliche Beschwerden mit der Schwangerschaft. Es wurde Zeit, dass ich wieder nach Hause kam. Am Sonntagmorgen hörte ich zufällig einen typisch amerikanischen TV-Gottesdienst, der im Wesentlichen das Thema „Spendet für Eure Kirche!" zum Thema hatte. Die Sendung kam aus Spokane in den USA, und ich war von dem Prediger ziemlich beeindruckt. Der Zufall wollte es, dass ich ihn Jahre später in Tiblissi in Georgien traf, als er, in sein Talar gekleidet, an einem Astronomen-Kongress teilnahm. Er war auch Astronom!

Die Fahrt ging weiter auf der Autobahn, nun in Richtung Osten. Unseren nächsten Halt machten wir in Banff, dem Wintersport-Ort, der dann durch die Olympischen Winterspiele in Calgary bekannt wurde.

In Calgary trafen wir Jim Wright, der uns zu sich nach Hause einlud. Wir erlebten ihn als stolzen Vater, seine Frau hatte vor einiger Zeit einen Sohn zur Welt gebracht. Am nächsten Morgen besichtigten wir die Baustelle des Planetariums. Man hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, und der 1.Preis war für eine Wild-West-Lösung vergeben worden. Calgary war eine junge Stadt. Die ersten Siedler hatten vor 80 Jahren ihre Blockhütten dort gebaut und begonnen, Vieh zu züchten. So sah das Planetarium wie ein Fort aus, allerdings in Beton gegossen. Am Nachmittag fuhren wir 250 km zum Lake Louise, an dem ein pompöses Hotel der Eisenbahngesellschaft liegt, aus Zeiten, in denen der Zug nicht durchfuhr, bevor Schlafwagen üblich waren. Am Dienstag hatten wir unsere Besprechungen, und am Mittwoch flogen wir zurück nach Toronto. Am Freitagabend flog ich dann über Amsterdam nach Schönefeld und am Samstagabend war ich wieder in Jena.

Meine Frau war froh, dass ich endlich zu Hause war, denn sie sollte eigentlich schon in die Klinik gehen, weil die Ärzte es für notwendig hielten. Es war dann auch höchste Zeit, denn in der Nacht von Montag zu Dienstag kamen unsere Zwillinge Sabine und Christiane zur Welt.

Meine nächste Reise nach Kanada unternahm ich im Sommer 1967 zur Übergabe der Planetarien in Toronto und Calgary. Unsere Planetariumsmonteure wurden von Gerhard Vogel unterstützt, und bei meiner Ankunft liefen die Geräte schon zur Zufriedenheit. Die feierliche Eröffnung in Toronto wurde von Dr. Henry King vorbereitet, dem früheren Direktor des Londoner Planetariums. Ich hatte ihn im Mai 1959 in New York auf der Konferenz der Planetariumsdirektoren kennengelernt. Er war ein fairer Partner, der später sein Amt an seinen Mitarbeiter Dr. Tom Clarke übergab.

In Calgary war die Leitung des Planetariums einem Einwanderer aus Österreich, Sieg Wieser, übertragen worden. Jim Wright war Technischer Leiter und Bob Nelson betreute das Gerät. Der Eröffnungsvortrag fand in Calgary nur mäßigen Beifall in der Presse. Beeinflusst durch das Hundertjährige Jubiläum von Kanada wurde mehr Wert auf Patriotismus als auf Astronomie gelegt. Es konnte nur besser werden!

Am Abend gab es kein offizielles Dinner. Vielmehr sollte ein sogenannter „Wiener Roast" veranstaltet werden, zu dem wir auch eingeladen waren. Als ich mich bei Risty erkundigte, was da vor sich gehen würde, sagte er, es wäre eine zwanglose Sache, bei der Wiener Würstchen gebraten würden, dazu Bier getrunken und lustige Lieder zur Gitarre gesungen würden. Es gab aber keinen Rost wie für ein Barbecue. In einem Betonring, wie er für die Wasserwirtschaft als Element einer Rohrleitung verwendet wird, wurde ein Feuer aus Abfallholz in Brand gesetzt, bis es eine Art Holzkohlenglut war. Dann wurden die Wienerwürstchen aufgespießt und über die Glut gehalten. Als Spieße wurden die Drahtkleiderbügel umfunktioniert, die man in der Chemischen Reinigung erhält, wenn man gereinigte Kleidung abholt. Die Würstchen schmeckten zwar nicht wie Rostbratwürste, aber es wurde dennoch ganz lustig.  

Bei dem Auftrag für Vancouver, den wir inzwischen erhalten hatten, gab es noch einige Sonderwünsche für das Planetensystem, die größere Umkonstruktionen erforderten. Es gab nur die Lösung, das Planetarium erst einmal nach dem neuen Standard zu liefern und nach einiger Zeit die Planetenkäfige auszutauschen. Auf keinen Fall wollten wir den Auftrag gefährden!

Die Eröffnung von Vancouver fand im Juli 1968 statt. Für das Gebäude hatte der Architekt eine attraktive Silhouette geschaffen, die sehr gut in das Stadtbild am Hafen passte. Dave Rodger, ebenfalls wie Jim Wright und Ian McLennan noch ein junger Mann, übernahm die Leitung des Planetariums.

Im November 1968 flog ich mit den Kollegen Vogel und Freyer nach Calgary und Vancouver, weil einige Beanstandungen zu klären waren. Es waren zwar keine großen Probleme, aber Kanada war unser Aushängeschild für andere Geschäfte in den westlichen Ländern. Freyer war der Leiter der Qualitätssicherung im P-Betrieb, er sollte sich auch um die Bildmess-Geräte in Calgary kümmern.

Als wir in Calgary gelandet waren, wurden wir vom Direktor Sieg Wieser persönlich abgeholt, der uns mit seinem Wagen zum Hotel brachte. Während der Fahrt verhielt ich mich ruhig, wozu sollte ich gleich auf die Beanstandungen kommen. Aber Sieg, mit dem wir uns ja auf Deutsch unterhalten konnten, legte gleich los. Es gäbe großen Ärger im Planetarium, und wir duckten uns schon. Ja, die Planetariums-Kuppel sei eine Fehlkonstruktion sondersgleichen. Die hatten nicht wir geliefert! Was war denn los damit? Während das gesamte Bauwerk aus Beton war, hatte man sich an eine der üblichen Planetariums-Kuppeln nicht getraut, die aus einer torkretierten Stabnetzwerk-Schale bestanden. Es war ein Holzdach, das zu allem Überfluss mit einem schwarzen Belag aus einer dicken Kunstsstoff-Folie gedeckt war. Das Problem bestand darin, dass sich die Kuppeloberfläche sehr stark erwärmte, wenn die Sonne darauf schien. Dadurch bekam die Holzkonstruktion Spannungen, und es knarrte bei der Erwärmung und auch wieder beim Abkühlen. Na ja, wenn das seine größten Sorgen waren, dann würden wir nicht zu sehr in die Zange genommen.

Bei den Zeiss-Problemen hatten wir den Vorteil, dass Bob Nelson, ein sehr tüchtiger Mechaniker, sich intensiv mit dem Gerät beschäftigt hatte. So weit ich mich erinnere, gab es Schwierigkeiten mit den Quecksilber-Relais, die Herr Vogel mit Bob Nelson irgendwie klärte. Es war eigentlich ein Zuliefer-Problem, wie üblich.

In Vancouver sah es etwas schwieriger aus. Die Sonderwünsche hatten zu der Lösung mit Lieferung A und dann Austausch der Planetenkäfige mit Lieferung B geführt. Die neuen Käfige hatten wir nicht in einem Planetarium einbauen können, sie hatten nur eine Werkstatterprobung hinter sich. Im Betrieb in Vancouver kamen einige Schwächen zu Tage, die sich aber nur auf Teilfunktionen bezogen.

Dave Rodger, der Leiter des Planetariums, hatte zu der Besprechung über diese Probleme auch den Justitiar der Stadtverwaltung Vancouver eingeladen. Die Diskussion war sachlich und ging in die Details. Es wurde diskutiert, ob diese oder jene Funktion 100%ig gewährleistet war, mit dem Hintergrund, eventuell eine Preisminderung durchzusetzen.

Als Dave Rodger zu einem Telefongespräch in sein Zimmer gerufen wurde, kamen wir mit dem Justitiar ins Gespräch. Er brachte unverblümt zum Ausdruck, dass er die Diskussion überhaupt nicht verstünde. Es ginge doch nicht wirklich um Probleme. Dagegen hätte es bei der Bauausführung des Planetariums erhebliche Probleme gegeben, und die Stadt habe die Restzahlung von 5% der Bausumme nicht gezahlt. Allerdings hätte das den Bauunternehmer nicht in den Ruin getrieben, denn die Kalkulation würde eine solche Situation schon im Voraus berücksichtigen.  

Die Besprechung ging dann etwas zügiger voran, und wir einigten uns in irgendeiner Weise, an die ich mich aber nicht mehr erinnere.

Herr Freyer musste dringend nach Calgary, wir blieben noch für die protokollarische Abwicklung.

Unser Flug nach Calgary am übernächsten Morgen über die Rocky Mountains war gleichzeitig eine Sightseeing Tour. Wir hatten gute Bodensicht und konnten alles gut erkennen. Am Flughafen in Calgary erwartete uns Herr Freyer und gratulierte uns zu der glatten Landung. Er habe am Tag zuvor weniger Glück gehabt. Beim Anflug auf Calgary hatte er keine Bodensicht, und aus meteorologischen Gründen wurde das Flugzeug nach Winnipeg umgeleitet. Dort war das Wetter auch nicht besser, also zurück nach Edmonton. Aber auch dort war schlechte Bodensicht. Schließlich flog man wieder Calgary an und landete praktisch im Bodennebel. Naja, es bewahrheitete sich wieder: Oben geblieben ist noch keiner!

Mit oder ohne Sicherheit?

Meine Abteilung war Ende 1969/Anfang 1970 aus dem Forschungsneubau im Hauptwerk von Zeiss in Baracken des Mikrobiologischen Instituts auf dem Beutenberg "verbannt" worden. Das war eine Umbruchzeit, vor allem beeinflusst von den Aktivitäten des damaligen Generaldirektors Gallerach im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems. Wenn es nach Gallerach gegangen wäre, hätte man bei Carl Zeiss Jena nur noch solche Geräte gefertigt, die in Großserien liefen. Durch engere Bindungen mit den RGW-Ländern, voran die UdSSR, sollte diese Politik ökonomisch abgesichert werden. Die Erzeugnisgruppe Astro, mit Großgeräten in Einzelfertigung, passte nicht in dieses Konzept. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Baracken waren neu, und das Konstruktionsbüro fand in einer von fünf Baracken Platz. Sie lagen "am Felde", auf Russisch "na pole", und "er" heißt "on", also zusammengefasst "napoleon". Das war vielleicht ein Sprachscherz aus der Napoleonischen Zeit, den ich einmal gehört hatte. Jedenfalls nannte ich gelegentlich Gästen gegenüber unsere Bleibe die "LPG Napoleon", denn hinter den Baracken weideten Schafe, die in der Mittagspause gefüttert wurden. Die Verbannung hatte auch ihre guten Seiten, das Zusammengehörigkeitsgefühl war in der damaligen Zeit stark entwickelt.

Ich hatte ein schönes, nach Süden gelegenes Arbeitszimmer, sogar mit einem "roten(!)" Teppich aus Kokosfasergewebe ausgelegt, den mein Gruppenleiter Paul Luthardt für mich "organisiert" hatte.

Das Hauptproblem auf dem Beutenberg war die Telefonverbindung zum Zeisswerk. Es gab nur drei Amtsleitungen, die ständig überlastet waren. Wir waren also schwer zu erreichen. Das hatte manche Vorteile. Eilige Befehle zu kurzfristigen Aktionen oder Meldungen konnten uns nur mit großer Verspätung erreichen, gute Nachrichten waren auch nach Tagen willkommen. Gelegentlich wurden auch Boten ausgeschickt, wenn etwas ganz eilig war. So schickte eines Tages Prof.Görlich, der damalige Direktor für Forschung und Entwicklung, seinen Chauffeur zu mir mit der Nachricht, dass ich ihn umgehend anrufen sollte.

Das Gelände um die Baracken war frei zugänglich, wir mussten selbst für Ordnung und Sicherheit sorgen. Neben der Baracke des Konstruktionsbüros lag eine Baracke, in der das Astro-Labor und andere kleinere Arbeitsgruppen untergebracht werden sollten. Kurz vor Fertigstellung der Baracke geriet diese in Brand, weil man bei Schweißarbeiten nicht die nötigen Sicherheitsvorschriften beachtet hatte. Aber daran waren wir unschuldig!

Wir waren schon einige Zeit dort tätig, als ich es mit einer anderen Art von Sicherheit zu tun bekam. Meine Sekretärin sagte mir eines Tages, Anfang April 1970, wenn ich mich recht erinnere, dass mich zwei Herren zu sprechen wünschten. Das war nicht ungewöhnlich, weil ja, wie erwähnt, eine telefonische Anmeldung ziemlich schwierig war. Die Herren warteten vor der Baracke auf mich, wenige Schritte vor meinem Arbeitszimmer, und nannten ihre Namen, die ich nicht verstand. Dann zeigten sie einen Ausweis, eine Klappkarte, die sie als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit auswies. Sie wollten mich in einer dringenden Sache sprechen. Als ich sie bat, mit mir in mein Arbeitszimmer zu kommen, lehnten sie ab. Sie würden mich lieber im Hotel "International" sprechen, ob ich zu einer bestimmten Zeit am Nachmittag dort sein könnte. Mir blieb nichts weiter übrig, als zuzusagen.

Zurückgekehrt in mein Arbeitszimmer musste ich erst einmal nachdenken, was das bedeuten könnte. Ich glaube kaum, dass es damals jemanden gab, der nicht erschrocken wäre, wenn sich bei ihm solche Herren gemeldet hätten. Ich überlegte, ob es um mich selbst ginge, ob ich etwas auf dem Kerbholz hätte. Wenn man wie ich nie oder nur selten aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht hatte, konnte schon eine unpassende Bemerkung Anlass für irgendwelche Aktivitäten der Obrigkeit sein. Ich war mir auch keiner Schuld bewusst, gegen den Staat gearbeitet zu haben, was aber sehr subjektiv sein konnte.

Ich möchte hier eine Episode einflechten, die das erläutern soll: Einer meiner Mitarbeiter, ein fähiger und engagierter Ingenieur, war in Tautenburg bei der Inbetriebnahme der Coudé-Spektrographen tätig. Er versah seine Arbeit sehr gründlich und führte ein Arbeitstagebuch, in dem alles Wichtige aufgezeichnet war. Seine Texte waren in Stenographie geschrieben, also für den Ungeübten nicht so glatt zu lesen. Unabhängig davon glaube ich, dass nur er mit den Aufzeichnungen etwas anfangen konnte. Schließlich muss ich noch sagen, dass die Arbeiten in Tautenburg keinerlei strategische Bedeutung für die Konkurrenz oder den "Klassenfeind" hatten oder haben konnten. Nun passierte es, dass er auf dem Wege nach oder von Tautenburg auf dem Jenaer Postamt dieses Arbeitsbuch liegen ließ. Als er mir davon berichtete, dass sein Arbeitsbuch abhanden gekommen sei, wusste er noch nicht einmal genau, ob er es dort verloren oder vergessen habe. Obwohl das Arbeitsbuch keine sogenannte VD-Sache (vertrauliche Dienstsache) war, hielt ich es für besser, den Verlust zu melden. Ich bat meinen Kollegen, alle in Frage kommenden Orte noch einmal abzugehen und dort Hinweise zu hinterlassen, falls das Buch doch noch auftauchen sollte. Zu seiner und meiner Überraschung fand man das Buch nach ein paar Tagen in dem Postamt, ohne irgendwelche Vermerke. Wir reimten uns die Sache so zusammen: Jemand hatte das Buch liegen gesehen und aus Neugierde mitgenommen. Er konnte sich dann doch keinen Vers aus dem Inhalt machen, abgesehen vielleicht von einem gewissen Grad an Wissenschaftlichkeit. Eine Adresse war nicht auf dem Buch. Da legt man das Buch eben wieder dort hin, wo man es aufgenommen hat, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Für mich und meinen Mitarbeiter schien sich die Angelegenheit in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Ich erstattete erneut Meldung, dass das Buch wieder da sei. Da kam ich aber bei den Herren schlecht an. Wir wurden zum Kaderdirektor befohlen und es wurde, wie man so sagt, ein Fass aufgemacht. Auf meine Erklärung, dass das Buch doch wieder da sei und es außerdem keine Dienstgeheimnisse enthielte, wurden wir belehrt, dass die Sache gerade deshalb verdächtig wäre, weil es wieder da sei. Es müsse angenommen werden, dass der "Gegner" den Inhalt kopiert habe. Dass "er" es wieder an Ort und Stelle gelegt habe, solle uns sicher machen, dass nichts passiert sei. Als ich noch einmal erklärte, dass der Inhalt des Arbeitsbuches keine Dienstgeheimnisse enthalte, kam ich schlecht an. Der Genosse Kader-Direktor verkündete, selbst der Inhalt der Betriebszeitung der SED-Parteiorganisation "Der Scheinwerfer" sei ein Dienstgeheimnis in dem Fall, wenn jemand diese Zeitung gezielt dem westlichen Geheimdienst oder anderen ähnlichen Stellen zukommen ließe. Es gab zwar keine personellen Konsequenzen, das Beispiel zeigt aber, wie nahe man an einer Kollision mit der "Sicherheit" war.

Zurück zu der Einladung.

Ich dachte mir dann, wenn es etwas Ernsthaftes im Zusammenhang mit meiner Person wäre, hätte man mich "gebeten", mit zu kommen. Andererseits wunderte ich mich, dass die Herren nicht mit in mein Arbeitszimmer kommen wollten. Im Hotel "International", glaubte ich, harmlos wie ich noch dachte, würden wir im Restaurant doch kaum ungehört sprechen können.

Als ich mich bei der Rezeption erkundigte, wurde ich gebeten, mich in eines der Hotelzimmer zu begeben, wo ich die Herren vorfand. Sie erklärten mir freundlich, dass wir in dem Zimmer ungestörter wären, und fragten mich, ob sie mir etwas anbieten könnten. Ich lehnte ab und versuchte, mein Misstrauen nicht spüren zu lassen. Ich hatte schon einige James Bond-Filme gesehen, da ich als begeisterter Kinogänger bei meinen Auslandsreisen ins westliche Ausland jede Gelegenheit zu einem Kinobesuch nutzte. Da konnte man, wie auch aus anderen Spionagefilmen, einiges über die Praktiken der "Dienste" erfahren, als da sind kleine Pülverchen oder Tropfen, die gesprächig machen. Von Alkohol hielt ich sowieso nichts, am wenigsten bei einer solchen Gelegenheit.

Ganz genau kann ich mich nicht an das Gespräch erinnern. Ich will versuchen, das Wesentlichste zu schildern und einige Kommentare einstreuen. Inzwischen kennt man ja aus den verschiedensten Berichten die allgemeine Taktik der Stasi bei Anwerbungsversuchen. Allerdings wusste ich zu Beginn des Gespräches noch nicht, worauf die Herren hinauswollten.

Sie hätten erfahren, dass es einige Probleme im Zusammenhang mit den 2-m-Teleskop in der ČSSR gegeben habe, für die ich verantwortlich sei, und sie würden mir helfen wollen, aus der Problematik herauszukommen. In der Tat hatte es Probleme mit dem 2-m-Teleskop gegeben bei der Öldrucklagerung, wo es zu einem Defekt der Lagerfläche eines Öldruck-Kissens gekommen war. Es hatte sich aber eindeutig um einen Fertigungsfehler gehandelt, für den ich überhaupt keine Verantwortung zu tragen hatte. Dass es sich um diese Probleme handelte, wurde nicht ausgesprochen. Bei meiner Antwort ging ich auch nicht auf das Problem ein, das mir in den Sinn gekommen war. Im Brustton tiefster Überzeugung erklärte ich, dass die Herren offenbar nicht richtig informiert seien, ich sei mir keiner Schuld bewusst. Demzufolge bedürfte ich auch keiner Hilfe.

Das war Stufe 1 des Anwerbungsversuchs: Das Subjekt in irgendeiner Weise in die Ecke zu manövrieren, um dann großzügig zu helfen, wenn man zu einigen Gefälligkeiten bereit sei.

Dann ging es weiter mit Stufe 2: Ich würde doch häufig im Ausland sein, auch in westlichen Ländern und hätte doch mit Weltraumfahrt und entsprechenden Institutionen zu tun. Wenn ich sie mit detaillierten Berichten versorgen würde, könnte ich weiterhin und häufiger in den Westen reisen. Ich erklärte dazu, dass ich eigentlich dafür bekannt sei, dass meine Reiseberichte sehr ausführlich, sozusagen von "epischer Breite" wären. Diese Berichte würden sicher im Betrieb ausgewertet und stünden den staatlichen Dienststellen zur Verfügung.

Ich nahm dabei Bezug auf einen Bericht von einer Dienstreise nach Kiel zur Tagung der Astronomischen Gesellschaft im Jahre 1956. Damals wurde ich von meinen "Kollegen", die in gleicher Funktion bei ASKANIA in West-Berlin und bei Carl Zeiss Oberkochen tätig waren, zu einem Gespräch gebeten. Ich wurde gefragt, was ich davon hielte, wenn es zu einer gewissen Abstimmung zwischen den drei Unternehmen auf dem Gebiet der Astrogerätetechnik käme. Der Konkurrenzkampf würde doch wenig nützen usw. usf. Ich hörte mir die Sache an und fragte als erstes, ob sich die "Kollegen" darüber im Klaren wären, wie ihre entsprechende Geschäftsleitung zu einem solchen Vorschlag stünde. Ich sagte ihnen voraus, dass sie mit großen Schwierigkeiten zu rechnen hätten, da mit einer Abstimmung die Anerkennung des "Partners" verbunden sei. ASKANIA hatte damals das Erbe von Carl Bamberg in West-Berlin fortgeführt, und in Oberkochen war die Astro-Abteilung unterentwickelt. Erst durch ein gemeinsames Projekt ASKANIA - Carl Zeiss Oberkochen für ein Großobservatorium in Caracas/Venezuela kam Bewegung in das Geschäft. Was wir noch im Einzelnen besprachen, weiß ich nicht mehr, allerdings verfasste ich damals einen ausführlichen Bericht. Darin brachte ich meinen Standpunkt klar zum Ausdruck, dass dieser Vorschlag offenbar aus einer gewissen Schwäche der anderen Seite entstanden sein muss. Immerhin hatten wir damals bereits den Tubus des Hamburger Schmidt-Spiegelteleskops geliefert, und an dem 2-m-Universal-Spiegelteleskop wurde intensiv gearbeitet.

Einige Zeit danach wurde ich zu einer Besprechung gebeten, die in einem Zimmer in dem zur Personal-Hauptleitung gehörenden Komplex im Erdgeschoss hinter der sogenannten Ehrenhalle stattfand. Mit wem ich es genau zu tun hatte, war mir damals nicht klar. Offiziell gab es damals eine Abteilung der Kriminalpolizei im Zeisswerk, die sich mit dem "Schutz des Volkseigentums" auf dem Gebiet der Wirtschaft beschäftigte. Die Herren, die mich befragten, kannte ich nicht. Sie wollten noch mehr zu der Angelegenheit Abstimmung von mir wissen. Ich verwies jedoch auf den Bericht, in dem ich alles, was zu berichten gewesen wäre, aufgeschrieben hätte. Man gab sich schließlich zufrieden. Ich wurde aufgefordert, wieder Bericht zu erstatten, wenn sich neue Anhaltspunkte ergeben würden. Das Thema war aber für mich erledigt, ich wurde nie wieder daraufhin angesprochen und ich suchte auch keinen Kontakt.

Diese Story erzählte ich den Herren, die sie möglicherweise schon kannten, denn eine Identität der angeblichen Wirtschafts-Kripo mit der "Sicherheit" ist aus heutiger Sicht sehr wahrscheinlich. Schließlich rettete ich mich vor dem Ansinnen des Aushorchens meiner Partner damit, dass ich erklärte, ich glaubte nicht, die Eigenschaften eines James Bond zu haben.

Damit war aber das Gespräch nicht zu Ende. Jetzt kam die Stufe 3, konkrete Bezichtigung eines verdächtigen Umstands.

Ich wurde gefragt, ob ich einen Astronomen H.U.S. kennen würde. Das bestätigte ich und erwähnte dabei, dass ich eine große Anzahl von Astronomen in der BRD kenne, da ich häufig, oft mehrmals im Jahr, dort dienstlich an den Sternwarten tätig sei. Was ich mit ihm zu tun gehabt habe? Ich erzählte die für mich harmlose Geschichte. H.U.S. hatte einen Bruder, der Physiklehrer war und eine kleine Schulsternwarte aufbauen wollte. Der Fachastronom schrieb mir einen Brief, dass er in der nächsten Zeit nach Jena kommen wolle, um mit mir über eine zweckmäßige Ausrüstung zu sprechen. Ich lud ihn ein, auch bei mir zu wohnen, da meine Frau mit den Kindern gerade verreist war. Hier muss ich anmerken, dass es um das Jahr 1963 war, wo es noch keine strengen Vorschriften über Kontakte mit BRD-Bürgern gab. H.U.S. sagte mir, dass er nur auf der Durchreise sei, aber nicht wohin und zu welchem Zweck, was mich auch nicht weiter interessierte. Wir besprachen das Notwendige, ich empfahl ein 150-mm-Cassegrain-Spiegelteleskop, das auch später gekauft wurde.

Einen indirekten Kontakt hatte ich im Herbst 1963 mit H.U.S., als ich zu einer Tagung der Vereinigung der Sternfreunde nach K. fuhr, wo sein Bruder wohnte. Ich erhielt das Angebot, bei der Familie seines Bruders während dieser Zeit zu wohnen. Meine Reise wurde damals von unserer Vertreterfirma W.J. in Göttingen finanziert, und es blieb mir überlassen, ob ich privat oder in einem Hotel übernachten wollte. Tatsächlich war seine Schwägerin meine Gastgeberin, da sein Bruder zu einer Exkursion in der Türkei weilte. Ob ich das erwähnte, weiß ich nicht.

Ob ich wüsste, wohin H.U.S. anschließend gefahren sei? Ich konnte ohne Schwierigkeiten antworten, dass ich es nicht wüsste und war froh darüber. Denn nur was man nicht weiß, kann man nicht verraten.

Das Thema war dann auch zu Ende. Dann kam noch die Rede auf finanzielle Vergünstigungen während meiner Dienstreisen von dritter Seite. Hier konnte ich ebenfalls beruhigt feststellen, dass mir, außer einer kostenlosen Übernachtung wie in K. und gelegentlichen Einladungen zum Essen seitens der Vertreter keine Vergünstigungen zugekommen waren. Schließlich wurde ich vergattert, über das Gespräch strengstes Stillschweigen zu bewahren und mich auch dazu schriftlich zu verpflichten, was ich tat.

Lange Jahre trug ich die Angelegenheit mit mir herum. Wenn man im Jahre 1970 einen Vorgang aus dem Jahre 1963 vorbrachte, vielleicht sogar die Abstimmungsbesprechung aus dem Jahre 1956, dann musste ich jahrelang unter Observation gestanden haben. So brauchte ich mich auch nicht zu wundern, dass mir bei meinen "Westreisen" Aufpasser mitgegeben wurden, was mir eigentlich gleichgültig war. So war es bei einer Reise zur Tagung der Astronomischen Gesellschaft in Nürnberg im Jahre 1968 gewesen. Andererseits hatte ich große Freizügigkeit bei meinen Reisen nach Kanada, wo ich längere Zeit mehrmals allein unterwegs war, um die Planetariumsprojekte Toronto, Calgary und Vancouver durchzuziehen.

Meine letzte Reise nach Kanada führte mich 1979 nach Montreal zur Tagung der Internationalen Astronomischen Union, wo ich u.a. gemeinsam mit irakischen Astronomen einige technische Spezifikationen der Ausrüstung des 2-m-Teleskops für Irak durch Konsultationen mit erfahrenen amerikanischen Astronomen präzisieren wollte. Bei dieser Gelegenheit kam ein holländisch-kanadischer Astronom auf mich zu, den ich schon von zahlreichen Arbeitsbesuchen in Tautenburg kannte.

Durch seine Untersuchungen stellte sich heraus, dass das Tautenburger Schmidt-Teleskop dank seiner ausgezeichneten Optik dem bisher größten Schmidt-Teleskop auf dem Mount Palomar wesentlich überlegen war. Er hatte den Wunsch, das früher an die Sternwarte Victoria B.C. gelieferte Koordinatenmessgerät von Zeiss gegen einen Sternplattenkomparator auszutauschen. Ich erklärte ihm, dass das wahrscheinlich auf Schwierigkeiten stoßen würde. Ob er nicht versuchen könnte, das Gerät an eine andere Sternwarte zu verkaufen und für den Erlös den Komparator zu kaufen. Das gab wieder bei ihm Schwierigkeiten, denn das Koordinatenmessgerät war als Eigentum der Britischen Krone inventarisiert und durfte nicht weiter veräußert werden. Ich versprach also, bei meinen Vorgesetzten seinen Wunsch und seine Probleme vorzutragen und bat ihn außerdem, die Angelegenheit noch einmal schriftlich vorzubringen.

Mein wieder sehr ausführlicher Reisebericht, der mit entsprechenden Maßnahmeplänen verbunden war, wurde bestätigt, und ich hoffte auf einen positiven Entscheid seitens des Außenhandels, der das Handelsmonopol aufrecht erhielt.

Nach meiner Rückkehr von Kanada erwarteten wir eine Delegation aus dem Irak, darunter die Astronomen, mit denen ich in Kanada verhandelt hatte. Mitten in die Besprechungen hinein bekam ich das Verbot, weiter an den Verhandlungen teilzunehmen. Es wurde kein Grund angegeben, so dass ich erst einmal eine Aussetzung des Verbots erzwang, bis die Verhandlungen abgeschlossen waren. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass ich 1977/78 in zähem Ringen in einem fünfmonatigen Aufenthalt im Irak, gemeinsam mit meinem Freund R.H. die Hauptlast der Verantwortung für die Vertragsverhandlungen trug, was schließlich zum Erfolg geführt hatte.

Dann ging es aber Schlag auf Schlag: Meiner Abteilung wurde in meiner Abwesenheit mitgeteilt, dass ich wegen mangelnder sozialistischer Leitungstätigkeit von meiner Funktion als Leiter für Forschung und Entwicklung abgelöst worden sei. Das gleiche wurde mir in einem "Kadergespräch" vom Direktor des Forschungszentrums Prof. K.M. in Anwesenheit des Kaderleiters und des Parteisekretärs mitgeteilt. Es gebe keine Beanstandungen hinsichtlich meiner fachlichen Tätigkeit, so dass ich wieder als Abteilungsleiter des Astrolabors wirken könnte. Dazu bekam ich gewissermaßen als Strafaufgabe, die Verhandlungen zur Übergabe des 2-m-Spiegelteleskops Bulgarien fachlich zu betreuen, wozu ich für 6 Wochen zum Observatorium Roshen reiste.

Aus heiterem Himmel schlägt kein Blitz. Zum einen war ich als letzter "Staatlicher Leiter", der nicht in der SED war, längst fällig. Vor mir war Dipl. Ing. Schöler in der Erzeugnisgruppe Bildmess durch einen Partei-Kader ersetzt worden, der wenigstens noch ein ausgebildeter Fotogrammeter war. Und es gab sicher noch genügend Gründe, einen Nonkonformisten, der bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit seine unverblümte Meinung sagte, zumindest aus der ersten Reihe zu nehmen. Was war der Anlass? Genau weiß ich es nicht, aber es war die Rede von einem Brief an mich von dem besagten kanadischen Astronomen, der sein Ansinnen an mich und nicht an die Firma gerichtet hatte. Das war natürlich ein Zeichen für die Herren von der "Sicherheit", dass da etwas nicht stimmen könnte. Da mir keine direkten Vorwürfe gemacht wurden, konnte ich auch nicht Stellung nehmen und eine Rechtfertigung fordern.

Abgesehen von dieser dienstlichen Zurückstellung wurde ich aus der Liste der Reisekader für das westliche Ausland, das sogenannte Nicht-sozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW), gestrichen. Auch meine Reisetätigkeit in das SW, das Sozialistische Wirtschaftsgebiet, wurde eingeschränkt. Sogar als sogenannter Betreuer war ich nicht mehr genehm.

Summarisch muss ich sagen, dass ich keinen Schaden an Leib und Seele durch diese Maßregelung erlitten habe. Das lag einerseits daran, dass ich mich der unveränderten Sympathie vieler Kollegen erfreuen konnte und immer noch eine verantwortungsvolle Aufgabe hatte. Ich wurde zwar gelegentlich gefragt, aus welchen Beweggründen ich weiterhin aktiv auf meinem Arbeitsgebiet tätig sei? Wenn es nicht so anmaßend klingen würde, hätte ich sagen können, dass ich verhindern wollte, dass meine 25jährige Tätigkeit für die Astroabteilung von Zeiss umsonst war. Etwas bescheidener gesagt, ich hatte eine solche Entwicklung kommen gesehen. Da ich mich nicht an die SED gebunden hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis es mir wie Schöler gegangen wäre.

Die Geschichte der vergeblichen Werbung der Stasi rundete sich im Februar 1990. Der oben erwähnte Astronom H.U.S. war Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in München-Garching. In der Nähe des Instituts hat die Europäische Südsternwarte (ESO) ihr Hauptquartier. Dort war ich mit Kollegen der Astroabteilung zu einer Konsultation bei R.N.W., einem Optikspezialisten von internationalen Rang. Da ich den damaligen Direktor des Max-Planck-Instituts, Prof. Kippenhahn, sehr gut kannte, besuchte ich ihn, und er freute sich, dass wir uns nach langer Zeit wiedersahen, es waren wohl mehr als 20 Jahre. Dabei erkundigte ich mich, ob denn H.U.S. noch im Institut tätig sei. Das wurde bestätigt, ich würde ihn in einer Art Cafeteria treffen. Vorsichtshalber ging K. mit, damit wir uns nicht verfehlen. Ich erkannte H.U.S. auch nicht gleich auf den ersten Blick, er hatte noch größere Mühe, mich nach so langer Zeit zu erkennen.

Nach den üblichen Begrüßungsworten setzte ich zu der Frage aller Fragen an: Was hatten Sie auf dem Kerbholz, dass sich die Stasi so intensiv für Sie interessierte und Sie offenbar auf Schritt und Tritt überwachte? Ich erzählte ihm die Geschichte von dem vergeblichen Werbeversuch, was ihn etwas betroffen machte. Er bedauerte erst einmal, dass ich seinetwegen Verdruss gehabt hatte und erzählte mir die Umstände seiner Reise, von denen ich nichts geahnt hatte und im Nachhinein froh war, nichts gewusst zu haben.

In der Nähe von Berlin, an der Dahme, lag ein Haus der Evangelischen Kirche. Dort fanden regelmäßig Kurse mit dem Niveau einer höheren Schulbildung für solche Jugendliche statt, die nicht die erweiterte Oberschule besuchen durften. Das Ganze lief konspirativ ab, allerdings hatte die Stasi davon erfahren und überwachte die dortigen Aktivitäten. H.U.S. war also auf dem Weg zu einem solchen Kursus und die Reise über Jena war nur ein, scheinbar gut getarnter Vorwand. Er erzählte noch Einzelheiten, wie die Stasi versucht hatte, den Leiter der Einrichtung in ihre Dienste zu nehmen, was er empört und in aller Öffentlichkeit zum Besten gab.

Ich konnte H.U.S. versichern, dass mir seinetwegen kein unmittelbarer Schaden erwachsen sei und ich eigentlich froh war, dass ich indirekt und ohne mein Wissen seine Aktivitäten unterstützt hatte.

Die letzte Frage will ich noch beantworten, ob ich mich um Einsicht in meine offensichtlich umfangreichen Stasiakten bemüht habe. Nein, oder vorläufig nein. Wenn ich es mir recht überlege, müssen mehrere Leute Informationen über mich zusammengetragen haben. Im Notizbuch eines Mitarbeiters, der für eine Zeit Parteigruppenorganisator in meiner Abteilung war, fand man eine Eintragung: "Beck sagte, J. (der betreffende Mitarbeiter) ist ein Esel!" Wer weiß, wie viele "Freunde" sich als Zuträger betätigten, bis das Fass zum Überlaufen voll war. Allerdings ärgert mich eines, dass mit ziemlicher Gewissheit gerade solche "Charaktere" mit der Wende am Besten zurecht gekommen sind und vielleicht heute wieder ihre früheren Kollegen mit noch größerer Wirksamkeit schikanieren.

25 Jahre bei Zeiss....

Am 18.01.1979 hätte ich mein 25-Jähriges begehen können, aber ich war wieder einmal im Irak. Mit großer Mühe, inschallah, hatten wir den Vertrag für das Observatorium auf dem Mt. Korrek bekommen, und nun ging es um die Realisierung.

Als ich dann wieder zu Hause war, konnte ich die Festivität planen. Im Thüringer Hof hatten wir im November 1978 die Hochzeit unseres ältesten Sohnes Bernard mit seiner Frau Ina gefeiert und waren zufrieden gewesen. So machte ich einen Termin aus und lud neben meiner Abteilung auch eine ganze Reihe älterer Kollegen, teilweise schon in Rente, ein, mit denen ich gut zusammengearbeitet hatte. Man hatte gesammelt, und wir bekamen ein Speiseservice geschenkt, unser zweites. Das erste hatten wir ebenfalls von Zeiss-Kollegen zu unserer Hochzeit geschenkt bekommen. Das war ebenfalls 25 Jahre her, denn wir hatten am 27.02.1954 geheiratet.

Es wurden einige Reden gehalten: die offizielle, dann die Lobrede in der Jubiläumsmappe, dann ein Gedicht, von Herrn Rehm verfasst, ein Gedicht von der Urania-Sternwarte und eine Reise-Rede von Dr. Weßlau. Schließlich habe ich mich auch noch selbstredend bedankt. Ich baue diese Elaborate in meine Memoiren ein, damit alles zusammenkommt, was zusammengehört.

Für die offizielle Rede gibt es kein Manuskript, daher übergehe ich diese. Es hatten insgesamt 152 Kolleginnen und Kollegen unterschrieben und damit gratuliert. In der Jubiläumsmappe hat Brigitte Hösel in Schönschrift mit Tusche das aufgezeigt, was damals über mich gesagt werden sollte:


Lieber Kollege Hans G. Beck !


Aus Anlass Ihres 25jährigen Betriebsjubiläums möchten wir, die Kolleginnen und Kollegen der Hauptabteilung Astronomische Geräte und Planetarien, Ihnen unsere herzlichsten Glückwünsche übermitteln.


25 Jahre beim VEB Carl Zeiss Jena, 25 Jahre für das Spezialgebiet Astronomische Geräte und Planetarien, und man kann sagen, 25 Jahre erfolgreiches Wirken.


Der Tradition unseres Bereiches entsprechend wollen wir in dieser Jubiläumsmappe noch einmal kurz die 25 Jahre abrollen lassen:


Als frisch gebackener Diplom-Astronom traten Sie am 18.01.1954 in den VEB Carl Zeiss Jena ein. Im jugendlichen Alter von 23 Jahren 10 Monaten und 7 Tagen nahmen Sie den Kampf auf. Erste Erfahrungen in Theorie und Praxis hatten Sie bereits bei Ihren Tätigkeiten an der Sternwarte Sonneberg und an der Universitätssternwarte Jena erwerben können.


Ihre Diplomarbeit stand im Zusammenhang mit dem Koordinatenmessgerät „Komess".


Zum Zeitpunkt Ihrer Einstellung bestand ein eigentliches Astro-Labor noch nicht. Die Aufgaben des Labors wurden durch Dr. Güssow und Dr. Heiland wahrgenommen. Es ist Ihr Verdienst, trotz aller Schwierigkeiten das Labor auf seinen heutigen Stand gebracht zu haben. Fast ohne Unterstützung und Anleitung, trugen Sie bei Ihren fachlichen und organisatorischen Aufgaben und Entscheidungen von Anfang an eine große Verantwortung.


Deutliche Spuren Ihrer Tätigkeit sind am Koordinatenmessgerät zu erkennen. Auf Grund der Beck´schen Vorschläge entstand eine nächste Generation der Koordinatenmessgeräte, diesmal mit elektronischer Registrierung. Geräte vom Typ „Ascorecord" in verschiedensten Ausführungen zeigen in der Folgezeit die kontinuierliche Entwicklung.


Nach erfolgreichen Jahren im Astro-Labor erfolgte am 1.9.1960 die Bestätigung als wissenschaftlicher Abteilungsleiter des Astro-Labors.


In diese Zeit fällt auch der Abschluss der Entwicklungsarbeiten für das 2-m-Universal-Spiegelteleskop Tautenburg. Dieses Gerät, von einem Kollektiv unter Leitung unseres Kollegen Alfred Jensch entworfen und konstruiert, festigte sehr wesentlich den guten Ruf des Zeisswerkes. Im Oktober 1960 wurde dieses 2-m-Teleskop an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin übergeben.


Ein Gebiet, das Sie wesentlich beeinflusst haben, sind die Planetarien. Zahlreiche Anregungen zur weiteren Vervollkommnung dieser Geräte sind von Ihnen ausgegangen, teilweise angeregt durch Auslandsreisen, teilweise durch Studium der Auslandliteratur. Auf Ihre Initiative wurden Maßnahmen zur Gebrauchswerterhöhung der Planetariumskuppeln eingeleitet. Es kam vor allem auf die Verbesserung der Akustik an. Die Ausführung der Projektionsfläche des Jenaer Planetariums aus feingelochten Blechtafeln und dahinter angebrachten schallschluckenden Materialien kann als Funktionsmuster der nachfolgend an die Kunden gelieferten Innenkuppeln gelten. Die zweite Projektionsfläche dieser Art wurde im Birla-Planetarium in Kalkutta ihrer Bestimmung übergeben. An dieser Einweihung nahmen Sie ja selbst 1962 teil.


Betrachtet man die Entwicklung des Raumflugplanetariums und des Zeiss-Kleinplanetariums ZKP2, so findet man viele Beck´sche Hinweise, Anregungen und Auflagen wieder. Und das, obwohl Sie immer behaupten, kein Konstrukteur zu sein. Aber jede Idee, jeder Hinweis, jede positive Kritik an einem Entwurf beeinflusst eine Entwicklung, eine Konstruktion.


Als im Jahre 1962 im kleinen Kreis unseres Entwicklungsbereiches die Zweckmäßigkeit eines mittelgroßen Planetariums erörtert wurde und seitens der Sowjetunion ebenfalls Interesse bestand, waren Sie bestrebt, diese Entwicklung mit unserem Planetariumsexperten Gerhard Vogel in Zusammenarbeit einzuleiten und unter dessen Anleitung und Beratung dann später durch ein Entwicklungskollektiv in Dresden durchführen zu lassen. Ihre Vorstellungen führten zu einem Planetarium mit hohem Automatisierungsgrad. Raumflugplanetarien in aller Welt künden von unserem hohen Entwicklungsstand und der Richtigkeit des gewählten Weges.


Im März 1963 erfolgte die Zusammenführung von der Konstruktionsabteilung und dem Labor, die bisher unter verschiedenen Hauptabteilungen nebeneinander arbeiteten. Die Leitung dieser neuen Struktureinheit wurde Ihnen übertragen.


In diese Zeit fallen auch die Entwicklungsarbeiten zum 2-m-PCC-Teleskop. Die Kundenwünsche aus der ČSSR und der UdSSR lagen vor. Jede Gruppe versuchte, ihre Konzeption durchzubringen. Ihrem Einsatz ist es zu danken, dass in mühevollen Abstimmungsrunden die Standpunkte der Sowjetunion und der ČSSR weitgehend näherten. Mit der Übergabe der Teleskope in Schemacha (1966) und Ondrejov (1967) konnte wiederum ein sehr positiver Beitrag zum Ansehen des Namens Carl Zeiss Jena verbucht werden.


Auch bei den mittleren und kleinen Astro-Geräten haben Sie oft wesentlich zur Konzeption beigetragen, zum Beispiel beim UFPS, bei beiden PZT, bei den Amateurgeräten.


Nicht unerwähnt darf in dieser Aufzählung Ihre Reisetätigkeit bleiben. Eine Ihrer ersten Auslandsdienstreisen führte Sie vom September 1955 bis Februar 1956 mit einer CZ-Ausstellung nach Indien. Es folgten Polen, Italien, Schweiz, Österreich, China. Im Juni 1960 nahmen Sie an der Einweihung des ersten nach dem Krieg ins kapitalistische Ausland gelieferten Planetariums in Akashi/Japan teil.


Nicht immer waren es Ausstellungen und Tagungen. Sehr bald wurden Sie zu Verkaufsreisen eingesetzt. Ursache hierfür war, dass neben dem soliden astronomischen Wissen auch kaufmännische Begabung und gute Sprachkenntnisse vorhanden waren. Zahlreiche Geschäfte mit kapitalistischen und sozialistischen Ländern wurden von Ihnen vorbereitet oder abgeschlossen. Wer nennt die Geräte, wer nennt die Summen?


1967 erreichten Sie durch Verhandlungsgeschick den Absatz von drei Großplanetarien nach Kanada, Die Verhandlungen mit der Volksrepublik Bulgarien über die Lieferung eines 2-m-RCC-Spiegelteleskops konnten erfolgreich abgeschlossen werden.


In der Reihe der Großgeräte dürfen die 1-m-Spiegelteleskope und die Horizontale Sonnenforschungsanlage nicht vergessen werden, deren Konzeption wesentlich von Ihnen beeinflusst wurde. Im Zusammenhang mit dem 1-m-Teleskop Ungarn entwickelten Sie neue Aktivitäten zur Gewinnung eines Elektronik-Partners. Heute können wir sagen, der Einsatz hat sich gelohnt. Die Zusammenarbeit mit VILATI/Budapest hat sich gut entwickelt und wird sich hoffentlich erfolgreich fortsetzen.


An der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit unserem sowjetischen Partnerbetrieb LOMO in Leningrad haben Sie ebenfalls wesentlichen Anteil, einer Zusammenarbeit, die mit Erfahrungsaustausch begann und zur zukünftigen gemeinsamen Entwicklung von Astro-Großgeräten führen wird.


Durch staatliche Beschlüsse sind dem Kombinat VEB Carl Zeiss Jena neue Aufgaben im Anlagenexport auferlegt worden. In langwierigen Verhandlungen gelang Ihnen der Abschluss eines Vertrages zur Errichtung eines Nationalen Observatorium im Irak. In diesem Zusammenhang müssen auch die Objekte Libyen, Algerien, Wolfsburg und Kuwait erwähnt werden.


In den 25 Jahren wissenschaftlicher, organisatorischer und konzeptioneller Arbeit entstanden auch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in der Fachliteratur. Ihr Name bekam Klang in der Fachwelt, das drückt sich aus durch die Mitgliedschaft im wissenschaftlichen Beirat des Zerntralinstituts für Astrophysik, in der Internationalen Astronomischen Union und im Organisationskomitee der internationalen Planetariums-Direktoren-Konferenz.


Entsprechende Auszeichnungen für die geleistete Arbeit blieben nicht aus: mehrfacher Aktivist, Hervorragender Neuerer (Gold) und als Höhepunkt 1967 die Auszeichnung mit dem Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik für Ihren Anteil an der Entwicklung hochautomatisierter Astro-Optischen Geräte, insbesondere eines programmierbaren 2-m-Spiegelteleskopes.


Doch die Entwicklung in diesen 25 Jahren verlief nicht ohne Einbrüche und Hindernisse. Zwischen den Extremen „Auflösung der Erzeugnisgruppe Astro (1969)" und „… wer Astro abschafft, sollte standrechtlich erschossen werden! (1977)" liegen noch mancherlei Steine und Barrikaden. Gemeinsam mit dem Kollektiv haben Sie, lieber Kollege Beck, diese Hemmnisse hinter sich gelassen, weil Sie wussten und wissen, dass hinter Ihnen ein leistungsfähiges Kollektiv steht, das in der Lage ist, die gestellten Aufgaben zu lösen.


Lieber Kollege Hans G. Beck !


Eine vollständige Geschichte Ihrer Tätigkeit im VEB Carl Zeiss Jena zu Papier zu bringen, ist äußerst schwierig. Zu groß ist die Zahl der von Ihnen wahrgenommenen Aufgaben und Verpflichtungen, zu umfangreich Ihre Arbeit, so dass das Gesagte nur einer kurzen Rückschau gleichen kann.


Die Arbeiten der vergangenen 25 Jahre auf dem Gebiete der Forschung, Entwicklung und Fertigung von astronomischen Geräten und Planetarien im VEB Carl Zeiss Jena wurden durch Sie stark mitgeprägt.


Wir schließen diesen Überblick mit dem Dank für Ihre Leistungen, Ihren Fleiß und Ihre Einsatzbereitschaft und mit der Bitte, auch weiterhin in unserem Kollektiv so erfolgreich tätig zu sein.


Ihnen und Ihrer werten Gattin, die Ihnen in all den Jahren treu zur Seite stand und manche schwere Bürde allein tragen musste, wünschen wir Gesundheit, Glück, Zufriedenheit und weiterhin Freude an der Arbeit.


Ihre Kolleginnen und Kollegen


Jena, den 18. Januar 1979



Jubiläumsdank...


Das Wort Jubiläum stammt aus der jüdischen Geschichte, ursprünglich wurde alle 50 Jahre ein Erlass von Strafen für Sünden gewährt. Wenn ein solches Jubiläum begann, wurde ins Horn gestoßen (Yobel ist das hebräische Wort für Horn des Widders).


Wenn also heute mein Jubiläum von 25 Jahre bei Zeiss gefeiert wird, so hoffe ich, dass mir wenigstens für die Hälfte meiner Sünden Erlass der Strafen gewährt wird.


Das nur zur Einleitung !


In der Hauptsache möchte ich mich jedoch bedanken, und es wird eine lange Liste. Natürlich zuerst bei Allen, die mir jetzt und in den vergangenen Tagen ihre besten Wünsche übermittelt haben. Für die Würdigung meiner Tätigkeit schulde ich auch Dank, besonders für die Zusammenstellung meiner Jubiläumsmappe, die bei mir einen Ehrenplatz wie die lange Lebensrolle von meinem 40. Geburtstag einnehmen wird.


Dank habe ich auch zu sagen für die pekuniären Beiträge zu meinem Jubiläum, die in materieller Form meiner Frau und mir helfen werden, meiner kopfzahlreichen Familie Suppe, Speise und Zukost zu servieren.


Der größte Dank geht aber an Alle, die mir in den Jahren meiner Zeit mit und für Zeiss zur Seite standen und direkt oder indirekt mein Handeln und Wirken förderten. Nur in dem großen Astrokollektiv fähiger Facharbeiter, Konstrukteure und Wissenschaftler, das sich quasi der Astro-Sache verschrieben hat, konnte ich mich entwickeln und meinen Beitrag leisten. Ich schulde Dank denen, die mich geduldig belehrten, die aus meinen Denkanstößen hochwertige Geräte schufen und auch denen, die sich geduldig von mir belehren ließen.


Meine Kolleginnen und Kollegen möchten mir nachsehen, wenn ich jetzt keine Namensliste vortrage von denen, die meinen besonderen Dank verdienen. Aber jeder weiß, wie sehr ich meinem Freund Alfred Jensch Dank schulde für die gute Zusammenarbeit während langer erfolgreicher Jahre.


Last but not least möchte ich auch meinen Vorgesetzten meinen Dank zum Ausdruck bringen für das Vertrauen, das sie mir bereits in jungen Jahren entgegenbrachten und das ich jetzt noch aus den anerkennenden Worten verspüre.


Ich werde mich bemühen, die mir übertragenen Aufgaben und diejenigen, die wir uns selbst stellen müssen, mit meiner ganzen Kraft und mit vollem Engagement zu einer Lösung zu führen.


Der Kurs ist klar, unser Schiff Astro ist aus zeitweiligen Untiefen heraus, und wenn jeder Mann an seiner Stelle seine Pflicht tut, dann wird der Erfolg nicht ausbleiben.



Dr. Weßlaus Gedanken über das Reisen im Jahre 1970...

Er sagte:

„Als ich überlegt habe, was neben der offiziellen Jubiläums-Rede eigentlich noch gesagt werden müsse, bin ich bei unserem Jubilar sofort auf das Reisen gestoßen. Ich denke, darüber soll heute auch geredet werden.


Über das Reisen des Herrn B. (Nicht über die Reisen des Herrn B.)


Ich wollte klären, warum manche Leute viel reisen müssen und andere wiederum nicht. Das muss sicherlich nicht nur darin begründet liegen, dass manche Leute auch Gelegenheit zum Reisen haben, sondern die Ursachen müssen tiefer liegen. Um die Aufdeckung dieser Ursachen geht es nun bei dieser Untersuchung und um das Verständnis des Reisens.

Ich habe dazu in der Literatur recherchiert und recht widersprüchliche Ursachen finden können.

Ganz erstaunt aber war ich, als ich feststellte, dass unser Jubilar eigentlich der Ethik des Hinduismus nahe steht. Sie werden fragen, wie ich darauf komme. Nun, sicherlich aus aktuellen Anlass.

Der Hinduismus kennt die Vielheit der Lebensziele:

        Dharma (das Streben nach Gutem)

        Artha (nach Nützlichem)

        Karma (nach Angenehmen)

        Moksa (nach Erlösung)

Ich habe nun festgestellt, dass insbesondere Artha (nur dieses Lebensziel habe ich in diesem Zusammenhang untersucht), vortrefflich für den Jubilar zutrifft.

Als Beweis dient der folgende Sanskrit-Spruch:

„Wer nicht in der Welt herumgekommen ist und nicht die mannigfaltigen Sprachen, Trachten, Bräuche und andere Eigenheiten fremder Länder kennengelernt hat, dessen Leben ist umsonst."

Das Glück für unseren Jubilar, das daraus spricht, hat mich aber trotzdem traurig gestimmt. Wie sieht es da eigentlich mit unserem Leben aus? Ich denke, nun wir hängen nicht der hinduistischen Ethik an und es ist also nicht so schlimm für uns.

Aber ich war erschrocken, als ich las, dass „nur Reisen ist Leben!"

Den Trost fand ich bei Horaz:

„Coelum non animum mutant qui trans mare currunt" (sie können noch so weit reisen, sie kommen unverändert zurück)

Ich muss sagen, dass ich froh bin, dass Horaz dies gesagt hat, denn ich war wieder geschockt, als ich den nächsten Sanskrit-Spruch las:

„Erst wenn er sich die Welt entdeckt und frohen Sinnes von Land zu Land zieht, kann der Mensch wirklich Wissen, Reichtum und Kunstverständnis erlangen"

Ich war wiederum geschockt, nicht etwa weil ich glaube, dass dieser Spruch keine Berechtigung hat, sondern mir war Angst um uns! Diese Angst wurde durch den nächsten Spruch noch verstärkt:

„Kaufleute, die in ferne fremde Länder ziehen und dort ihre Waren kaufen (oder verkaufen), erzielen das Zwei- oder Dreifache an Wert für ihre Mühen!"

Beruhigt wurde ich aber wieder, als ich merkte, dass das nicht stimmen kann, denn der Jubilar erzielt aus den Reisen ja nur das Einfache für seine Mühen, wie wir auch.


Beglückwünschen können wir unseren Jubilar aber trotzdem, denn Jean Paul sagte weiter:

„Jede Reise verwandelt das Spießbürgerliche und Kleinstädtische in unserer Brust in etwas Weltbürgerliches und Großstädtisches."

Goethe schreibt an Schiller:

„Die Reise gleicht einem Spiel, es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite, man empfängt mehr oder weniger, als man hofft, man kann ungestraft eine Weile hinschlendern und dann ist man wieder genötigt, sich einen Augenblick zusammenzunehmen."

In der Sanskrit-Schrift lesen wir:

„Menschen werden schneller alt durch viel Reisen..."

Platen sagt dagegen wieder:

„Oh wonnigliche Reiselust,

An die gedenk´ ich früh und spat!

Der Sommer naht, der Sommer naht,

Mai, Juni, Juli und August,

Da quillt empor

Das Herz in jeder Brust.

Ein Tor, wer immer stille steht,

Drum Lebewohl und reisen wir!"

Wenn ich nun zunächst zusammenfasse, muss ich sagen, dass das alles gar nicht stimmen kann. Warum? Weil es sich nur um ganz alte Sprüche und Weisheiten handelt, die längst überholt sein müssen und die auf keinen Fall auf Dienstreisen zutreffen können, weil es diese damals noch gar nicht gab.

Meine Zeit mit Zeiss-Planetarien

„Die Sterne dürfet Ihr verschwenden...!"

„Der Himmel auf Erden...„

„An die Sterne gekoppelt...„

„Konservierte Sterne....„

„Fenster zum Universum..„


Diese Titel haben die Entwicklungsgeschichte der Planetarien, insbesondere des Projektionsplanetariums bekannt gemacht. Die später weltberühmte Innovation der Optischen Werkstätten Carl Zeiss Jena ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Leistungsfähigkeit eines Industriepotentials, das entscheidend durch Ernst Abbe geprägt worden war.

In den zahllosen Berichten in Zeitungen und Zeitschriften wurde das Wunder aus Jena als eine geniale Erfindung von Walter Bauersfeld gerühmt, der als führendes Mitglied der Geschäftsleitung von Carl Zeiss Jena auch die erforderliche Durchsetzungskraft für die Entwicklung und Fertigung des neuen  Produkts hatte.

Ein starker Motor war auch die Notwendigkeit, nach dem verlorenen Krieg die wirtschaftlich bedeutende, aber durch den Vertrag von Versailles verbotene Militärproduktion durch Neuerungen von internationaler Bedeutung zu ersetzen. Das waren u.a. auch die Astrogeräte, wie das große Babelsberger Spiegelteleskop oder die Ausrüstung des Potsdamer Einstein-Turms, nicht zuletzt Reparationslieferungen, z.B. die umfangreiche Ausrüstung der Sternwarte Belgrad.

Die technischen Aspekte der Planetariumsentwicklung sind umfassend dargestellt worden. Das ist in den anfangs zitierten Titeln nachzulesen. Man kann dort auch die zweigleisige Entwicklung in den Jahren von 1950 bis 1990 nachvollziehen, in der es einen oft erbitterten Konkurrenzkampf zwischen Oberkochen und Jena gab. Auf diese Zeit beziehen sich meine Erinnerungen an Planetariums-Menschen und Technik.

Ich möchte zuerst meinen eventuell geneigten Leser um Nachsicht bitten, dass der rote Faden durch diese Geschichte manchmal etwas anders als geradlinig verläuft. In der Zeitabfolge gab es Parallelen, die ich versuchen will, für sich aufzuzeigen. Zum anderen ist das Folgende im hohen Maße ein Gedächtnisprotokoll mit gelegentlichen Lücken oder anderen Schwächen. Auf jeden Fall soll es Zusammenhänge aufzeigen, die nicht mit den bisherigen Veröffentlichungen erläutert sind. Es ist auch mehr unsere Planetariums-Geschichte, die der vielen tüchtigen Mitarbeiter des Planetariumsbereichs in der Zeit von 1954-1983, in der ich auf diesem Gebiet tätig war und Verantwortung hatte.

Im April 1949 kam ich nach Jena und begann im Oktober 1949 mein Astronomiestudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mein Hauptinteresse galt der beobachterischen Seite und später der Astrogerätetechnik. Das Planetarium interessierte mich nicht sehr, es diente ja der Popularisierung der Astronomie und half einem angehenden Fachastronomen nur wenig. Am Himmel kannte ich mich seit meiner Praktikantentätigkeit an der Sonneberger Sternwarte gut aus. Auch während meines Berufspraktikums bei Zeiss im Jahre 1951 kam ich nicht mit der Planetariumstechnik in Berührung, obwohl damals das erste Nachkriegs-Zeiss-Planetarium für Stalingrad geliefert worden war.

Meine erste Berührung mit der Planetariumsentwicklung hatte ich in Bremen auf der Tagung der Astronomischen Gesellschaft im Jahre 1953. Es war mir gelungen, als Student einen Interzonen-Pass für die Fahrt nach Bremen zu erhalten. Eine Bescheinigung des Vorstands der AG deklarierte diese Tagung als Lehrveranstaltung, und es ist eine Merkwürdigkeit der damaligen Zeit, dass man sogar auf Schülerfahrkarte, also mit erheblicher Ermäßigung, fahren konnte. Wir waren eine Gruppe, Wolfgang Wenzel und Alfred Weigert, womit das Ganze einen Anstrich der Organisiertheit und Legalität bekam.

Zu den Vorträgen gehörte auch einer von Dr. Helmut Werner aus Oberkochen über eine technische Weiterentwicklung des Zeiss-Planetariums. Dr. Werner war der Planetariums-Mann in Jena nach dem Tod von Walter Villiger bis zum Jahre 1945. Er war kein Techniker, mehr ein Schöngeist, was man in seinen Veröffentlichungen erkennt. „Die Sterne dürfet ihr verschwenden ...!" In seinem Vortrag stellte er eine Einrichtung zur Darstellung der Eigenbewegungen von hellen Fixsternen dar. Zu diesem Zweck hatte man in Oberkochen vor, um die beiden Fixstern-Kugeln sogenannte Kragen anzuordnen. Auf diesen Kragen waren Sonderprojektoren angeordnet, die über Kegelgetriebe individuell verstellt werden konnten. Die Eigenbewegung einiger markanter Sterne über sehr lange Zeiträume war ein Thema in vielen populären Astronomie-Büchern, auch der Archäo-Astronomie, mit der sich Dr. Werner auch befasst hatte. Auf Steinzeichnungen hatte man Sternbilder entdeckt, bei denen die Lage der Sterne gegenüber den jetzigen Anordnungen verändert war. Das bekannteste Beispiel waren die Sterne des Großen Wagens.

Dr. Werner hoffte, mit dieser Zusatzausrüstung die Attraktivität des Oberkochener Planetariums zu erhöhen, wie vorher durch Sonderprojektoren für Sonnen- und Mondfinsternisse oder für das Sonnensystem. In der Praxis hat sich diese Einrichtung nicht bewährt. Es war für den Laien schon schwierig genug, sich am Himmel unserer Zeit zurecht zu finden. Das merkt selbst ein erfahrener Astronom, wenn er einen teilweise bewölkten Himmel betrachtet und dann einige Sterne „fehlen". Wenn nun die hellen Sterne ihre Position erheblich verändert haben, sind die bekannten Sternbilder verzerrt und das verwirrt nur. Durch das unvermeidliche Spiel in den Kegelgetrieben und dem langen optischen Hebelarm von rund 10 Metern war es sogar schwierig, wieder in die Ausgangsposition zurückzukommen. Lange Zeit geblieben sind nur die 20 Sonderprojektoren, mit denen die hellsten Sterne als kleinere Sternscheibchen dargestellt wurden.   

Mit diesen Sonderprojektoren wurde jedoch ein Thema aufgenommen, das bisher nicht die größte Rolle gespielt hatte: Die naturgetreue Darstellung des Sternenhimmels. Ursprünglich stand diese Aufgabe nämlich nicht so, wie sie später sich entwickelte. Sowohl das Kopernikanische als auch das Ptolemäische Planetarium für das Deutsche Museum in München sollten modellhaft natürlich die Astronomie für die breite Öffentlichkeit anschaulich machen. Beim Projektions-Planetarium war die Anordnung der Sterne naturgetreu, ihre Helligkeitsabstufung entsprach ebenfalls dem natürlichen Empfinden. Es gab allerdings nicht nur ein technisches sondern auch ein augenphysiologisches Problem. Die Dunkelanpassung der Augen dauert etwa 30 Minuten und steigert die Lichtempfindlichkeit um den Faktor 100.000.

Das Planetarium sollte aber gleich zu Beginn der Vorführung schon einen strahlenden Himmel bieten, der bekanntermaßen bereits beim ersten Planetarium die Besucher begeisterte. Es störte dabei nicht, dass die hellsten Sterne leuchtende Scheiben waren. Mit größerem Betrachtungsabstand verringerte sich ja der Blickwinkel und kam der Natur näher. Bei allen Zeiss-Planetarien der nächsten 25 Jahre blieb dieser Himmelsanblick und begeisterte Millionen Besucher in aller Welt.

Das letzte der Serie von 25 Geräten sollte übrigens in Budapest aufgestellt werden, und es kam Ende des Krieges zum Versand. Es erreichte aber durch die Kriegswirren nicht seinen Bestimmungsort und gelangte teilweise wieder nach Jena, Dort wurden die „Reststücke" komplettiert, und es entstand das erste Jenaer Nachkriegs-Planetarium, bekannt als das Geschenk der DDR an Stalin zu dessen 70. Geburtstag im Jahre 1949.

Nach der Demontage 1946 war das Ziel der Werkleitung, so schnell wie möglich die Zeiss-Geräte der Vorkriegszeit zu „rekonstruieren". Dieser Ausdruck lässt erkennen, dass in vielen Fällen die Zeichnungsunterlagen nicht mehr vorhanden waren und vielfältige Methoden zur Rekonstruktion angewandt wurden, z. B. an Hand von Mustergeräten. Das Jenaer Vorführgerät war an sich vorhanden, und es gibt sogar unbestätigte Überlieferungen, dass es demontiert und quasi nachgemessen wurde. Es gab aber eine günstigere Konstellation: Ingenieur Fritz Pfau, der seinerzeit für die Konstruktion des „Hantelgeräts" verantwortlich war, gehörte immer noch zu den Jenaer Planetariums-Spezialisten. Ein weiterer Vorteil war die außerordentlich ausführliche Bedienungsanleitung des Jenaer Gerätes mit vielen Zeichnungen.

Ein Vorteil der „Rekonstruktion" war, dass es Raum für Neuerungen und Weiterentwicklungen gab. So entwickelte Ingenieur Gerhard Vogel, als Mitarbeiter von Pfau, die stufenlose Steuerung der Antriebsmotoren mittels Leonard Wandlern, anstelle der komplizierten mehrgängigen Getriebesteuerung.

Was geschah in dieser Zeit in Oberkochen? Nicht sehr viel Neues, aber das ist eigentlich kein Wunder. Zwar war Bauersfeld weiterhin maßgeblich in der Oberkochener Geschäftsleitung, und es gab dort Zeichnungsunterlagen. Aber nicht nur Oberkochen, sondern auch die potentiellen Kunden hatten in der Nachkriegszeit andere Sorgen als den Aufbau eines großen Planetariums. Und nun gab es sogar neue Planetarien aus Jena!

Zwei Ausnahmen brachten Oberkochen ins Geschäft, allerdings nicht auf die ganz feine Art. Es ist nicht so bekannt, dass bis in die 50er Jahre gewisse Abstimmungen zwischen Jena und Oberkochen bestanden. Beide Unternehmen nutzten die Zeiss-Vertretungen in der westlichen Welt, und es war festgelegt, dass entsprechende Anfragen dorthin zu leiten waren, wo die Liefermöglichkeiten bestanden. Die Stadt Sao Paulo wurde mit dem Planetarium Hannover zusammengebracht, dessen Gerät die Bombardierung überstanden hatte, das Gebäude nicht. Wer das zerstörte Hannover kannte, wunderte sich nicht über ein solches Geschäft. Dann gab es eine Anfrage aus Johannesburg in Südarfrika, die ebenfalls nicht nach Jena gelangte.

Es gab feste Zeitvorstellungen für die Lieferung, und Oberkochen hätte dafür kein neues Gerät liefern können. So wurde ein Deal mit der Stadt Hamburg gemacht, die das Hamburger Gerät zur Verfügung stellte, das dann später durch ein neues Oberkochener Gerät ersetzt werden sollte. Beide Geräte wurden natürlich überholt, blieben aber im Wesentlichen auf dem Vorkriegsstand.

Gab es eine Planetariumsentwicklung außerhalb von Jena und Oberkochen? Vier Konkurrenten der verschiedensten Art machten um 1960 von sich reden, davon zwei kommerzielle.

Armand Spitz hatte in den USA während des 2. Weltkriegs begonnen, einfache Schul-Planetarien zu entwickeln. Aus Inseraten in der Zeitschrift „Sky and Telescope" und Prospekten konnten wir erkennen, dass die Spitz-Geräte keine ernsthafte Konkurrenz für die Zeiss-Planetarien darstellten. Das „Klein"-Planetarium hatte Spitz zunächst als einen „Bastelbogen" konzipiert. Anstelle einer Fixsternkugel konnte man einen Vielflächner zusammenkleben. Es gab keine Linsenprojektoren, nur eine Lochprojektion mit mäßiger Wirkung. Ein „Planetarium für Jedermann" im Sinne des amerikanischen „Do-it-Yourself". Spitz hatte trotzdem einigen Erfolg, denn auch die kommerzielle Variante war kostengünstig und funktionierte auch in einem abgedunkelten Klassenraum. Eines der Geräte konnte ich im September 1955 in Poona in der Nähe von Bombay besichtigen. Enttäuschend für den Kenner, aber das Beste, was es dort gab.

Spitz wagte sich auch an ein Groß-Planetarium, das Model B, von dem ein Gerät nach Montevideo und ein zweites nach Flint, Michigan geliefert worden waren. Im Mai 1959 konnte ich es im Anschluss an die 1. Internationale Konferenz der Planetariums-„Executives" besichtigen. Flint, Michigan liegt in der Nähe von Detroit und war einst eine prosperierende Stadt der „Autobauer". Das Planetarium war dort eine Attraktion, und die Bürger von Flint waren stolz auf ihre Errungenschaft. Ich wurde freundlich empfangen und herumgereicht. Dort erlebte ich beispielsweise zum ersten Mal die Faszination eines Selbstbedienungsrestaurants!

Das Planetariums-Vorführgerät war nicht auf einem Gestell aufgebaut, sondern war mit Stahlseilen verzurrt, es schwebte im Raum. Das ging natürlich nur, weil es ein Leichtgewicht war. Es gab wieder keine Fixsternprojektoren wie beim Zeiss-Gerät. Die hellsten Sterne wurden von kleinen Linsenprojektoren erzeugt, sonst aber war es nur eine Lochprojektion. Um diesem Nachteil etwas abzuhelfen, gab es vor dem eigentlichen Eingang in die Kuppel eine Art Foyer mit astronomischen Exponaten und Bildern, die mit UV-Licht angestrahlt wurden. Trotz dieser Phase der Dunkelanpassung dauerte es in der Kuppel etwa 30 Minuten, bis man einen einigermaßen passablen Himmelsanblick hatte. Enttäuschend und damit keine Konkurrenz! Aber das Beste, was es in Flint, Michigan gab!

Etwas kritischer war die Konkurrenz in Japan, wie ich mich im Juni 1960 in Tokio überzeugen konnte. In Akashi bei Kobe war nach Osaka und Tokio das dritte Zeiss-Planetarium eröffnet worden, und ich durfte es übergeben. Durch Akashi verläuft der japanische Zonen-Zeit-Meridian, und das Planetarium und ein Observatorium manifestierten dies. Akashi war 1960 ein großes „Dorf" mit 100.000 Bewohnern, 1978, als ich es wieder besuchte, war es eine Industriestadt geworden, in der nun rund 300.000 Menschen lebten.  

Das Akashi-Planetarium ist insofern bemerkenswert, als es das große Erdbeben in Kobe überstand. Wilfried Lang, der Leiter des Geschäftsbereiches Planetarien bei Carl Zeiss Jena, hatte es danach aufgesucht und erhebliche Zerstörungen auch in der Kuppel festgestellt. Als aber das Gerät probeweise eingeschaltet wurde, funktionierte es immer noch!

In Tokio suchte ich die Firma Goto auf, das erste japanische Konkurrenzunternehmen. Es wäre eigentlich ein Wunder gewesen, wenn sich in Japan niemand gefunden hätte, ein Planetarium nachzubauen oder nachzuempfinden. Kameras hatten den Anfang gemacht und waren, auch international, ein gutes Geschäft. Es gab demzufolge eine Optikfertigung, wenn auch im japanischen Stil in vielen kleinen Handwerksbetrieben. Goto hatte also wesentliche Elemente des Zeiss-Planetariums übernommen, allerdings nicht die charakteristische Hantelform. Zwei Fixsternkugelhälften waren zentral angeordnet, und die Sonne-Mond- und Planeten-„Käfige" lagen außen, mit je einem zusätzlichen Fixsternprojektor.

Das in einer Kuppel vorgeführte Gerät machte einen soliden Eindruck, auch der Sternenhimmel war durchaus konkurrenzfähig. Eine große Überraschung waren aber die Abmessung des Gerätes und die der Kuppel: Eine neue Geräteklasse, das „Mittel"-Planetarium war entstanden! Und das konnte eine ernste Konkurrenz werden. Darüber später mehr!

Das dritte Konkurrenzgerät konnte ich im Mai 1959 im Rahmen des Ausflugsprogramms der New Yorker Konferenz in Boston besichtigen. Dort hatten die Gebrüder Korkosz ein Groß-Planetarium entwickelt und gebaut, das uns dort in Funktion vorgeführt wurde. Es entsprach in der prinzipiellen Anordnung dem Goto-Planetarium mit zentraler Fixsternkugel. Allerdings war es damals lediglich ein Stellarium, denn die Projektoren für Sonne-Mond-Planeten waren noch nicht funktionsfähig. Auch später blieben die Probleme, und das Gerät wurde schließlich durch ein Oberkochener Gerät ersetzt.

Das vierte Konkurrenzgerät besichtigte ich im August 1961 in San Francisco. Der Direktor des Planetariums war Charles Hagar, den ich 1959 in New York kennengelernt hatte. Das Gerät war wieder ein Do-it-Yourself-Gerät als Groß-Planetarium, beeinflusst durch das Zeiss-Planetarium von Los Angeles. Eine Arbeitsgruppe hatte sogar einige clevere Ideen angewandt. So gab es Bemühungen um die Verbesserung der Genauigkeit der Planetenbewegungen. Sehr einfallsreich war die Herstellung der Fixsternplatten. Es wurden keine Löcher in Metallfolien gestanzt, sondern man wandte ein umgekehrtes Verfahren an: Auf einer Glasplatte wurden entsprechend der Größe Sandkörner angeordnet und dann die Glasplatte mit Metall bedampft. Wo die Sandkörner waren, fehlte das Metall und die ausgefransten Löcher ergaben sogar „strahlende" Sterne! Schön und gut, auch keine Konkurrenz!

Fazit dieser Analyse: Die Hauptkonkurrenz war natürlich Oberkochen, die Japaner könnten gefährlich werden, und Spitz hatte gewisse Außenseiterchancen auf dem amerikanischen Markt.

Was war in Jena nach dem Stalindgrad-Gerät geschehen?

Das Groß-Planetarium war voll ins Entwicklungs- und Fertigungsprogramm übernommen worden. Die „Spezialisten" waren 1952 aus Leningrad zurückgekehrt, darunter Walter Gebauer und sein Sohn Lothar. Walter Gebauer hatte bereits bei der Fertigung der ersten Planetarien mitgearbeitet und kannte sein Metier. Zu der besonderen Spezialität der Gebauers gehörte das „Sternenstechen". Jedes Groß-Planetarium hatte 32 Fixstern-Platten mit insgesamt 6900 Sternen, und die meisten dieser Sterne, mehrere Hunderttausend, zusammen mit den Fixsternplatten für die anderen Jenaer Planetarien haben die Gebauers gestochen. Damit nicht genug. Sie waren die tüchtigsten Planetariumsmechaniker in der Werkstatt, und sie montierten auch diese Geräte beim Kunden zumeist im Ausland.

Das Jenaer Planetarium unterstand der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena und es wurde wie eine Abteilung verwaltungsmäßig geführt ohne einen extra bestellten Leiter. Der Chef vom Ganzen war Erich Hedrich, die direkte Verbindung hatte Walter Weber. Zu Hedrich gibt es eine kleine Anekdote: Es war einmal wieder soweit und der soundsoviel Millionste Besucher wurde erwartet. Auch Hedrich war informiert, vielleicht etwas kurzfristig. Er übergab den Blumenstrauß und das Präsent und wurde mit dem Ehrengast fotografiert. Nur gab es einen kleinen Schönheitsfehler. Hedrich kam leger im Sporthemd. Das Foto konnte natürlich so nicht veröffentlicht werden und es wurde eine Krawatte einretuschiert!

Die wissenschaftliche Verantwortung hatte nach dem Krieg der wissenschaftliche Leiter der Astro-Abteilung Dr. Georg Hartwig, und nach seinem Weggang wurde mir diese Aufgabe übertragen, als ich Leiter des neugegründeten Astro-Labors wurde. In das Vortragsgeschehen mischte ich mich nicht ein, es lief eigentlich von selbst, wie es schien. Der Senior der Vortragenden war Dr. Fritz Heiland, ein ehemaliger Jenaer Gymnasial-Lehrer. Dann gab es noch den Ingenieur Heinz Letsch, den besonders die technische Seite des Zeiss-Planetariums interessierte, das er in einem Buch und in zahlreichen Artikeln mit seinen Neuerungen und Weiterentwicklungen beschrieb.

Die Vorträge in den meisten Zeiss-Planetarien wurden in den seltensten Fällen von Fachastronomen gehalten, meist waren es Lehrer mit besonderem Interesse an der Amateur-Astronomie. Als ich mich näher mit den Zeiss-Planetarien beschäftigen musste, interessierte mich auch die Geschichte der Planetarien nach der Zeit der spektakulären Eröffnungsdarbietungen. Das war teilweise eine traurige Geschichte in Deutschland. Besonders unrühmlich war das Berliner Planetarium in der Nähe des Zoologischen Gartens, das zu einem Kino verkümmerte. Nur in den Pausen wurde der Sternenhimmel geboten. Anderswo, in Moskau oder in den USA, hatte man immer volles Haus.

Woran lag das? In den meisten Fällen wurden Vorträge in der Art von Lichtbildervorträgen gehalten, mit vielen Fakten, aber wenig Spektakulärem. Nun ist es leicht, aus dem Blickwinkel der Multimedia-Shows auf jene Zeit etwas geringschätzig zu blicken. Wenn man nur bedenkt, dass auch die Entwicklung in der Astronomie nicht so rasant wie heute verlief, dann kann man sich vorstellen, dass die Vorträge wie Lehrstunden aufgebaut und oft wiederholt wurden.

An sich gab es besonders in Berlin eine vorbildliche Tradition. In der „Urania" wurde gerade von bekannten Fachgelehrten unterhaltsame Wissenschaft quasi theatermäßig dem interessierten Publikum dargeboten. Wilhelm Förster, der Direktor der Berliner Sternwarte, hatte daran maßgeblichen Anteil. Interessanter Weise konnte ich diese andere Art der Planetariumsvorführung sowohl in Moskau als auch in den USA kennenlernen, die den erwähnten Erfolg brachte. In beiden Fällen gab es eine Vielzahl von Schaueffekten durch Zusatzprojektoren der verschiedensten Art, und das astronomische Museum gehörte ebenfalls zur Standardausrüstung.

In Jena hatte sich Dr. Helmuth Werner bemüht, das Programm durch kulturhistorische Ausführungen zu erweitern. Entsprechend dem Zug der Zeit hatten es ihn besonders die germanischen Sternbilder angetan, aber auch die anderer Kulturen. Er sammelte schließlich dann in seiner Oberkochener Zeit weiter und kam auf etwa 1000 Diapositive. Aber auch das war keine Lösung. In einem Vortrag würde man etwa 30 Dias zeigen können, aber wer interessierte sich für eine Serie von 30 solcher Vorträge? Als wir mit Oberkochen wegen des Planetariums für Lissabon im Konkurrenzkampf lagen, wollte man die 1000 Dias quasi als Trumpf gegenüber unseren etwa 100 Stück ausspielen. Ich konterte mit dem obigen Argument und es wurde akzeptiert.

Zurück zu den Jenaer Vorträgen. Neben dem eigentlichen Vortragenden fungierten Leute wie die Gebauer oder Gitschat als Bedienungspersonal der Anlage, die gegenüber den ersten Bedienpulten mehr Bedienungselemente hatte. Außerdem waren noch die dort untergebrachten Sonderprojektoren, wie Sonnensystem-, Sonne-Mond-Finsternis- und Sternschnuppen-Projektor zu bedienen.

Im Planetarium war immer großer Betrieb, vor allem an den Wochenenden, aber es gab auch eine Vielzahl Sondervorführungen. Ein Besuch des Jenaer Zeiss-Planetariums gehörte zum Standard-Programm der Reisegruppen, die mit dem Bus aus der gesamten DDR kamen. Auch viele ausländische Touristengruppen kamen. So war es schon eine Strapaze, an einem Sommertag von 9 Uhr bis 17 Uhr eine Vorführung der anderen folgen zu lassen. Gut, es war dann Routine, aber doch anstrengend. Dr. Heiland erzählte einmal, dass er während seines Vortrages merkte, dass er praktisch automatisch vortrug: Sprache und Gedanken waren getrennt!

Es gab auch keinen Stellenplan, aus dem die Gehälter und Löhne abgeleitet und gezahlt wurden. Das Personal war praktisch delegiert und rechnete die aufgewendete Zeit zu Lasten der Gemeinkosten ab. Nur für die Zeit außerhalb der Arbeitszeit und am Wochenende wurde ein eher bescheidenes Honorar gezahlt. Es gab auch keine Hemmnisse, wie etwa Überlegungen, dass die Mechaniker dringender in der Fertigung gebraucht würden. Eine bessere Schulung konnte es nicht geben für die Auslandsmontage, besonders wenn dann das dortige technische Personal eingearbeitet werden musste.

Eine kritische Situation entstand, als Dr. Heiland im Jahre 1962 verstarb, die durch den tatkräftigen Einsatz von Dr. Ludwig Meier, meinem Stellvertreter im Astro-Labor, überwunden werden konnte. Über 23 Jahre war er der Chef-Vortragende und wieder in hohem Maße außerhalb der Arbeitszeit und ohne seine sonstige intensive Entwicklungsarbeit im Astro-Labor zu vernachlässigen. So anstrengend, wie dieses auch gewesen sein mag, es führte ihn auf den Weg zu dem überragenden Zeiss-Planetariums-Spezialisten der letzten Jahrzehnte. Aber das ist eigentlich seine Geschichte, die er unbedingt selbst erzählen muss!

Ich möchte noch einmal auf das Niveau der Vorträge zurückkommen und dabei auch den Eindruck schildern, den das Jenaer Planetarium bot, wenn man das Kuppelgebäude betrat. Die blauen Kacheln im Vorraum sollten auf das blaue Himmelsgewölbe einstimmen, dann kam man in einen im Dämmerlicht gehaltenen Raum, gedämpftes Licht zur besseren Dunkelanpassung der Augen, ohne irgendwelche Farben. Das Vorführgerät war schwarz lackiert, weil man meinte, dass es so im Dunkeln weniger auffiele. Der Wagen, auf dem das Gerät aufgebaut war, machte eher den Eindruck eines Katafalks. Alles entsprach der Atmosphäre einer Weihestunde. Dann ertönte Musik: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!" Kein Wunder, dass dann auch die Modulation des gesprochenen Worts getragene Töne hatte. Dr. Heiland nannte es selbstironisch seine Predigten, was er bot, und auch Walter Gebauer hatte stets Pathos in seiner Stimme. Das kennt man aber auch heute noch bei Führungen in Museen oder Ausstellungen. Heinz Letsch war da rationaler, aber er überschüttete die gespannten Besucher mit einer solchen Fülle von Zahlen und Fakten, von denen sie sicher nur die Hälfte behalten würden. Zum Glück gab es kleine Heftchen über die verschiedensten Vorträge, in denen man nachlesen konnte.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, die uns sogar einen internationalen Vergleich erlaubte. Eines Tages hatte ich dienstlich in der Nähe des Planetariums zu tun und beschloss, unangemeldet und schließlich sogar ungesehen, sozusagen eine Stippvisite während des Vortrags zu machen. Durch die Lichtschleuse gelang mir das. Ich hörte eine Zeitlang dem Vortrag von Dr. Heiland zu und verschwand wieder. Nun war es üblich, dass die Mitarbeiter der Astro-Abteilung gemeinsam im Zeiss-Speisesaal ihr Mittagessen einnahmen, auch Dr. Heiland. Man saß an großen Tischen und so war auch Gelegenheit für Gespräche über dies und das. Dort verriet ich Dr. Heiland, dass ich mir heimlich seinen Vortrag angehört hatte. Ich machte noch eine Bemerkung, sachlich gemeint, dass ich erstaunt war, wie einfach und doch einleuchtend ich seinen Vortrag fand. Ich erhielt eine nicht erwartete Antwort: Das wisse er, aber zu den Zuhörern desselben Vortrags habe ein deutsch-amerikanisches Ehepaar aus New York gehört, das etwas ganz anderes gesagt hätte. Sie wären nach dem Vortrag zu ihm gekommen und hätten das hohe Niveau seiner Ausführungen gelobt. Im Vergleich zu den Vorträgen im New Yorker Planetarium wäre das echte Wissenschaft gewesen!

Meine nähere Beschäftigung mit dem Planetarium begann schon etwa ein Jahr nach meinem Eintritt bei Zeiss mit einem kleinen Umweg. In Neu Delhi sollte im November und Dezember 1955 eine „International Industries Fair" stattfinden, zu der auch eine große DDR-Ausstellung gehören sollte. Dafür wurde ein Besuchermagnet gesucht und Zeiss um Vorschläge gebeten. Die Wahl der zuständigen Export-Verantwortlichen fiel auf das Zeiss-Kleinplanetarium (ZKP). Ich wurde hinzugezogen und um meine Meinung befragt.

Das ZKP war während des Krieges für den Navigationsunterricht bei der Luftwaffe und Marine entwickelt worden. Es war verhältnismäßig einfach aufgebaut, bot aber einen hervorragenden Sternenhimmel. Es war auch in den Dimensionen klein und als solches, auch wegen des schwarzen Lacks, nicht gerade attraktiv. Wenn schon Kleinplanetarium, dann würde es nur in Funktion zu einer Attraktion werden, war mein Urteil! Schön und gut, aber wie das organisieren?

Das ZKP war für Projektionskuppeln von 6 oder 8 m konzipiert. Die Kuppeln waren aus sogenannten Gips-Rabitz gefertigt: Auf ein geeignet geformtes Drahtgeflecht wurde mit Gips die Projektionsfläche aufgebracht. Das erschien nicht für die Ausstellung praktisch zu sein. Am besten wäre eine Art überdimensionaler Regenschirm!

Ich diskutierte das Problem mit dem Konstruktionsgruppenleiter Karl Röschke, zu dessen Aufgaben die Planetarien gehörten. Wir gingen von der 6-m-Kuppel aus mit einer effektiven Grundfläche von rund 28 m², die normalerweise 30 Sitzplätze hatte. Der erwartete Andrang auf der Ausstellung konnte wahrscheinlich nur dann aufgefangen werden, wenn die Besucher stehend die Vorführung erleben. Dann würden jeweils etwa 100 Besucher Platz finden.

Die Konzeption war relativ einfach: In etwa zwei Meter Höhe sollte ein Ring aus Rohren aufgebaut werden, die entsprechende Bohrungen aufwiesen, in die die Spannstäbe des „Regenschirms" befestigt wurden. Die etwa 4,7 m langen Stäbe wurden im Zenit in einer Metallscheibe zusammengeführt, die durch ihr Gewicht für die notwendige Aufspannung sorgen sollte. Wer fertigte die Projektionsfläche? Die Zeiss-Sattlerei natürlich, aus Segeltuch, das dann durch sogenannte Lithopone geweißt wurde. Der Vorschlag wurde akzeptiert und dann realisiert, natürlich vor dem Versand erprobt.

Dann wurde noch jemand gebraucht, der das ZKP aufbaute und die Vorführungen übernahm, die in englischer Sprache gehalten werden sollten. Ich schien geeignet, weil ich mich seit langem mit der englischen Sprache vertraut gemacht hatte, und wurde bestätigt. Es gab nur ein Problem, ich bekam eine undefinierbare Magen-Darm-Erkrankung, deren Ursache von dem damaligen Chefarzt Dr. Trebing als Einfluss einer vegetativen Dystonie diagnostiziert wurde.  

So richtig gesund war ich nicht, als ich Anfang September mit dem ersten Teil der DDR-Delegation, darunter die Zeiss-Technischen Kaufleute Günter Heckel und Jochen Schuch, nach Indien flog. Ich kam allerdings nicht bis Neu Delhi. Bei der Zwischenlandung in Bombay wurde mir erklärt, dass ich so schnell wie möglich nach Kalkutta fliegen müsse wegen des Planetariums-Projekts. Das hatte man mir schon in Jena angekündigt, aber ich ahnte nicht, wie dringlich es war. Ich hatte keinerlei Unterlagen bei mir, lediglich einige Fotos des Jenaer Planetariums.

Ich will nun nicht die ganze Geschichte im Detail erzählen. In Kalkutta begann ich bei der Firma Birla die Verhandlungen Anfang September 1955 und schloss sie Ende Januar 1956 ab. Birla war im Staate Bengalen ein Konzern, vergleichbar mit Krupp, und es ging um die Errichtung eines großen Stahlwerks. Die Stiftung eines kompletten Planetariums für Kalkutta sollte die dafür Verantwortlichen in der Regierung positiv beeinflussen. Es war zweifellos von Vorteil, dass ich nicht allein war, Günter Heckel kümmerte sich um die kommerzielle Seite wie Angebotserstellung und Preisgestaltung. Es gab Verhandlungen in Kalkutta, Neu Dehli und Bombay, und ich habe bei dieser Gelegenheit eine Menge auf dem Verkaufssektor gelernt. Im Übrigen waren wir viel auf uns selbst gestellt. Ein Briefwechsel mit Jena dauerte zwei bis drei Wochen, telefonieren war praktisch unmöglich.

Meine Hauptaufgabe, der Aufbau und die Vorführung des ZKP liefen nahezu reibungslos. Bei der Eröffnung der Ausstellung musste ich das Gerät dem indischen Ministerpräsidenten Pandit Nehru vorführen, und es gab dann weitere illustre Gäste. Täglich warteten große Menschenschlangen geduldig auf Einlass, und bald war das Planetarium (und auch ich persönlich) in ganz Indien bekannt. Schließlich wurde das Gerät der indischen Regierung geschenkt und in Neu Delhi installiert.

Der erste Verkauf eines Groß-Planetariums in das „kapitalistische" Ausland eröffnete eine weitere Aktivität der Planetariumsentwicklung. Es ging um die Projektierung der Planetariumsgebäude, insbesondere der Kuppeln. Es gab zwar katalogartige Darstellungen der bisher gebauten Planetariumsanlagen, die zu unserem Prospektmaterial gehörten. Die Architekten, mit denen wir es zu tun hatten, taten sich aber teilweise sehr schwer. Natürlich war die Zeit fortgeschritten, die Beispiele stammten aus den 30er Jahren, dann waren lokale Bedingungen zu berücksichtigen, und am liebsten wäre es, wenn Zeiss eine Art Vorprojekt zur Verfügung stellen könnte.

So nahmen wir Verbindung mit dem Außenhandelsunternehmen Investexport auf, und es entstand ein solcher Vorschlag, den die indischen Architekten „indisierten". So erinnert das Gebäude des Planetariums in Kalkutta an einen typisch indischen Tempelbau.

Nach dem Planetarium für Stalingrad wurden weitere Geräte 1956/57 in Kattowitz und in Peking in Betrieb genommen. Kattowitz besuchte ich im November 1956 nach meiner Teilnahme an der Zeiss-Aussstellung in Warschau und Peking im März 1958 während einer Kundendienstreise in China. Zwischen diesen Terminen hatte sich mit dem Start des Sputniks ein gewaltiger Schub für die astronomische Breitenbildung entwickelt.

Planetarien wurden zu den Zentren der Information, und es entstand auch ein Bedarf an neuen Darstellungsmöglichkeiten. Wann und wo kann man die Satelliten beobachten? Wie zeigt man das am besten?

Gemeinsam mit meinen Kollegen diskutierte ich die Aufgabenstellung. Wir listeten alles auf, was ein entsprechender Projektor leisten müsste, und es wurde eine lange Liste. Es ging um eine Grundsatzfrage: Sollte der Projektor nach dem gleichen Standard wie die Sonne-, Mond- und Planetenprojektoren exakt und möglichst für jeden beliebigen Zeitpunkt und Standort auf der Erde die Erscheinung der Satelliten realisieren? Oder sollte nur die Illusion eines Satellitendurchgangs dargeboten werden? Oder etwas Akzeptables als ökonomisch und kommerziell vertretbare Zwischenlösung? Ich gehe noch einmal zurück zu den von Dr. Werner 1953 in Bremen vorgestellten Sonderprojektoren für die Darstellung der Eigenbewegung einiger heller Fixsterne. Dazu möchte ich, fast rhetorisch, die Frage stellen, für wen wurde eigentlich das Planetarium entwickelt, welchen Zweck sollte es haben?

Ich möchte sogar einige ketzerische Bemerkungen machen: Eigentlich wäre schon ein Stellarium als Projektionsplanetarium eine kleine Sensation gewesen. Natürlich war die technische Umsetzung der Keplerschen Gesetze in ein ptolemäischen Planetariums besonders reizvoll, auch die Unabhängigkeit der Himmelsdarstellung vom Standort leicht realisierbar. Faszinierend die Bewegungen von Mond und Planeten um die Sonne als „action"! Konnte der normale Besucher aber etwas mit der Genauigkeit anfangen? Nutzte ihm der Anblick des Himmels unter anderen Breiten? Anfang der 20er Jahre? Für Wissenschaftler brauchte man eine exakte Demonstration der entsprechenden Gesetzmäßigkeiten nicht. Ich habe mich oft an eine Geschichte erinnert, die uns unser Mathematik-Professor in der Vorlesung über Analytische Geometrie erzählte: Ein beinahe berühmter Kollege von ihm hatte ein Lehrbuch für Analytische Geometrie verfasst, in dem keine einzige Abbildung enthalten war. Auf den Mangel aufmerksam gemacht, erklärte der Verfasser ruhig. Auf diesem Gebiet müsse man Vorstellungsvermögen haben, wenn man sich ernsthaft damit befassen wolle. Dann brauche man auch keine Abbildungen als Krücken!

Meine späteren Erfahrungen insbesondere mit Interessenten aus den westlichen Ländern brachten mich zur Erkenntnis: Eigentlich werden zwei Arten von Planetarien benötigt, solche für die Initiatoren und solche für das Publikum. Die Initiatoren wollten natürlich ein Gerät, das besser als alle anderen war und mehr und exakter darstellen konnte. Das Publikum brauchte nur eine Illusion, eine Schaustellung, eine „Show". Sonst hätten die einfacheren Planetarien überhaupt keine Chance gehabt!

Als Beispiel einer solchen Entwicklung möchte ich den in den 30er Jahren entstandenen Sonnensystemprojektor anführen, ein kopernikanisches System, mit dem man den Umlauf der Planeten (Erde einschließlich Mond) um die Sonne im richtigen Zeitverhältnis darstellen konnte. Mit einigem Geschick konnte der Vorführer mit einer Lichtlinie demonstrierten, wie die Recht- und Rückläufigkeit der Planeten aus Erdsicht entsteht. Wieviel Besucher das verstanden haben?

Sonne, Planeten und Mond waren nur schematisch als unterschiedliche Lichtscheiben dargestellt. Gelegentlich dachten wir an eine Variation dieses Projektors, bei der man den Übergang von der kopernikanischen in die ptolemäische Sicht demonstrieren könnte. Jetzt ist das mit den rechnergesteuerten Projektoren des UNIVERSARIUM überhaupt kein Problem, und es ist leicht, die Objekte bildlich darzustellen und auch Zoomeffekte zu nutzen. Alles exakt? Natürlich nicht! Von den Planeten können nur „Standbilder" gezeigt werden. Auch bei einem Umlauf der Erde um die Sonne sehen wir immer nur das gleiche Erdbild. Es hätte auch keinen Sinn, die Erde mittels einer irgendwie eingefügten Filmsequenz rotieren zu lassen. Es ginge so schnell, dass man ohnehin nichts Wesentliches erkennen könnte.

Damit bin ich zurückgekehrt zu der Aufgabenstellung für den Satellitenprojektor. Bevor ich Anfang März 1958 nach China reiste, übergab ich Gerhard Vogel die Liste der erforderlichen Funktionen und erwartete nach meiner Rückkehr im Juni mindestens einen durchgearbeiteten Entwurf. Nichts war entstanden! Vogel konnte mir darlegen, dass zur exakten Darstellung aller Varianten eine große Maschine nötig wäre, die man wahrscheinlich niemals verkaufen könnte. Wir einigten uns dann auf eine erheblich abgespeckte Variante, die ich aus vorhandenen Baugruppen im Labor provisorisch zusammenbauen ließ: Ein Sonderprojektor (Sirius) bekam ein 90°-Prisma vorgesetzt, das mit einem kleinen Synchronmotor gedreht wurde. Der Projektor war in einer Wippe gelagert, die wiederum mit einer Fußplatte verbunden war. Elektrisch wurde die Helligkeit variiert und auch der Effekt des plötzlichen Auftauchens oder Verschwindens durch manuelles Ein- und Ausschalten bewerkstelligt. Von Tag zu Tag wurde die Bahnebene für einen charakteristischen Durchgang manuell eingestellt. Fertig war das Ganze nach einer Woche! Wozu benötigten wir eine optische Rechenmaschine?

Weil es zum Thema gehört, möchte ich einer Entwicklung vorgreifen, die wir etwa 10 Jahre später realisierten. Das Jupitersystem hatte für die Astronomiegeschichte eine große Rolle gespielt, war es doch quasi ein Abbild des Sonnensystem-Mechanismus von außen. In jeder Volkssternwarte gehörte die Beobachtung des Planeten und der vier Jupitermonde zu den besonderen Attraktionen. So entstand der Jupiterprojektor, übrigens unter Leitung von Stefan Hartung in Dresden, der vorher Flugzeuge konstruiert hatte. Nach dem Drama mit der B 152 hatte Zeiss einen Teil der FE-Kapazität in den ehemaligen Flugzeugwerken übernommen.

Der Projektor wurde eine solche kleine, vorhin zitierte Maschine: Der rotierende Jupiter war als kontinuierlich veränderliches Ring-Band auf einer Scheibe, farbig selbstverständlich wegen des Roten Flecks, aufgebracht. Ein leicht deformierter Kreis lieferte den Bildausschnitt, und da das Band etwa 20 Umläufe enthielt, merkte der Besucher nicht die Wiederholung der Struktur. Es wurde bei dem Umlauf der Monde sowohl der Vorübergang vor dem Jupiter als auch die Verfinsterung im Jupiterschatten naturgetreu dargestellt. Alles sehr effektvoll und beeindruckend. Aber auch aufwendig und teuer. Und das alles für ein Intermezzo von vielleicht zwei oder drei Minuten pro Vorführung. Natürlich war das im Jahre 1967 lange Zeit vor einer Computeranimation und einer Video- oder Laser-Projektion!

Zurück ins Jahr 1958: Im August unternahm ich meine erste Reise in die UdSSR, nach Moskau. Dort fand der Kongress der Internationalen Astronomischen Union statt, und ich betreute dort auch eine kleine Zeiss-Ausstellung von Teleskop-Modellen. Die Teleskop-Entwicklung war ja mein Hauptaufgabenfeld, und wir stellten dort u.a. das Modell eines neuen 2-m-Teleskops aus. Hauptinteressent war die Astronomische Abteilung der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, der Initiator Dr. Lubos Perek. Es kam dort zu Begegnungen mit bekannten US-Astronomen, um die Konzeption des Teleskops dem internationalen Stand anzugleichen. Die Konzeption des 2-m-Universl-Spiegelteleskops der AdW der DDR war durch die Bedingungen geprägt, die 1948 für Prof. Kienle zwingend waren. Aber das nur nebenbei.

Selbstverständlich besuchte ich das Moskauer Planetarium, das damals schon fast 30 Jahre in Betrieb war. Aus den Aufzeichnungen des Planetariumsmonteurs Lange, die Fritz Pfau hinterließ, hatte ich erfahren, wie schwierig die Lebensumstände wie im Moskau Ende der 20er Jahre immer noch waren. Ein Planetarium gehörte jedoch unbedingt zu dem Bildungsprogramm der UdSSR, und es wurde ein großer Erfolg. Ich hatte schon kurz darauf hingewiesen, dass im Moskauer Planetarium die populären Elemente eine große Rolle spielten. Also gehörte eine große Ausstellung dazu, und die sowjetischen Erfolge in der Erkundung des „Weltraums" waren das Hauptthema. Über 100 Mitarbeiter waren tätig, auch in der Entwicklung von effektvollen Zusatzprojektoren. Das Vorführgerät war vorzüglich gewartet, auch von den Zeiss-Spezialisten während ihrer Tätigkeit in Leningrad von 1946 - 1952.  

Zu dieser Zeit mussten wir uns nun auch um die Lieferung von Stabnetzwerken für die Projektionskuppel und die Außenkuppel kümmern. Es musste eine DDR-Lösung gefunden und eine Kooperationskette aufgebaut werden. Ausgangspunkt waren Verbindungen mit der Bauakademie und der Staatlichen Bauaufsicht der DDR. Unser Partner für Fragen der Statik war über lange Jahre Dr. Jürgen Böttcher. Das Stabnetzwerk für die Planetariumskuppeln hatte Bauersfeld in Zusammenarbeit mit der bekannten Baufirma Dyckerhoff & Widmann entwickelt, und die daraus gebildete Betonkuppel war eine bautechnische Innovation von großer internationaler Tragweite. Das ist nicht mein Thema, nur soviel: Wir konnten mit der Firma Dyckerhoff und Widmann nicht zusammenarbeiten, und so kam es zu dem nächsten Schritt auf dem Weg zum Export kompletter Planetariumsanlagen. Wenn ich mich recht erinnere, dann nahm die Betreuung der Projekte und die Organisation der Kooperation etwa die Hälfte der Entwicklungskapazität eines Ingenieurs im Planetariumsbereich in Anspruch.

Vor ein gewisses akustisches Problem stellte uns die Projektionsfläche aus Leinwand, die an einem, von dem inneren Stabnetzwerk gehaltenen, Holzgerüst befestigt war. Anfangs war die Leinwand durchaus schalldurchlässig. Hinter der Innenkuppel waren Bleche unregelmäßig angeordnet, um den durchgegangenen Schall zu zerstreuen. Im Laufe der Zeit verschmutzte jedoch die Projektionsfläche und wurde neu gestrichen. Damit aber wurden die Poren verschlossen, die den Schall teilweise durchgelassen hatten. Das Ergebnis war ein erheblicher Nachhall, gegen den zunächst nur Tricks, wie besondere Lautsprecheranordnungen halfen. In den USA hatte man eine Projektionsfläche aus perforierten Stahlblechen erfolgreich erprobt. Nun erfuhren wir, dass im Planetarium Mailand eine Projektionsfläche aus perforierten Aluminiumblechen eingebaut worden war. So unternahm ich mit Karl Röschke eine Studienreise im November 1958 dorthin.

Die Aluminiumkuppel funktionierte, wie gewünscht, sehr gut. Eine Verbesserung war dort auch dringend notwendig gewesen, denn sowohl der Fußboden als auch Teile der Wand bestanden aus stark den Schall reflektierendem Marmor. Bei der Gelegenheit lernten wir auch, wie man auf clevere Art einen Kuppelbau kühlen kann ohne interne Klimaanlage. Auf dem Dach wurde Wasser versprüht, in an sich geringen Mengen, das dann verdunstete. Da bei der Verdunstung erheblich mehr Energie verbraucht wird, als durch Wärmeleitung abgeführt werden kann, war die Anlage sehr effektiv. Eine „grüne" Lösung!

Im Frühjahr 1959 bauten wir im Jenaer Planetarium eine solche Aluminiumprojektionsfläche ein, und ich befestigte höchstpersönlich das letzte Blech über dem damaligen Eingang. Ich hatte die Sache so organisiert, dass die Kosten von einem Funktionsmusterauftrag getragen wurden, und da es sinnlos war, das Funktionsmuster wieder abzubauen, erhielt es das Planetarium praktisch von Zeiss geschenkt.

Die Installation wurde übrigens durch akustische Versuche begleitet, die von eigenen Experten durchgeführt wurden. Prof. Schuster hatte als Akustiker bei Zeiss die Ultraschall-Geräteentwicklung vorangetrieben. Einer seiner Schüler, Dipl. Phys. Wendt testete zuerst die Leinwandkuppelwirkung und verglich sie dann mit der Aluminiumkuppel. Der Nachhall verringerte sich von mehreren Sekunden auf ein Zeitintervall von unter einer Sekunde. Das entsprach etwa dem Hörempfinden in freier Natur. Ein zusätzlicher Gewinn war die Möglichkeit, hochwertige Lautsprecher hinter der Projektionsfläche anordnen zu können, denn die Ansprüche an die Tonqualität bei Musikdarbietungen waren gestiegen. Das hatten wir bereits bei der Wahl der Lochgröße und des Durchlassgrades berücksichtigt.

In dieser Zeit hatte ich mich auch mit der Wiedergabe des Sternhimmels bei unserem Planetarium beschäftigt. Oberkochen hatte ja durch die Sonderprojektoren für die Darstellung der Eigenbewegungen eigentlich auch etwas für eine realistische Darstellung des Himmels getan oder tun wollen. Die hellsten Sterne waren wesentlich kleiner im Durchmesser, als die der bisherigen Planetarien. Aus drei Gründen war aber diese Lösung lichttechnisch ungünstig. Die Lampen der Sonderprojektoren hatten eine andere Farbtemperatur als die große Fixsternlampe, und man merkte es auch, wenn die Helligkeit verändert wurde. Dann musste man damit rechnen, dass von Zeit zu Zeit die Lampen ausgewechselt werden mussten, weil sie unterschiedlich in der Leistung abnahmen oder gar durchbrannten. So musste der gesamte Lampensatz erneuert werden.

Eine Nachahmung der Oberkochener Lösung kam für mich nicht in Frage. So beriet ich mich mit dem Leiter des Zeiss-Lichtlabors, Dr. Helbig. Naiv fragte ich, ob wir den Sternenhimmel nicht durch eine stärkere Lampe verbessern könnten. Im Prinzip ja, aber wir müssten die Gesetze der Projektionstechnik beachten, die Größe des Wendelkörpers musste der Konstruktion angepasst werden. Es gab eine Reihe von Schwierigkeiten, auch mit dem Hersteller der Fixsternlampen, dem VEB Glühlampenwerk Plauen. Dort war man über eine Sonderfertigung nicht gerade begeistert. Aber als ich den Fachleuten dort die Tragweite der Verbesserung erklärt hatte, gab es Zustimmung. So entstand die neue Fixsternlampe mit 1500 W Leistung, bisher waren es 1000 W.

Im Verlaufe der Überlegungen zu einem „neuen" Fixsternhimmel ließ ich mir von Gerhard Vogel die Liste der Fixsterndurchmesser geben. Die kleinsten Sterne hatten auf der Sternplatte einen Durchmesser von 0,023 mm und wurden durch die etwa 100fache Vergrößerung des Projektionsobjektivs zu Licht"scheibchen" etwa 2,3 mm. Diese Sterne entsprachen der astronomischen Helligkeit der schwächsten, unter günstigsten Bedingungen gerade noch sichtbaren Sterne. Ihre Größe bezeichnen die Astronomen mit m = +6,5. Der hellste Stern, der Sirius, hat aber eine Helligkeit von m = -1,46. Zwischen diesen Werten besteht ein Intensitätsunterschied von rund 1600. Da die Sterne an der Projektionsfläche nur als die erwähnten Licht"scheibchen" erscheinen, wurde die Abstufung durch entsprechend große Flächen wiedergegeben. Sirius hätte danach den 40fachen Durchmesser des schwächsten Sternes, also etwa 92 mm. Das war zu groß. Also erhielt er einen Sonderprojektor, mit dem man zusätzlich noch die Siriusparallaxe darstellen konnte. So wurde Canopus der „größte" Stern mit etwa 70 mm Durchmesser.

Aber trotz der rechnerisch anscheinend korrekten Wiedergabe der Helligkeitsabstufung konnte man nicht von einer realistischen Darstellung sprechen. Das lag an den physiologischen Eigenschaften des Auges. Nur dann, wenn die zu beobachtenden Objekte in ihrer Größe unterhalb des Auflösungsvermögens des Auges lagen, wurden unterschiedliche Flächen als unterschiedlich helle Leuchtobjekte empfunden. Es kam also darauf an, die Durchmesser der hellsten Sterne stark zu reduzieren, um diesen Verhältnissen nahe zu kommen.

Das Auflösungsvermögen hatte schon Kepler mit etwa 3 Bogenminuten angegeben. Im Planetarium kam es nun darauf an, für die Betrachtungsentfernung diesen Wert in eine lineare Größe umzuwandeln. Im günstigsten Fall waren es etwa 23 m. Also sind 3 Bogenminuten etwa 20 mm! Das war zu krass, die schwächsten Sterne hätten dann in der Fixsternplatte Lochgrößen von wenigen Mikrometer haben müssen. Dann fiel mir etwas auf: Es gibt, wie jeder leicht feststellen kann, gar nicht so viele sehr helle Sterne, die zwar die großräumige Struktur des Himmels, seine Erkennbarkeit liefern, aber doch nicht die gesuchte Pracht des „Sternenzeltes". Es sind weniger als 20, je nachdem wo man die Grenze legt.

Ich berechnete nun die neue Helligkeitsabstufung und vernachlässigte die hellen Sterne. So entstand der neue strahlende Sternenhimmels des Jenaer Zeiss-Planetariums aus der helleren Fixsternlampe und der neuen Abstufung unter Beachtung der physiologischen Gesetzmäßigkeiten. Alle waren begeistert, und wir hatten einen Vorsprung gegenüber Oberkochen heraus gearbeitet. Das sollte sich 1964 positiv bei unseren Verhandlungen mit kanadischen Interessenten auswirken. Später, 1985, beim COSMORAMA, haben wir diese hellsten Sterne doch noch durch Sonderprojektoren realisiert, die aber von der gleichen zentralen Fixsternlampe ihr Licht erhielten.

Das Jahr 1959 hatte für mich eine besondere Bedeutung für meine Aktivitäten auf dem Planetariumsgebiet. Das Zeiss-Planetarium Jena erhielt nämlich, adressiert an den Direktor, eine Einladung des Planetariums New York, im Namen aller Planetarien der USA. Dort sollte Anfang Mai eine, die erste, internationale Konferenz der Planetariums „Executives", d.h. der maßgeblich dort wirkenden Fachleute stattfinden. Wie ich schon erwähnte, gab es in Jena keinen Planetariumsdirektor. Der nächstrangig tätige wäre Dr. Heiland gewesen. Da er aber über keine englischen Sprachkenntnisse verfügte und die Angelegenheit u.a. wegen der eventuellen Konfrontation mit Oberkochen stark die Werksinteressen berührte, wurde ich zum Assistant Director des Jenaer Planetariums gemacht und durfte in die USA reisen.

Das schreibt sich nach über 40 Jahren und über 10 Jahren nach der Wiedervereinigung Deutschlands sehr leicht. Ich habe dazu in meinen Memoiren ein langes Kapitel „Wie ich zum ersten Mal in die USA reiste...!" verfasst, wo ich die Begleitumstände und den Verlauf der Tagung in extenso beschrieben habe. Diesen Bericht will ich nicht übernehmen, vielleicht beifügen.

Es war die Zeit des Kalten Kriegs, und ich gehörte, dank einer speziellen Genehmigung durch das US State Department, zu den ersten DDR-Bürgern, die in die USA einreisen durften. Als ich mein Visum beantragte, musste ich an Eides statt versichern, dass ich kein Kommunist und nicht geisteskrank war und nicht die Absicht hatte, den amerikanischen Präsidenten zu ermorden!!!

Auf der Konferenz hatten weder ich noch meine Kollegen aus Moskau oder Kattowitz irgendwelche Probleme. Wir gehörten zur Planetarium-„Truppe"! Es kam auch nicht zu irgendwelchen Brüskierungen seitens Oberkochens. Dr. Schwesinger, der Prof. Bauersfeld dort vertrat, schenkte mir sogar das mit einer freundlichen Widmung versehene Buch von Dr. Werner „Vom Arat-Globus zum Zeiss-Planetarium".

In zahlreichen Vorträgen und Demonstrationen wurden wir mit der amerikanischen Art des Planetariumsbetriebs bekannt gemacht,und es gab Exkursionen nach Philadelphia und Boston. Nach der Tagung besuchte ich noch die Planetarien in Chicago, Flint, Michigan und Pittsburgh, Pennsylvania. Überall wurde ich freundlich aufgenommen, und ich konnte von dem guten Namen Carl Zeiss Jena, dem Ursprungsort der Planetarien, Nutzen ziehen.

Das Thema einer Werbung für weitere Zeiss-Planetarien hatten wir in Jena, wenn ich mich recht erinnere, überhaupt nicht diskutiert. Ich sollte Carl Zeiss Jena repräsentieren und soviel wie möglich über den Entwicklungstrend in Erfahrung bringen. Immerhin waren unsere neuen Planetariumslieferungen nach Stalingrad, Kattowitz, Peking und Kalkutta Werbung genug. Es war ja auch nicht eine Planetariums-Messe. Auf den US-amerikanischen Markt zu gelangen würde uns ohnehin schwer fallen. Da waren zum einen die hohen Einfuhrzölle (60%) und zum anderen der Warenzeichenstreit mit Oberkochen, abgesehen von der politischen Problematik. Ein Planetarium war eine öffentliche Angelegenheit, und wer in einer Stadtverwaltung oder einem Board of Directors einer finanzstarken Institution würde es wagen, von den „Kommunisten" ein „Nicht-Zeiss-Planetarium" zu kaufen, wenn man das gleiche oder gleichwertige Produkt mit dem Namen Zeiss aus dem eigenen Wirtschaftsgebiet erhalten konnte. Auf diese Thematik bin ich in dem anderen Kapitel „Wie ich zum zweiten Male in die USA reiste...!" meiner Memoiren eingegangen und werde das später zitieren, weil es unsere weitere Arbeit beleuchtet.

Eine weitere Aktivität des Planetariumsbereiches war 1959 die Herausgabe des Buches „Das Zeiss-Planetarium" von Heinz Letsch in englischer Sprache unter dem Titel „Captured Stars" (Eingefangene Sterne). Letsch hatte ein Sachbuch verfasst, das 1955 bereits in vierter, erweiterter Auflage im Jenaer Verlag Gustav Fischer erschienen war. Demgegenüber war „Die Sterne dürfet ihr verschwenden!" von Dr. Helmut Werner mehr eine schöngeistige Abhandlung.

Das Jahr 1959 war für die Astroabteilung auf dem Gebiet der Teleskope von besonderer Bedeutung. Nach fast 10 Jahren Entwicklungs- und Fertigungszeit wurde in der Astrohalle das 2-m-Universal-Spiegelteleskop für das Observatorium Tautenburg fertiggestellt. Die offizielle Übergabe erfolgte im Oktober 1960.

Dazwischen lag die Übergabe des Planetariums in Akashi, worüber ich bereits am Anfang bei der Diskussion über die Konkurrenzsituation kurz berichtete. Natürlich diskutierte ich die Problematik der Konkurrenz auf dem Gebiete der „Mittelplanetarien" nach meiner Rückkehr in Jena. Zu meiner Überraschung war das gar kein neues Thema. Fritz Pfau habe, so erzählte Gerhard Vogel damals, selbst Vorschläge dazu gemacht, aber ohne Resonanz. Ein gewichtiges Gegenargument war, dass die Mittelplanetarien sozusagen den Großplanetarien das Wasser abgraben würden.

Nun hatten wir aber eine ernsthafte Konkurrenz zu erwarten! Eine einfache Überlegung ergab aber starke Argumente für die Entwicklung dieses Typs, abgesehen von dem früher nicht vorhanden Antrieb aus der Raumfahrt: Während bisher nur Hauptstädte und Metropolen sich eine große Planetariumsanlage leisten konnten, gab es nun eine viel größere Anzahl von Großstädten mit etwa 500.000 Einwohner. Eine Planetariumsanlage mit einer 12-m-Kuppel würde zudem kostengünstiger sein, da nach einer Faustregel die Baukosten proportional dem Bauvolumen sind. Die verringerte Anzahl von Sitzplätzen war auch kein Gegenargument. Ein volles Haus, bei dem man sich sogar um Eintrittskarten bemühen muss, ist eine bessere Werbung als ein nur teilweise besetztes Auditorium. Das einzige Problem für unser Entwicklungskollektiv bestand darin, dass keine freie Kapazität für die Entwicklung dieses neuen Geräts vorhanden war. Dem 2-m-Teleskop für Tautenburg folgten nämlich die Aufträge für die 2-m-Teleskope Schemacha/Aserbeidshan und Ondrejov/ČSSR. Wir schienen keine Chance zu haben!

Das war umso bedauerlicher, weil wir aus Moskau signalisiert bekamen, dass man dort die Konzeption eines Planetariums erarbeitet habe, bei dem Aspekte des Weltraumflugs von vornherein konstruktiv berücksichtigt wurden. K. Schistowski, von Anfang an Mitarbeiter des Moskauer Planetariums, war der Autor, und er hatte alle seine Erfahrungen mit eingebracht. Darüber hatten wir in Jena auch schon nachgedacht, und Dr. Meier hatte die Bewegungsmöglichkeiten des Projektors so umfunktioniert, dass wir eine realen Weltraumflug simulieren konnten, nach Juri Gagarins Flug ein fast notwendiger Bestandteil des Programms. Ich muss allerdings gestehen, dass wir wieder das Problem hatten: Der Flug war wirklichkeitsgetreu simuliert, wir hätten ihn sogar in Echtzeit ausführen können, aber optisch-illusionär war es keine Sensation. Ganz anders für die Schulung der Kosmonauten! Zu diesem Thema komme ich später!

Das Unglück des Einen kann das Glück des Anderen sein. In Dresden war ein Flugzeugwerk entstanden, dessen führende Kräfte zuvor in der UdSSR dienstverpflichtet waren. Nach ihrer Rückkehr wollte die Regierung der DDR nicht, dass sie nach dem Westen gehen und vielleicht sogar Militärflugzeuge mit konstruieren und bauen. So wurden ihnen großzügige Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, die dann bald auch zu einer bemerkenswerten Leistung führten. Das erste deutsche Düsenpassagierflugzeug, die B 152, war entstanden. Es sollte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1958 Nikita Chrustschow beeindrucken. Leider stürzte die Maschine im Verlauf des Vorführfluges ab. Es gab noch einige Zeit ein Hin und Her, auch politische Querelen, aber die weiteren Pläne für eine DDR-Flugzeugindustrie in Dresden kamen so um 1962 zum Erliegen.

Es ging damals darum, die Fachkräfte sinnvoll einzusetzen, und irgendwie erhielt der VEB Carl Zeiss Jena die Möglichkeit, ein Entwicklungspotential von etwa 100 Mann zu übernehmen. Für wen sollten sie arbeiten? An sich waren bei Zeiss immer mehr Entwicklungsaufgaben vorhanden, als entsprechende Kapazitäten. Die besten Chancen auf Unterstützung hatten die Warengruppen Astro und Bildmess, weil beide sofort entsprechende Aufgabenstellungen vorlegen konnten.

Damit erhielt auch das Zeiss-Mittelplanetarium seine Chance, und der schon erwähnte Stefan Hartung kniete sich, wie man so sagt, mit seinen Mitarbeitern in die Aufgabe rein. Wir flogen gemeinsam nach Moskau und besprachen die Aufgabenstellung mit Schistowski und den anderen Verantwortlichen. Selbstverständlich war auch Gerhard Vogel dabei, denn er musste die Dresdner Kollegen betreuen. Allerdings war er intensiv mit der Weiterentwicklung des Großplanetariums beschäftigt, worauf ich noch zurückkommen werde.

Wir nahmen die Moskauer Konzeption positiv auf, setzten sie aber nicht direkt um. Schließlich bestimmten zwei neue technische Lösungen den Gebrauchswert des neuen Zeiss-Planetariums:

Die erste war nicht sehr aufregend: Durch Bewegung um eine vierte, vertikale Achse konnte die Flugsimulation einfacher gestaltet werden. Außerdem war es nun möglich, durch die Azimutdrehung bessere Betrachtungsmöglichkeiten für bestimmte Himmelsgegenden zu schaffen.

Die zweite dagegen war eine echte Innovation: Die Automatisierung des Vorführbetriebs! Die Zeit war reif für eine solche Entwicklung, und ein neues Planetarium bot bessere Chancen der Realisierung. Wir waren die Ersten, die sich dieser Aufgabe stellten, obwohl die Voraussetzungen in der DDR nicht so günstig wie in den entwickelten westlichen Ländern waren. Ich erinnere nur daran, welche Probleme es gab, ein geeignetes Tonbandgerät aufzutreiben, um die Belastung des Vorführpersonals zu vermindern.

Was sollte automatisiert werden und welche Technik stand zur Verfügung? Im Rückblick kommen mir die technischen Lösungen so vor, als ob wir uns getraut hätten, auf der Basis der ersten Benz-Kutsche einen Silberpfeil zu konstruieren:

Das Ein- und Ausschalten von Funktionen war noch die einfachste Sache, aber die Bewegungen von einem Punkt zu einem anderen mit einer bestimmten Geschwindigkeit und mehrere gleichzeitig, das war die Hauptaufgabe. Heutzutage macht man das mit Schrittmotoren, damals verwendeten wir mit den Antriebsmotoren gekoppelte Geber, einfache Schlitzscheiben. Das bedeutete, dass wir am Anfang der Vorführung das Gerät in einer bestimmten Position haben mussten. Das war kein Problem, denn wir konnten das Gerät ja so programmieren, dass es am Schluss der Vorstellung in diese Position kam.

Wie sollte aber die Programmierung vor sich gehen? Wir mussten das nicht erfinden, schließlich gab es damals schon NC-gesteuerte Werkzeugmaschinen. Die Programmierung musste, wie man so sagt, zu Fuß erledigt werden. Ich will mich jetzt nicht in Einzelheiten verlieren, aber der Aufwand für eine solche Programmierung lohnte sich immer. Nach einer bestimmten Zeit würde man Programmbausteine haben und fertige Programme. Der Vortragende brauchte nur das Programm zu starten, vielleicht brauchte man nur einen Betreuer, der dann auch das Tonband startete. In westlichen Ländern würde es sich schon bald auszahlen, wenn man anstelle qualifizierter Vortragender nur Bedienpersonal benötigte.

Gerhard Vogel war mit dieser Lösung gar nicht zufrieden. Seiner Meinung nach müsste das Programm während einer Vorführung automatisch aufgezeichnet werden. Erst dann könne man von einer wirklichen Automatisierung sprechen. Hätte es eine solche Technik anderswo schon gegeben, die auch unseren Kostenvorstellungen entsprochen hätte, so hätten wir sie sicher angewandt. Das war übrigens das Hauptproblem bei der Erzeugnisgruppe Astro: Wegen der an sich geringen Stückzahlen hätten wir nie innovative Ideen selbst realisieren können. Ich sah es als meine Aufgabe an, solche Ideen aufzuspüren und durch Kooperation oder „Nachempfinden" bei uns zu realisieren.

Ich war bekannt dafür, ähnlich wie es mein Kollege Horst Schöler für Bildmess tat, unseren Geräten möglichst zugkräftige Namen zu geben. Die Wahl des Namens „Raumflug-Planetarium" war fast selbstverständlich, aber für den internationalen Markt dachte ich mir dann den Namen „Spacemaster" aus, der auch als Gebrauchsmuster registriert wurde.

So wurde das Raumflug-Planetarium auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1967 und auf der Zeiss-Ausstellung im August 1967 in Prag anlässlich der IAU-Tagung mit großer Werbewirkung ausgestellt. Der internationale Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Die ersten vier Geräte wurden nach Brasilien geliefert und fanden in Rio de Janeiro, Porto Allegre, Santa Maria und Goiania Aufstellung. Dorthin lieferten wir auch die 12,5m-Kuppeln, von denen wir im Südwerk die erste als Versuchs- und Montagekuppel aufstellten.

Vielleicht an dieser Stelle einige Worte zu dem Thema „Montage der Planetarien am Aufstellungsort". Fritz Pfau hat in seinem Beitrag in der Jenaer Rundschau 1967 die Namen der Monteure aufgeführt, die die Planetarien in aller Welt aufstellten. Teilweise hatten sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben, teilweise kannte und erlebte ich sie selbst bei ihrer Arbeit. Walter Gebauer war der Senior, der z.B. das Kalkutta- und das Kairo-Gerät montierte. Herbert Blumentritt erlebte ich in Peking und in Akashi. Auch er verstand sein Fach. Es waren ja die Geräte, die sie selbst in der Werkstatt gefertigt hatten, die nun funktionieren mussten. Gelegentlich gab es aber Beschwerden über Nacharbeiten bei der Montage. Nicht immer war der für die Fertigung eines Gerätes verantwortliche Monteur auch derjenige, der die Montage beim Kunden ausführte. Jeder hatte ein kleines Büchlein, in dem er vermerkt hatte, was bei der Montage ohnehin noch einmal überprüft und nachgearbeitet werden musste, z.B. Justierungen oder Lackierungen in den Projektoren. Warum also Doppelarbeit?

Die Montage dauerte etwa drei Monate, und der Elektriker, der den Gerätemonteur begleitete, war vor allem in der Justierphase gefragt, wenn er das Gerät bedienen musste. An sich zahlte der Kunde die Montagekosten, und selten gab es Zeitdruck. Meist war das Gebäude noch lange nicht fertig. Aber wir hatten nicht genügend Monteure. Beim Raumflug-Planetarium sollte das anders werden. In einer Justierkuppel sollten die Geräte möglichst vollkommen fertiggestellt werden mit einer echten Funktionsabnahme. „Sollten" ist das Wort, denn manchmal musste aus diesem oder jenem Grund doch zu einem bestimmten Termin geliefert werden, und dann half nur die alte Lösung als Notbremse. Auch für das Großplanetarium entstand später eine Justierkuppel in der Nähe des Baus 6/70. Diese Kuppel krönt den Werksteil, in dem jetzt der Bereich Planetarien ansässig ist.

Zurück zum Großplanetarium in das Jahr 1962 und zwar nach Kalkutta. Wir hatten den Auftrag im Frühjahr 1956 erhalten, und das Gerät wurde 1958 geliefert, viel zu früh. Wir verhandelten über die Einlagerung und hatten einige Bedenken wegen der klimatischen Bedingungen in Kalkutta. Die Lagerkosten in klimatisierten Räumen für mehrere Jahre wären immens gewesen. So einigten wir uns darauf, nur die empfindlichsten Baugruppen sorgfältig klimageschützt zu lagern. Walter Gebauer erledigte die Sortierung, und ich überzeugte mich bei meinem Rückflug von Japan in Kalkutta im Jahre 1960, dass alles in Ordnung ging.

1962 war dann endlich das Gebäude fertig, und Walter Gebauer übernahm die Montage. Seine Zwischenberichte klangen nicht begeistert, es gab natürlich zusätzliche Arbeiten, um das Gerät wieder tipptopp zu machen. Ich durfte das Gerät dann übergeben und erkundigte mich gleich nach meiner Ankunft, ob es echte Probleme gegeben habe. Naja, allerhand Arbeit zusätzlich, meinte Gebauer, aber ich sah es dem Gerät nicht an, dass es vier Jahre gelagert hatte. Etwa 100 zusätzliche Stunden, die der Kunde anstandslos zusätzlich bezahlte, war der Aufwand, für Gebauer kein technisches Problem.

1963/64 waren für mich und die Erzeugnisgruppe Astro entscheidende Jahre. Abgesehen davon, dass während dieser Zeit die Entwicklung der neuen 2-m-Teleskope lief, bei der ich mich voll auf unseren Chefkonstrukteur Alfred Jensch verlassen konnte, begannen wir auf dem Gebiet der Auswertegeräte einen großen „Marsch" im Bereich der Automatisierung. Das von mir in meiner Diplomarbeit untersuche Koordinatenmessgerät wurde mit einer automatischen Koordinatenregistrierung versehen, als erstes ZEISS-Gerät. Auf Ausstellungen in Hamburg und Lissabon erntete es internationale Anerkennung und wurde in den folgenden 25 Jahren zum erfolgreichsten Astro-Gerät mit einem Gesamtumsatz von etwa 250 Millionen Mark. Ich hatte eine gute, junge Truppe für die Entwicklung der Elektronik aber auch die volle Verantwortung für die Einhaltung der technischen und terminlichen Zielstellungen.

Die Ausstellung in Hamburg hatte ich selbst betreut und glaubte fast, mich danach etwas ausruhen zu können. Da rief das Planetarium wieder! Unser kanadischer Vertreter Risty Perotto wolle mit kanadischen Interessenten aus Calgary wegen eines Großplanetariums kommen. Gut und schön, wo lag Calgary und was war dort los, dass die Stadt ein Planetarium haben wollte. Toronto, ja, da hatte ich schon 1959 und 1961 die Klinken geputzt, aber Calgary?

In der Space Ära kamen bekanntlich die Projekte für Planetarien ins Laufen. Ein Planetariumsgeschäft ist jedoch keine einfache Sache. Manchmal dauert es Jahre, oft sogar Jahrzehnte, bis ein Projekt zur Realisierung kommt. Man braucht erst einmal Enthusiasten, die in vielen Fällen nicht Fachastronomen sondern Liebhaberastronomen sind. Am besten ist es, wenn bereits eine Volkssternwarte oder ähnliche Einrichtung mit einem Vorschlag an die Stadtverwaltung herantritt, die ein Projekt in ihren Stadtentwicklungsplan einbaut. Das allerwichtigste in den westlichen Ländern, insbesondere USA und Kanada, sind Sponsoren, wie wir sie heute nennen. Im englisch-amerikanischen Sprachgebrauch wurden sie „donor" = Spender genannt. Deren Name geht dann auf die Institution über, wie z.B. bei dem „Hayden", „Adler" oder „Griffith" Planetarien. Am Besten ist es noch, wenn irgendetwas zu feiern ist.

Nach den Ereignissen vom 13. August 1961 hatten sich unsere Chancen in den USA verschlechtert. Darüber habe ich mich in meinem Bericht von der zweiten USA-Reise geäußert im Zusammenhang mit meinem Besuch des Griffith-Planetariums. Aber Kanada schien etwas neutraler zu sein, wie wir bald feststellten, und Risty Perotto, unser kanadischer Vertreter, war besonders aktiv, was ja auch seine Aufgabe war!

Die Geschichte der Verhandlungen habe ich bereits in dem Bericht über meine zweite USA-Reise aufgeschrieben und ich füge sie der Einfachheit hier an. Sie gehört an beide Stellen und der geneigte Leser wird die Wiederholung verzeihen.

Zunächst die Calgary-Geschichte: Risty Perotto kam mit den Vertretern der Stadtverwaltung von Calgary, Jim Wright und Ian McLennan. Sie würden sich erst die Planetarien in London und Paris ansehen, dann nach Jena kommen und anschließend auch nach Oberkochen gehen. In Kanada stand der 100. Jahrestag des Übergangs von der Kolonie zum Bundesstaat bevor, der 1967 im ganzen Lande durch eine Vielzahl von Aktivitäten begangen werden sollte. So war für Calgary ein Centennial Park geplant, in dem ein Planetarium die Hauptattraktion sein würde.

Ich erhielt die Nachricht von Günther Heckel, dem technischen Kaufmann der Exportabteilung, mit dem ich 1955/56 fünf Monate lang in Indien tätig war. Keiner von uns beiden wusste vorher, wo Calgary lag und ob es irgendeine wirtschaftliche oder politische Bedeutung hatte. Schließlich kamen die Gäste an, und wir Jenenser waren überrascht: Die beiden Kanadier waren nämlich nicht lang gediente Vertreter des Stadtrates, sondern junge Leute, so um die 30. Es gab also keine Probleme im gegenseitigen Umgang, wir waren bald, wie man so sagt, auf der gleichen Wellenlänge. Die Kanadier kamen in eigener Sache, denn sie wollten, wenn alles gut ginge, die Planetarien leiten oder betreiben.

Das Programm war relativ einfach. Wir zeigten zuerst das Gerät im Jenaer Zeiss-Planetarium. Es war zwar das Gerät von 1926, aber durch zahlreiche Umbauten funktionsmäßig auf dem neuesten Stand. Bevor eine Neuerung in die Produktion kam, wurde sie immer im Jenaer Planetarium ausgiebig erprobt. Z. B. die stufenlose Steuerung der Hauptantriebe war wesentlich bedienungsfreundlicher als die mehrstufigen Getriebe des alten und der Oberkochener Geräte. Auch der neue Sternhimmel beeindruckte sehr gegenüber dem, was die Herren in London oder Paris gesehen hatten. Dann wurde noch ein neues Gerät in Baugruppen in der Fertigung vorgeführt. Zum Besuchsprogramm gehörte auch eine Besichtigung des 2-m-Teleskops in Tautenburg, das die kanadischen Amateurastronomen außerordentlich beeindruckte.

Neben Günther Heckel hatte ich noch den Planetariumskonstrukteur Gerhard Vogel zu den Besprechungen gebeten, auf einen Dolmetscher konnten wir verzichten, wenn notwendig übersetzten wir abwechselnd, falls wir Gerhard Vogels Ausführungen etwas präzisieren mussten.

Obwohl die Atmosphäre aufgelockert war, gaben die Kanadier nicht zu erkennen, wie sie sich entscheiden würden oder welche Chance wir hatten. Anschließend wollten sie ja noch nach Oberkochen, und das hatte mich von Anfang an geärgert. Ich hätte gern das letzte Wort gehabt, so wusste ich nicht, mit welcher Taktik man in Oberkochen vorgehen würde.

Die Kanadier hatten eine Reihe von Änderungswünschen in Bezug auf Zusatzeinrichtungen und auch einige Veränderungen am Hauptgerät. Es gab keine großen Diskussionen zwischen Gerhard Vogel und mir, die Wünsche waren entweder vernünftig oder wir hatten keine Schwierigkeiten, Gegenargumente gegen etwas zweifelhafte Wünsche anzubringen.

Mit Günther Heckel hatte ich bezüglich der kommerziellen Seite keine Probleme. Wir waren uns einig, den Preis des Gerätes durch die Sonderwünsche nicht ungebührlich anwachsen zu lassen. Und wir waren sicher, ein Verkauf nach Calgary würde unsere Chancen für Toronto verbessern. Wir konnten doch nicht den ersten Kunden mit einem höheren Preis bestrafen.

Zum Schluss wurde es doch ernst: Sie wären an sich positiv beeindruckt, meinten die Kanadier, sowohl von den Vorführungen als auch von den technisch-kommerziellen Verhandlungen. Aber, wenn unser Gerät um so viel besser als das Oberkochener Gerät sei, warum hätten wir nicht mehr Geräte auf dem Weltmarkt verkauft? Wir waren nicht sprachlos. Ich verwies zunächst auf die Lieferungen nach Kalkutta, Akashi, Kairo, Lissabon und berichtete dann von meinem Gespräch mit Mr. Cleminshaw in Los Angeles im August 1961.

Ich kannte Cleminshaw von der New Yorker Tagung im Mai 1959 und hatte ihn damals besucht. Nach der Besichtigung des imposanten Griffith Observatoriums und Planetariums kamen wir auf die geplante Neuanschaffung eines Projektors zu sprechen. Cleminshaw erklärte, die Chancen für uns wären gering, weil letzten Endes der Stadtrat zu entscheiden habe. Der würde sich aber hüten, eine große Anschaffung aus dem kommunistischen Wirtschaftsbereich zu machen. Sie würden damit ihre Wiederwahl gefährden. Die Zeitungen würden begierig das Thema aufnehmen, wenn es um Geschäfte mit den „Roten" ginge. Wir, als die „Roten" hätten also aus politischen Gründen im Westen geringere oder gar keine Chancen. Meine Ausführungen wurden von den beiden Kanadiern etwas ungläubig entgegengenommen.

Die Kanadier reisten ab, und wir mussten abwarten, wozu sie sich entscheiden würden. Es dauerte einige Zeit, bis wir erfuhren, dass man sich in Calgary für Carl Zeiss Jena entschieden hatte. Ich wollte nun wissen, was in Oberkochen vorgefallen sei. Erst nach Vertragsabschluss wurde uns die Situation geschildert:

Zum ersten habe man die jungen Leute gar nicht so ernst genommen, dann sei in einem großen Kreis verhandelt worden und zwar mit Dolmetscher. Der Ritus war so, dass die Kanadier einen Wunsch äußerten, der ins Deutsche übersetzt wurde. Dann gab es eine längere Diskussion unter den Vertretern von Oberkochen in deutscher Sprache untereinander und schließlich eine kurze, ins Englische übersetzte Antwort.

Wenn auch die Kanadier nicht Deutsch verstanden, so konnten sie doch aus Stimmlage, Mimik und Gestik erfassen, wie ihre Frage oder Bemerkung aufgefasst worden war. Die Wünsche wurden entweder abgelehnt oder, wenn sie angenommen wurden, mit Mehrkosten verbunden. So sei es eine ganze Zeit in der Verhandlung gegangen, bis schließlich die Herren Wright und McLennan erklärten, dass sie von Jena ein besseres Gerät zu günstigeren Bedingungen erhalten würden. Da waren die Oberkochener Herren betroffen, und einer von ihnen fragte zum Schluss, ob die Kanadier denn wirklich von den „Roten" ihr Planetarium kaufen wollten. Und da erinnerten sich die beiden an meinen Bericht von dem Gespräch mit Cleminshaw in Los Angeles.

Risty Perotto, der vor einiger Zeit wieder einmal in Jena war, erzählte bei einem Abendessen mit Günter Strobel, dass nach der Auftragserteilung eine amerikanische Zeitung getitelt hatte: „CALGARY JUMPED OVER THE WALL!" So begann unser Kanadageschäft, denn es folgten Toronto, Vancouver und später Edmonton. Oberkochen war geschockt!

Bevor ich aber auf weitere Einzelheiten der kanadischen Geschichte eingehe, möchte ich einige Bemerkungen zu unserer Geschäftspolitik auf dem Planetariumssektor machen. Es ist bekannt, dass um 1925 von dem Modell II eine Serie von 25 Planetariumsgeräten aufgelegt wurde. Es war nicht nur Optimismus auf Grund der weltweiten Begeisterung über das technische Wunder aus Jena, es war auch eine reale Kostenkalkulation. Die Einzelteile einer Serie von 25 Geräten erlaubten dann eine kurzfristige Montage nach Bedarf. Man konnte auch mit einer gewissen Beibehaltungszeit des Modells II rechnen, die fast in die 50er Jahre reichte.

So wurde auch in Jena nach der Rekonstruktion eingeschätzt, dass mit einem weiteren Bedarf zu rechnen ist. Allerdings war das nicht die Zeit, wieder eine große Serie aufzulegen, aber auf keinen Fall sollte nur nach Bestellung gefertigt werden. So wurden die Großplanetarien in Dreier-Losen gefertigt über zwei Jahre verteilt. Verhandelt wurde ja mit vielen Kunden in vielen Ländern, aber es dauerte oft sehr lange, bis die Entscheidung fiel, und dann musste die Lieferung in den Bauablaufplan passen. Planetarien entstanden einerseits aus Interesse an einer Verbesserung der naturwissenschaftlichen Bildung, wie Naturkunde-Museen oder Zoologische Gärten, andererseits aber aus Repräsentationsgründen. Über die amerikanischen „Spender" habe ich mich schon geäußert, nun kamen Politiker hinzu, die sich und ihre Zeit mit einem Planetarium verewigen wollten.

Allerdings mussten wir nach den Regeln der Planwirtschaft arbeiten: Entwicklungsplan, Fertigungsplan, Verkaufs- bzw. Exportplan. Jede Erzeugnisgruppe hatte gewisse Eckdaten, innerhalb deren Spielraum die Verantwortlichen der sogenannten Warengruppenleitungen sich bewegen konnten. Und wenn alles gut lief, dann gab es kaum unsinnige Auflagen. So konnten der Astrovertrieb in Person von Frau Anita Pieritz und die Astroentwicklung in meiner Person jeweils den Plan des nächsten Jahres festlegen: Soundsoviel feste Aufträge, soundsoviel Lageraufträge, die aus laufenden Angeboten mit hoher Wahrscheinlichkeit absetzbar waren und der Rest Füllaufträge für laufenden, aber nicht vorher planbaren Verkauf. Die Exportleute mussten nun auch ihren Exportplan machen und sogar gerätespezifiziert. Da gab es, sagen wir einmal, 10 laufende Verhandlungen für Großplanetarien, von denen höchstens drei zu Aufträgen in der nächsten Zeit führen würden. In welchen Länderplan sollte man dann die zwei oder drei Planetarien aufnehmen.

Na ja, ganz so ernst war es nicht, aber es ging immerhin um größere Beträge. Ein Planetarium hatte vor 40 Jahren einen Preis von etwa 150.000 Dollar. Da muss man eine Menge Mikroskope liefern, um auf dieses Volumen zu kommen! Übrigens gelang uns der Verkauf unseres Planetariums nach Akashi im Jahre 1960 gegen japanische Konkurrenz deshalb, weil wir kurzfristig liefern konnten.

Also Kanada wird jetzt eine Zeitlang mein Thema sein. Ich habe zwar meine Kanadaerlebnisse von 1959-1979 in einer gesonderten Geschichte ausführlich beschrieben, aber das erscheint mir für diese Geschichte meiner gesamten Planetariumszeit zu ausführlich.

Im Januar 1965 flog ich nach Toronto, um dort wegen des immer noch vagen Toronto-Projekts mit möglichst vielen Mitgliedern der Planetariums-Lobby zu sprechen. Andererseits war natürlich vorgesehen, in Calgary mit den Verantwortlichen der Stadtverwaltung und Architekten Kontakt aufzunehmen. Eine Winterreise nach Kanada kann für Sportler interessant sein, ich hatte schon Probleme beim Anflug auf Montreal. Unsere Maschine musste wegen Schneesturms nach Boston umgeleitet werden, dann nach New York, und dann endlich am nächsten Tag kam ich in Toronto an.

Etwas seltsam kam mir schon die Art vor, wie ich mein Programm absolvierte. Da gab es mit dem Einen einen Lunchtermin, mit dem Anderen ein Dinner. Dann veranstaltete Risty Perotto mit einer Gruppe eine Party, und es gab wieder normale Besprechungen. Schließlich flogen wir nach Calgary.

Wenn man früh startet und mit der Zeit westwärts fliegt, kann man mittags in Calgary sein, nachmittags seine Besprechungen absolvieren und abends wieder zurückfliegen. So wollte es auch Risty Perotto, aber ich gab ihm zu verstehen, dass ich etwas mehr von Calgary sehen wollte. Den Bauplatz möglichst und auch die anderen Astro-Enthusiasten. Wir hatten dann auch Glück, denn an diesem Abend fand zufällig eine Versammlung der Ortsgruppe der Royal Canadian Astronomical Society statt. Es gab sogar einen Vortrag über Erlebnisse im New Yorker Planetarium während des Krieges, vorgetragen von einem ehemaligen Direktor dieser Institution.

Die Geschichte ist richtig rührend und zeigt eine weitere Möglichkeit der Nutzung eines Planetariums: Der Vortragende hatte eines Tages bemerkt, dass ein Mann zum wiederholten Male, allerdings in langen Zeitabständen ins Planetarium gekommen war. Er war ihm deshalb aufgefallen, weil der Mann nach kurzer Zeit einschlief und so vor sich hin schnarchte. Das kommt ja in vielen Planetarien vor. Als dieser nach einiger Zeit wieder kam und dort wieder einschlief, fragte ihn der Vortragende, wieso er immer wieder ins Planetarium komme und dann die Vorführung verschlafe? Der Mann erzählte, er sei Matrose auf einem der amerikanischen Frachtschiffe, die regelmäßig im Geleitzug nach Murmansk fahren, um den Russen Ausrüstungen und andere Hilfsgüter zu bringen. Die Fahrt dauere zwei Wochen hin und zwei Wochen zurück und dann habe er etwas Freizeit. Die nutze er auch, um ins Planetarium zu gehen. Während der Überfahrt habe er zwar auch den Himmel über sich, aber wegen der U-Boot-Gefahr habe keiner Muße, sich für etwas zu interessieren, was nicht mit seiner Lebenserhaltung zu tun habe. Und Schlaf wäre auch sehr knapp. Im Planetarium habe er die Ruhe und den Himmel und deswegen komme er immer wieder, wenn er in New York sei!

Ich erfuhr auch, womit im Staat Alberta Geld verdient wird: Erdöl, Weizen und Viehzucht. Das weiß spätestens seit den Olympischen Spielen in Calgary fast jedes Kind! Es leben auch viele Deutschstämmige in und um Calgary, damals waren es über 40.000. Übrigens war 1965 Calgary noch nicht einmal 100 Jahre alt. Es war aus einem einsamen sogenannten „trading post", einem Handelsplatz, im Wilden Westen entstanden. Dieser jungen Historie entsprechend wurde das Planetariumsgebäude auch wie ein Fort gestaltet.

Wieder in Toronto verbrachte ich noch einige Zeit, meist im Hotelzimmer, denn es war ziemlich kalt draußen. Der Fernseher lief dann von früh 6 Uhr bis nach Mitternacht, und ich bekam den ersten Geschmack von Werbeunterbrechungen.

Bei den Gesprächen in Toronto war ich auch mit Prof. Don McRae von der Torontoer Sternwarte und mit Vic Meen, einem Mineralogen des Torontoer Museums, zusammengekommen. Sie waren beide an einem Planetarium für Toronto interessiert. Vic Meen, dessen Spezialität Edelsteine waren, hatte bei seinen zahlreichen Reisen in alle Welt auch die erreichbaren Planetarien besucht.

Dass diese Gespräche nicht ohne Wirkung waren, zeigte sich bald. Die Herren wollten Ende April 1965 nach Jena kommen und die Gespräche weiterführen. Das sah ja gut aus! Sie kamen am 30. April und konnten dann am 1. Mai die Jenaer Mai-Demonstration erleben. Sie waren mehr amüsiert als irritiert.

Dann begann das Programm, ähnlich, wie bereits bei dem Calgary-Vertreter-Besuch geschildert. Eine Sache bereitete mir jedoch zunächst einige Kopfschmerzen: Don McRae hatte nämlich einen Philips-Kassetten-Recorder mitgebracht und nahm alle Gespräche über technische Fragen auf. Das Ganze lief übrigens im Hotelzimmer im „International" ab, und ich bin nicht so ganz sicher, ob nicht auch noch andere Leute einer anderen Firma mitgehört haben. Wieder in einer fast freundschaftlichen Atmosphäre, ein Astronom sprach mit dem anderen, und ich kannte mich inzwischen in meinem Metier so gut aus, dass ich nicht ins Stottern kam.

Bei der ersten Besichtigung im Jenaer Planetarium bekam ich allerdings einen Schreck, denn die Milchstraße erschien mir viel zu hell. Das ist an sich überhaupt kein Problem, denn ihre Helligkeit lässt sich über ein gesondertes Potentiometer regeln. Ich kam aber nicht dazu, Herrn Gebauer zu bitten, die Helligkeit herunterzuregeln, und fürchtete einen negativen Kommentar. Ganz im Gegenteil: Der neue Jenaer Himmel und die Milchstraße wurden als besonders eindrucksvoll gelobt. Es folgten Werkstattbesichtigung und Besuch des Observatoriums Tautenburg.

An sich waren die Verhandlungen für mich und meine Kollegen ziemlich anstrengend und dauerten drei Tage. Am Nachmittag vor der Abreise fand wieder im „International" die Abschlussbesprechung statt. Alles schien gefragt und gesagt zu sein! Da bat Don McRae um einen nochmaligen Besuch im Jenaer Planetarium.

Eigentlich war ich stocksauer, als ich das hörte. Es blieb auch nicht viel Zeit, eine Sondervorführung zu organisieren. Wir könnten nur eine normale Vorführung mit Vortrag natürlich in deutscher Sprache besuchen. Das war den Herren recht, und so zogen wir los.

Während der Vorführung hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, weshalb wir noch einmal ins Planetarium mussten. Gab es da vielleicht doch eine Schwachstelle, auf der die Herren im letzten Moment herumreiten wollten, vielleicht um ein negatives Urteil zu begründen? Die Vorführung war vorüber, und Don McRae gab dann die Erklärung: Sie hätten sich nun drei Tage mit der Technik des Planetariums beschäftigt und wollten zum Schluss die Wirkung des Planetariums genießen, worüber sie sehr zufrieden waren. Und wir auch, denn das war schon fast der gewünschte Vertrag mit Toronto.

Die Vertragsgestaltung wurde allerdings ziemlich schwierig. Der Stifter, Colonel McLaughlin, war ursprünglich Stellmacher und hatte sich rechtzeitig in den Auto-Karosseriebau eingebracht. Er war dadurch reich geworden und an einem Planetarium interessiert, dass höchsten Ansprüchen genügt. In der Presse schrieb man damals, dass das Jenaer Planetarium mit dem Cadillac zu vergleichen sei. Nun entschied er aber nicht allein, welches Planetarium zu kaufen sei. Selbstverständlich lag auch ein Angebot von Oberkochen vor.

Es wurde auf Betreiben des Präsidenten des größten Milch-Unternehmens im Staat Ontario ein Vertrag gefordert, der uns zu unbedingter Vertragstreue zwang, was den Liefertermin betraf. Wir sollten bis zum 30. Juni 1966 liefern. Bei Verzögerung waren harte Vertragsstrafen angedroht, und wenn die Verzögerung mehr als 6 Wochen betrug, konnte der Kunde vom Vertrag zurücktreten. Das Planetarium sollte eigentlich 1967 eröffnet werden, wozu also der Druck? Man wollte sicher sein, dann noch rechtzeitig ein Planetarium von Oberkochen zu erhalten, dessen Lieferzeit bei 12 Monaten lag.

Solche Rückversicherungen ließen sich leicht mit den politischen Ost-West-Problemen begründen. Wie oft wurde Risty Perotto gefragt, ob er auch dann noch Service und Ersatzteile erbringen könne, wenn der „Eiserne Vorhang" herunter gerasselt ist. Auch so war es schwierig und zeitaufreibend, ein Einreisevisum für Kanada zu bekommen, trotz bester Beziehung zu der Behörde in Ottawa. Mindestens 6 Wochen dauerte es!

Als wir die Vertragsbedingungen in Jena diskutierten, war erst einmal klar, dass wir nicht einfach kapitulieren würden. Zwei Planetarien nach Kanada, das würde unsere internationalen Chancen erheblich aufbessern. Also alle Kraft auf die Vertragserfüllung! Aber es hatte einige Sonderwünsche gegeben, die erst noch konstruiert, gebaut und erprobt werden mussten, und wir kamen in echte Schwierigkeiten. Von dem Liefertermin ging ja noch die Transportzeit ab, bei Seefracht üblicherweise ca. 6 Wochen.

Mit Risty Perotto diskutierten wir die Möglichkeit des Transports als Luftfracht, die innerhalb von wenigen Tagen über den Atlantik ging. Die Verhandlungen mit der KLM ergaben sogar etwas Unerwartetes. An sich hatten wir mit höheren Transportkosten gerechnet, aber dabei die zu fürchtende Vertragsstrafe dagegen gerechnet. Nun gab es einen günstigeren Sondertarif für den Transport von Projektoren, aus welchen Gründen auch immer. Das Planetarium war doch ein Projektor! Wir sparten also noch, auch wegen der leichteren Verpackung, und lieferten zwar im letzten Moment, aber termingerecht. Risty Perotto begleitete Don McRae zum Flugplatz, der an Hand des Inhalts einer Kiste den ordnungsgemäßen Empfang der Lieferung bestätigte.

Der Konkurrenzkampf mit Oberkochen war seit etwa 10 Jahren im vollen Gange.

Die folgende Liste gibt davon ein Bild:


Jena


Oberkochen


Volgograd

1954

Tokio

1957

Chorzow

1955

Hamburg

1957

Peking

1987

London

1958

Leningrad

1959

New York

1960

Akashi

1960

München

1960

Prag

1960

Caracas

1961

Kalkutta

1962

Philadelphia

1962

Riga

1964

Nagoya

1962

Colombo

1965

Los Angeles

1964

Lissabon

1965

Wien

1964



Bangkok

1964



Bochum

1964



Berlin

1965






Der leichte Vorsprung von Oberkochen war nicht dramatisch. Es war klar, dass im „östlichen" Wirtschaftsbereich nur Geräte aus Jena gekauft wurden, aber mit Kalkutta, Colombo und Lissabon war uns ein kleiner Durchbruch zum Weltmarkt gelungen. Andererseits hatten wir im „westlichen" Wirtschaftsgebiet politische und zolltarifliche Schwierigkeiten. So gab es beispielsweise Gespräche mit Prof. Auer vom Deutschen Museum München, die sehr freundlich verliefen. Aber er erklärte, selbst wenn Jena dem Deutschen Museum das Gerät schenken würde, könnte er es nicht annehmen. Nach 1961 hatten wir in den USA überhaupt keine Chancen, abgesehen von den schon erwähnten Nachteilen wegen der Visa-Problematik. Seitens Oberkochens wurden im Kampf um die anderen Bewerber alle Register gezogen, um uns aus dem Rennen zu werfen.

Ziemlich einfältig war man z.B. in dem Bemühen um das Planetarium Lissabon: Ich erinnere mich besonders an die 1000 Dias der Sternbildfiguren aller Kulturen, die gegen unsere 100 Stück angeführt wurden. Dann hatte man geglaubt, uns technisch-konstruktiv diskriminieren zu können. Es ging zwar nur um ein Detail, die Gewichte für die Fixsternblenden. Seit eh und je wurde beim Planetarium ein schräg gestellter Zylinder verwendet, der teilweise mit Quecksilber gefüllt war. Wie auch immer sich Hauptprojektor bewegte, so folgten die Gewichte der Schwerkraft, fast geräuschlos.

Wir hatten uns um die ästhetische Gestaltsverbesserung beim Hauptgerät bemüht, bis in die Details, und unser Formgestalter Gerd Böhnisch schlug vor, die sogenannten „Zigarren", eben diese Zylinder, hinter einem ansprechend geformten Blechstück verschwinden zu lassen. Da man in Oberkochen die „Zigarren" nicht mehr sah, kam man zu der kühnen Behauptung, wir hätten Schwierigkeiten mit der Beschaffung von Quecksilber und wären gezwungen gewesen, eine primitivere Lösung anzuwenden.

Die Retourkutsche von mir, wir könnten gern jede gewünschte Menge Quecksilber zusätzlich liefern, kam mit der oben geschilderten Erläuterung der Veränderung. Als auch alle anderen Argumente nicht halfen, schlug man den Portugiesen vor, sie sollten unser Gerät ins Meer werfen und sie bekämen dafür kostenlos ein neues Gerät aus Oberkochen.

Mein nächster Besuch in Kanada fand im Herbst 1966 statt. In Toronto erfuhr ich, dass der bisherige „Curator" des Londoner Planetariums, Dr. Henry C. King, die Leitung des Planetariums in Toronto übernehmen sollte. Ich kannte Henry seit der Konferenz in New York im Mai 1959 und hatte ihn ganz per Zufall im September 1961 in der Transithalle des Pariser Flugplatzes Orly wieder getroffen. Das war eine gute Wahl für uns, denn Henry verstand etwas von der Popularisierung der Astronomie. Er hatte ein bemerkenswertes Buch „History of the Telescope" geschrieben und später ein gründlich recherchiertes Buch über die Vorläufer der Planetarien.

Unser nächstes Ziel war Vancouver. Dort sollte auch ein Planetarium entstehen. Risty Perotto hatte die Verhandlungen vorbereitet, und wir verhandelten mit Dave Rodger, der später der Direktor wurde, und Ian McLennan, der diesmal als Berater auftrat. Wir besuchten auch das Dominion Observatory in Victoria B.C.

Dann war Calgary unser Ziel, das wir sehr gemütlich in einem Wochenendtrip entlang des Trans-Canada Highways erreichten. Dort befand sich das Planetariumsgebäude bereits im Rohbau und sah eigentlich mehr wie ein Fort der Maginot-Linie aus als eines aus der Zeit des Wilden Westens. Es hatte einen Wettbewerb für die architektonische Gestaltung gegeben, und man hatte sich für diesen Entwurf entschieden. Wie nicht anders zu erwarten war, mussten eine Menge Änderungen eingearbeitet werden, denn trotz unserer Empfehlungen für die Gestaltung der Gebäude war jedes Planetarium an dem betreffenden Standort Neuland für die Architekten. Ich konnte und kann heute noch ein Lied singen, welche groben Fehler immer wieder gemacht wurden. Nach dem Bauablauf waren keine Schwierigkeiten zu erwarten, das Gerät im nächsten Jahr zu montieren und zu übergeben.

Ein kleiner Seitenblick zu der Teleskop-Abteilung in Jena: 1965 war das zweite 2-m-Teleskop für Aserbeidshan in der Montagehalle fertiggestellt worden, 1966 das dritte 2-m-Teleskop für die ČSSR. Parallel dazu fand die Montage im Observatorium Schemacha bei Baku und die Übergabe im September 1966 statt. Wir bereiteten uns auf die Montage des ČSSR-Teleskops in Ondrejov vor. Die Übergabe im August 1967 sollte im Rahmen der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union erfolgen. Dazu hatte wir noch eine große Astro-Ausstellung geplant, mit zahlreichen neuen Geräten, wie Ascorecord, Photographisches Zenitteleskop, Satellitenbeobachtungsgerät und das Raumflug-Planetarium. Womit ich wieder beim Thema Planetarien bin.

Es hatte sich bestätigt, dass unser Raumflug-Planetarium erheblich unsere Kompetenz auf dem Gebiet der Planetariumsentwicklung untermauerte. Unser Marktanteil wurde größer, und wir hatten ein neues, moderneres Produkt auf einem neuen Sektor. Der Kampf um das höchste technische Niveau zwischen unserem Universal-Projektions-Planetarium UPP 23/n genannten Gerät und dem COSMORAMA einerseits und den Modellen IV, V und VI andererseits ergab für Jena an sich günstigste Ausgangspositionen.

Nehmen wir nur den Sternenhimmel, das wohl beeindruckendste Produkt des Planetariums. Unseren verbesserten Sternenhimmel versuchte man in Oberkochen beim Modell VI mit einer Gasentladungslampe zu übertreffen. Das gelang aber nicht, denn wegen der spektralen Energieverteilung des Lichts der Lampe erschienen die Sterne eindeutig grün, abgesehen von dem höheren Aufwand bei der Helligkeitsvariation durch Blendenmechanismen. Zwar begann mit dem Planetarium für Rochester (Modell VI) ein neuer Versuch von Oberkochen, uns ins Hintertreffen zu bringen. Das gesamte Feld wurde aber von Jena dominiert. Je 15 Geräte UPP 23 bzw. COSMORAMA standen 15 Geräten vom Modell VI gegenüber in den 25 Jahren von 1968 an. Zur Jenaer Bilanz kamen aber noch 45 Raumflugplanetarien. Dagegen kam das Oberkochener M1015-Gerät mit 10 Exemplaren seit 1987 nicht an.

Das Calgary Centennial Planetarium wurde im Sommer 1967 eröffnet, und ich nahm an der Einweihung teil. Als Direktor hatte man einen Österreicher berufen, Sieg Wieser, dessen Eröffnungsvortrag in der Presse ziemlich schlecht gemacht wurde. Es war die alte Geschichte: Es gab keine formelle Ausbildung von Planetariumsleuten, und immer noch war die Darbietung ein Vortrag mit Planetariumsuntermalung. So ging es in Sieg Wiesers Vortrag um die kanadische Geschichte der vergangenen 100 Jahre, aber er wurde nur als eine „drab story", als eine eintönige Geschichte kommentiert. Jim Wright fungierte übrigens als technischer Leiter, und Bob Nelson war der Chef-Mechaniker.

Die Eröffnung des McLaughlin Planetariums in Toronto verzögerte sich und fand im Oktober 1968 zeitgleich mit der Eröffnung des McMillan Planetariums in Vancouver statt. Henry King kannte sich im Planetarium aus, und so war es eine glanzvolle Eröffnung. Beeindruckend war in Toronto die mächtige Tonanlage, die das Planetarium zu einem Konzertsaal machte. Allerdings war auch ihr Preis beeindruckend, sie kostete nämlich genau so viel wie unser Gerät! Die Relation zu den Kosten des Gesamtprojekts hat mich immer wieder irritiert, wenn nicht so gar geärgert: Die Kosten des wesentlichsten Elements eines Planetariums, des Vorführgeräts, betrugen nur rund 10% der Gesamtkosten, und da wurde oft um 0,5 - 1 % dieser Kosten gefeilscht! Zu diesem Thema werde ich noch zurückkommen.

Mit Vancouver gab es noch Probleme wegen Sonderwünschen. So sollte z.B. die Helligkeit der Venus verändert werden, wenn sie die Sonne umläuft. Auch der Mond sollte verbessert werden in Bezug auf die Lage der schmalen Sichel zur Sonnenrichtung und einiges mehr. Diese Änderungen hätten wir nicht termingerecht geschafft, und so kam es zu einer Vereinbarung, dass erst einmal das Gerät in der Ausführung A, wie Toronto, ausgeliefert werden sollte. Die Ausführung B würde dann durch Austausch der umkonstruierten Planetenkäfige entstehen, etwa ein Jahr später. Das war für uns zwar ein teurer Spaß, aber er sicherte uns den Auftrag für Vancouver!

Die International Planetariums Directors Conference (IPDC) war formal 1959 in New York ins Leben gerufen worden und sollte alle drei Jahre stattfinden. Die Konferenz im Jahre 1968 fand in Wien statt, wo seit 1964 wieder ein Planetarium (von Oberkochen) unter der Leitung von Prof. Hermann Mucke in Betrieb war. Mucke war von jeher ein Vertreter der „reinen" Lehre in der Tradition der astronomischen Volksbildung in Österreich, die von Prof. Thomas begründet wurde. Schnickschnack gab es bei ihm nicht, umso mehr gründliche astronomische Darlegungen. Mucke untersuchte in einer umfangreichen Arbeit die Genauigkeit der Bewegung von Sonne, Mond und Planeten und attestierte dem Gerät und damit Prof. Bauersfeld die Qualität eines sehr genauen Analogrechners.

Ich durfte nach Wien reisen und hatte in meinem „Handgepäck" eine Fixsternkugel und den Jupiterprojektor des Raumflug-Planetariums. In einem kleinen Vortrag stellte ich das von mir „Queensize" genannte Planetariums vor, und der Sternenhimmel in der 20 m Kuppel war durchaus beeindruckend, ebenso die recht naturgetreue Darstellung des Juptersystems.

Nun bin ich wieder beim Raumflug-Planetarium, und es wird Zeit, Dr. Ludwig Meier in meinen Zeitablauf einzufügen. Meier war als Dipl.Mathematiker Absolvent der Universität Leipzig und hatte sich dort auch mit Astronomie beschäftigt. Als er 1958 seine Tätigkeit in dem noch personell kleinen Astro-Labor begann, fragte ich ihn, wie er sich seine Zukunft vorstelle: Ob er mein Stellvertreter werden wolle, also sich mit denselben Fragen wie ich in Arbeitsteilung beschäftigen, oder ob er ein eigenes Arbeitsgebiet selbständig „beackern" wolle. Er wollte das zweite, und das war eigentlich auch für mich logisch. Bei dem geringen Altersunterschied zwischen uns wäre er ein ewiger „Kronprinz" (wie Prince Charles) geblieben.

Ich einigte mich mit ihm, dass er insbesondere das Gebiet der Mathematik bearbeiten sollte, und es gab eine Menge mathematische Probleme dann später beim Raumflug-Planetarium mit seiner Automatisierung und der dazu notwendigen Programmierung. Als es dann nach 1967 richtig ernst mit den Raumflug-Planetarien wurde, ging ich noch weiter und vereinbarte mit ihm, dass wir uns das Gebiet der Planetarien teilten: Er übernahm die Raumflug-Planetarien, und ich blieb bei den Großplanetarien.

Gelegentlich ein Großplanetariumsprojekt durchziehen, das konnte man fast noch nebenbei, wenn man einmal im Geschäft war. Aber die Raumflugplanetarien forderten einen höheren Einsatz vor allem bei der Übergabe, wie sich bald herausstellen sollte. Nun habe ich diese Geschichte bisher „meine" Planetariumsgeschichte genannt und werde mich auf das beschränken, wo ich selbst mehr involviert war. Ich wünsche und hoffe, dass Dr. Meier die Zeit und Muße finden wird, „seine" Planetariumsgeschichte zu erzählen, die dann bis in unsere Tage (2001) führen wird.

So werde ich in meinem weiteren Text nur die Phasen und Entwicklungen betrachten, bei denen ich meine Beiträge zum Fortschritt des Jenaer Planetariumsbereiches leistete:

Im Jahre 1972 fand die IPD-Konferenz in Kanada und den USA statt. Ich durfte allerdings nur an dem Kanadischen Programm in Toronto teilnehmen, besuchte dafür die Planetarien in Calgary und Vancouver, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei erfuhr ich, dass es in Edmonton ein Kleines Planetarium mit einem Spitz-Projektor gab, ahnte aber nicht, dass sich dort ein größeres Projekt entwickeln würde. Die nächste IPD-Konferenz fand 1975 in Prag und Chorzow statt, wo sich besonders der Leiter des Prager Planetariums Ing. Rykl Verdienste erwarb. Er hatte dem Planetarium eine Coelostatenanlage hinzugefügt, mit der er ein „live"-Sonnenbild in die Kuppel projizieren konnte.

Im Jahre 1976 wurde aus Anlass des 50jährigen Bestehens des Jenaer Zeiss-Planetarium „richtig auf die Pauke gehauen!" Der neue Generaldirektor Biermann ließ eine Festveranstaltung mit vielen, auch ausländischen Kunden oder Interessenten stabsmäßig organisieren und durchführen. Zu dem Programm gehörte auch eine Astro-Ausstellung mit dem neuen 2-m-Telskop für Bulgarien. Damit waren Zeichen gesetzt, und Planetarien blieben während der gesamten Biermann-Zeit Chefsache. Das darf nicht so verstanden werden, dass wir Narrenfreiheit hatten. Aber Biermann verstand es auch, unsere Leistungen zu seinen Erfolgen zu machen. Mir widerfuhr sogar die Ehre, von Biermann offiziell zum ehrenamtlichen Leiter des Jenaer Planetariums ernannt zu werden, und ich entwickelte in der Folge einige Ideen zur Erweiterung der Planetariumsanlage, auf die ich noch zurückkommen werde.

Ein weiterer Paukenschlag war das Raumflugplanetarium für Wolfsburg, wo Biermann die entscheidenden Wege aufwies und danach die Weichen stellte. Bis dato hätte es niemand für möglich gehalten, dass ein Planetarium aus Jena in der BRD Furore machen würde. Es gab zwar Kleinplanetarien in Bremen und Bremerhaven, wenn schon, aber ein größeres Objekt?

Es war die Zeit, in der die DDR mit VW einen Vertrag über die Lieferung von 10.000 Golf-PKWs abschloss. Es war klar, dass die DDR nicht bar bezahlte, sondern dass im Rahmen des innerdeutschen Handels Gegenlieferungen vereinbart wurden. Es war auch die Zeit vor dem 40jährigen Jubiläum der Stadt Wolfsburg, wo damals das Volkswagenwerk entstand. Warum, so überlegte Biermann, sollte das prosperierende VW-Unternehmen nicht der Stadt Wolfsburg ein Planetarium präsentieren?

Ich hatte die Ehre, auf der Frühjahrsmesse 1978 dem Chef von VW das Raumflug-Planetarium vorzustellen und Gedanken für das Gesamtprojekt vorzutragen. Letzteres gehörte inzwischen zu den erweiterten Aufgabenbereichen von Carl Zeiss Jena. „Anlagenexport" war ein DDR-Schlagwort geworden, und aus dem Zeiss-internen Projektierungsbereich wurde eine Architektin, Gertrud Schille, ausgewählt, die sich um die entsprechende Fragen kümmern sollte.

Etwa ein Jahr zuvor hatte sie erste Ideen für ein mögliches Angebot, noch ohne irgendwelche Kundenanforderung, zusammengestellt und trug das einem größeren Kreise vor. Ich nahm die Planetariums-Seite wahr, und es kam zu einem großen Krach. Ich hatte zwar bisher mit den Planetariums-Architekten zutun gehabt, aber es ging stets um technische Fragen. Ich wusste, was erforderlich war, und die Architekten realisierten das (manchmal auch nicht!). Die Kosten spielten dabei für mich keine Rolle. Darüber hatte der Kunde zu entscheiden.

Meinen Zorn über das Missverhältnis zwischen den Kosten der Geräteausrüstung und den Gesamtkosten hatte ich bereits am Beispiel Toronto zum Ausdruck gebracht. Nun erlebte ich dasselbe im eigenen Haus! Es schien ein Naturgesetz zu sein! Ich muss nun zugeben, dass ich nur wenig Erfahrung über Baukosten hatte und auch nicht wusste, wie stark sie sich im Laufe der Zeit nach oben entwickelt hatten. Die Baukosten der großen Astro-Halle im Südwerk hatten um 1954 etwa eine Million Mark betragen, das gesamte Observatoriumsprojekt Tautenburg, fertiggestellt 1960, hatte einschließlich Teleskopausrüstung und Kuppel, einschließlich Entwicklungskosten 15 Millionen Mark gekostet. Und nun sollte eine Planetariumsanlage für ein Raumflugplanetarium die gleiche Größenordnung kosten! Völlig unmöglich, ein solches Objekt zu verkaufen!

In der Zwischenzeit hatte sich Gertrud Schille tiefer in die Materie eingearbeitet und uns bei dem Irak-Teleskop-Projekt im Herbst 1977 sogar vor Ort unterstützt. Es ging dort zwar um ein Forschungsgebäude, aber wir drei, Reinhard Hamatschek gehörte noch dazu, hatten in Baghdad Zeit, über alle möglichen Varianten der Planetariumsgestaltung zu diskutieren. Das war übrigens nicht meine erste Reise in den Irak. Die unternahm ich im November 1963, in einer Zeit, in der man noch nicht ahnte, was sich dort einmal politisch entwickeln würde.

Es gab offenbar recht gute Handelsbeziehungen mit der DDR mit Ausrüstungen für das Militär wie LKW und Motorräder. Unsere Vertretung verdiente sich wahrscheinlich eine goldene Nase und ließ einige einflußreiche Leute in den Behörden daran teilhaben. Jedenfalls gab es ein Planetariumsprojekt, das ich ein wenig vorwärts bringen sollte. Tatsächlich kam es dann zu einem Vertrag, und das Gerät wurde 1970 in der Variante UPP 23/5 geliefert. Aber Allah zürnte aus irgendwelchen Gründen, und das noch in den Kisten befindliche Gerät ersoff jämmerlich bei einer riesigen Überschwemmung. Wahrscheinlich hatte man mehr zu tun als ein Planetarium zu retten, jedenfalls gab es keine Anstrengungen, sich besonders um das so kostbare Gut zu bemühen. Kaufen wir eben ein neues!

Nun wurde der Basar wieder aktiviert. Eine einfache Nachbestellung kam nicht in Frage, neue Angebote wurden angefordert, und das dauerte seine Zeit. Und plötzlich belebte sich das Geschäft. Hatte nicht die Astronomie im Zweistromland ihren Ursprung, und gab es dort nicht günstige Beobachtungsbedingungen? Irak braucht ein National-Observatorium mit einem großen Teleskop! Eine große Delegation reiste 1974 nach Europa und begann die Verhandlungen mit Grubb Parsons in England, in Oberkochen und mit uns. Zu ihnen gehörte auch der Generaldirektor des Jugendministeriums, dem das Planetariumsprojekt Baghdad zugeordnet war.

Was das Großplanetarium anbetrifft, waren wir inzwischen in einer schlechten Position, denn die Fertigung war zum Stillstand gekommen. Das Baghdad-Gerät schien das letzte gewesen zu sein. Damals mussten alle Geräte im Zeisswerk konstruktiv nach den RGW-Standards umgestellt werden, und das fraß Konstruktionskapazität, die dringend für Neuentwicklungen benötigt wurde.

Die Astro-Entwcklung war besonders schlecht dran. Eigentlich sollte sie Anfang 1970 vollständig eingestellt werden zugunsten der Entwicklung von Ausrüstungen für die mikroelektronische Industrie. Das konnte ich abwehren, musste aber einen Teil meiner Konstrukteure mit solchen Aufgaben betrauen. Dann erhielten wir den Auftrag für das 2-m-Teleskop Bulgarien, für das wir einen kompletten neuen Rohrkörper entwickeln mussten. Es blieb einfach keine Kapazität für das Großplanetarium. Wir hatten doch das Raumflug-Planetarium! Aber Baghdad wollte ein Planetarium für eine 20-m-Kuppel, und das RFP war für Kuppeln zwischen 12,5 und 15 m konzipiert. Frech und kühn gingen wir mit einem RFP-Angebot ins Rennen, das ja so viele neue Effekte zeigen konnte.

Die Geschichte wird immer mehr orientalisch, denn auf einmal hieß es „Beck, sofort nach Baghdad! Die Teleskopverhandlungen gehen weiter!" Das war zur Herbstmesse 1975. Wieso ich? Der Außenhandel war eigentlich gefordert, denn wir hatten bereits unser Angebot abgegeben. Es war aber so, dass ich der einzige der möglichen Kandidaten war, der ein DDR-Ausreisevisum hatte, allerdings nur noch ein paar Tage gültig. Dank der Beziehungen unserer Vertretung zum Innenministerium konnten wir auch ohne irakisches Visum in Baghdad einreisen.

Was ich jetzt erzähle ist Zeitgeschichte, die ja wohl auch zu einer Technikgeschichte gehört: Also ab zum Reisebüro: „Frau Schreier! Ich muss so schnell wie möglich nach Baghdad!" „Gut, machen wir!" Aber es gab Komplikationen. Messe und Sommerurlaub des DDR-Personals im Vorderen Orient waren vorüber. Kein Platz in der direkten Maschine der Interflug, die nur zweimal in der Woche fliegt. „Na dann fliege ich nach Damaskus und von dort weiter!" „Damaskus ist OK, aber keine Bestätigung für den Weiterflug nach Baghdad!" Mit einer anderen westlichen Linie hätte es vielleicht geklappt, aber die dämlichen Flugroutenvorschriften der DDR verboten diese Abweichung. „Also, ich fliege nach Damaskus und werde schon irgendwie weiterkommen!"

Die Maschine nach Damaskus war voll besetzt und landete sogar pünktlich. Als ich mich jedoch bereits am Fuße der Gangway nach den Möglichkeiten des Weiterflugs erkundigte, sah mich der Interflug-Betreuer ungläubig an. „Es gibt keinen Flugverkehr zwischen Damaskus und Bagdad! Syrien und Irak liegen im Clinch! Fliegen Sie am besten mit dieser Maschine zurück!"

Erfreulicherweise war des Chef des Interflug-Büros mit an Bord, und ich konnte ihm mein Leid klagen. „Das bekommen wir hin! Ich kümmere mich darum, dass Sie von Beirut aus nach Baghdad fliegen! Kommen Sie morgen früh in mein Büro!" Er kümmerte sich um ein Transitvisum und um eine Übernachtung im Gästehaus der DDR-Handelsvertretung.

Im Interflug-Büro erkundigte ich mich zuerst, wann ich denn nach Beirut fliegen könne! „ Nach Beirut fährt man mit dem Taxi!" war die Antwort. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es nach Beirut ist. Na so etwa 100 km! Das war klar, aber wann würde ich nach Baghdad fliegen können? Er könne mir nur ein internationales Ticket Beirut-Baghdad ausstellen und sei sicher, dass ich dort eine Maschine noch am selben Tag bekäme!"

Ich fuhr mit einem Sammeltaxi mit drei anderen, Araber, Syrer, eine interessante Wegstrecke. Über den Anti-Libanon hinab in die Bekaa-Ebene und dann wieder über den Libanon nach Beirut. Von der Anhöhe hatte ich einen wunderschönen Blick auf Stadt und Meer. Die Häuser in den Vororten glichen Villen an der französischen Mittelmeerküste. Der Libanon war nach dem 1. Weltkrieg Französisches Mandatsgebiet.

Am Flughafen angekommen, schaute ich zu der Abflugtafel. Mehrere Maschinen flogen noch nach Baghdad, aber alle waren ausgebucht! Da gab es noch eine Air France-Maschine! Ich versuchte dort mein Glück. Man war sehr freundlich, aber es gab dort auch Flugroutenvorschriften. Air France hatte keine Erlaubnis für den „Lokalverkehr Beirut-Baghdad!" „Kann man da nicht eine Ausnahme erwirken?" „Ja, beim Flugplatz-Kommandanten!" Der Herr Kommandant war sehr freundlich und aufmerksam, als ich ihm meine Not schilderte. Ich stellte mich ihm als Vertreter der Firma Zeiss vor, und er schien Mitleid mit mir zu haben. Ich bat ihn um eine schriftliche Bestätigung seines Wohlwollens, und er setzte auch zum Schreiben an. Dann überlegte er kurz und sagte, die Air France Leute sollten bei ihm anrufen, die Sache ginge in Ordnung. Warum sollte er ein Dokument verfassen?

Gegen Mitternacht kam ich schließlich in Baghdad an und meldete mich bei unserer Vertretung, die mich dann „auslöste". Die Erinnerung an das schöne Beirut wurde jäh getrübt, als ich am Sonntag darauf im englischsprachigen „Baghdad Observer" las, dass es am Tag zuvor zu Kämpfen in der Nähe des Flugplatzes gekommen sei, womit die Zerstörung Beiruts ihren Anfang nahm. Glück gehabt!

Es stellte sich heraus, dass es mit den Teleskopverhandlungen gar nicht so eilig war, aber wegen des Planetariums käme ich wie gerufen. Es lag nämlich inzwischen beim Jugendministerium auch ein Angebot für ein Groß-Planetarium aus Oberkochen vor, und wir müssten etwas dagegen unternehmen!

Im Orient ist es kein Problem, an das Konkurrenzangebot zu kommen, wobei mich vor allem der Preis interessierte, die technische Spezifikation kannte ich ja. Zu meiner Überraschung sollte das Oberkochener Gerät über 2 Millionen DM kosten, das war etwa 100% mehr, als uns bisher bekannt war. Auch so etwas ist nicht ungewöhnlich. Wenn man in den Preis einen entsprechend hohen oder sogar sehr hohen Provisionsanteil hineinpackt, dann müssen die Verkaufschancen nicht etwa schlechter werden. Die Provision ist dann ausschlaggebend und nicht der Preis. Ich kannte das auch aus dem Oberkochener Geschäft mit Venezuela, wo ein vierfach überhöhter Preis für eine Sternwartenanlage gefordert und dann bezahlt wurde!

Für eine Rückfrage in Jena blieb keine Zeit, und so erhöhten wir mit der gleichen Zielstellung den Preis des Raumflug-Planetariums um über 50%, in der Hoffnung, dass höhere Provision und niedriger Preis den Ausschlag geben würden. Was dann später auch funktionierte.

Nun zurück nach Jena: Das Gebäude des Jenaer Planetariums hatte seinerzeit die bekannten Jenaer Architekten Schreiter & Schlag entworfen. Es war natürlich, kurz nach der Inflation nicht üppig ausgestaltet. Ein kleiner Kassenraum und eine kleine Werkstatt waren die einzigsten Nebenräume. Trotzdem machte es nicht den Eindruck eines reinen Zweckbaus. Der von schlichten Säulen getragene Vorbau und der Säulenumgang, verbunden mit der günstigen Lage hinter dem Botanischen Garten und vor dem Prinzessinnen-Garten bildete ein ansprechendes Ensemble.

Für den reinen Vorführbetrieb, sozusagen „ambulant", reichte es aus. Wir wollten es aber aufwerten, und so nahm ich Kontakt mit Hans Schlag auf, und wir diskutierten die Erweiterungsmöglichkeiten. Es war klar, dass das „Gesicht" des Planetariums unverändert bleiben sollte, was auch aus Gründen des Denkmalschutzes erforderlich war. Wir hatten aber auch daran gedacht, den Vorbau bis an die Straße vor zu ziehen, um eine Ausstellung und weitere technische Räume dort unterzubringen. Der von Schlag angefertigte Entwurf eines Lageplans wurde später von Gertrud Schille aufgenommen, und von Professor Lahnert, einem ehemaligen Mitarbeiter von Schreiter & Schlag, in die jetzige bauliche Lösung umgesetzt.

Gertrud Schille war und ist mit der Gestaltung nur halb zufrieden. Lahnerts Feld war der Industriebau, und das merkt man auch dem Nutzgebäude an, wobei zusätzlich zu vermerken ist, dass das Gebäude von Lehrlingen des Zeiss-A-Betriebs aus pädagogischen Gründen als reiner Ziegelbau gefertigt wurde. Die veränderte Eingangshalle und der geschlossene Säulengang sehen so aus, als ob sie schon immer so gewesen wären.

Gertrud Schilles Pläne gingen aber weiter. Es sollte ein richtiges Astronomisches Ensemble werden und dabei die Fläche bis zu der Mensa am Philosophenweg nutzen. Hinter der Mensa war ein funktionsloses kleines Wäldchen, und dort sollte ein Astronomischer Garten mit einem kleinen Amphitheater Veranstaltungen im Freien ermöglichen. In der Nähe von Wien ist seit einigen Jahren ein solcher Sternengarten ein Pendant zum Wiener Planetarium. Prof. Mucke nennt es das Freilicht-Planetarium. Von mir kam die Idee eines kleinen Sonnenturms hinzu, der auch als „Camera obscura" genutzt werden konnte. Wegen der Tallage wäre der Turm die beste Lösung gewesen. Aber die Zeit war nicht reif für solche anscheinend extravagante Anlagen.

Gertrud Schille hat sich in der Folge intensiv mit dem modernen Schalenbau beschäftigt und eine Unmenge Material zusammengetragen. Das ist ihr eigenes Thema, und ich werde, ähnlich wie ich es bei Dr. Meiers Geschichte getan habe, nur Überschneidungen diskutieren oder über gemeinsame Aktivitäten berichten.

Im Sommer 1977 begann die Zusammenarbeit mit Ulrich Müther, dem „Kopf" des VEB Spezialbetonbau Binz. Es kam zu einer kleinen Konferenz auf der Insel Hiddensee, wo Müthers Betrieb ein Anwesen hatte. In der Mühle in Vitte war das Ferien-Domizil von Prof. Helmut Trautzettel aus Dresden, der mit hinzugezogen wurde, sowie Dr. Peter Baumbach und seine Frau Ute aus Rostock. Die Sache war vom Außenhandel organisiert unter Teilnahme von Walter Uhlig und Reinhard Hamatschek. Müther hatte in Berlin die von Prof. Lehmann entwickelte Schalenkonstruktion des „Ahornblatts" realisiert, wodurch Gertrud Schille zu ähnlichen Lösungen für die Gestaltung der Planetariumskuppeln angeregt wurde. Es gab und gibt immer wieder Beispiele, wie die Architekten von der Halb-Kugel-Kuppel abgewichen sind, z.B. bei dem Planetarium Colombo.

In dieser Zeit gab es in Jena eine erneute Planetariums-Premiere auf dem Gebiet der Kleinplanetarien: Das ZKP 2! Es war wieder eine logische Entwicklung, vor allem gegen die japanische Konkurrenz der Firmen Goto und Minolta. Das bisherige Zeiss-Kleinplanetarium (ZKP erhielt nachträglich die Ziffer 1 angehängt) war in über 250 Exemplaren über die ganze Welt verteilt. Es war leistungsfähig und besonders für den unmittelbaren Kontakt zwischen Vorführer und Zuschauer geeignet. Einen erfahrenen Fürsprecher hatten wir in Dr. Walter Stein von der Seefahrtsschule Bremen, der diese Eigenschaft besonders lobte. Für eine Weiterentwicklung konnten wir auf unsere eigene Basis dieser Kleinplanetarien aufbauen. Unser Ziel aber war, auch die an sich weniger leistungsfähigen Konkurrenz-Planetarien entscheidend zu übertreffen.

Das neue Kleinplanetarium sollte klein bleiben, denn mit dem Raumflug-Planetarium hatten wir ja schon die Mittelklasse besetzt. Es musste aber unbedingt die Bewegungen von Sonne. Mond und den Planeten zeigen. Eine Verkleinerung der sogenannten Planetenkäfige hatte jedoch schon beim Raumflug-Planetarium konstruktive Kompromisse erzwungen. Anstelle der Doppel-Projektoren für diese Objekte gab es nur noch einfache, allerdings mit vergrößertem Objektivdurchmesser. Dadurch und durch schmalere Gitterstäbe waren keine Abschattungen merkbar. Eine weitere Verkleinerung erschien unzweckmäßig. Helmut Böhme, eigentlich Statiker aus dem Flugzeugbau, aber inzwischen Spezialist in der Astro-Konstruktion, übernahm die Aufgabe und kam zu einer völlig neuen Getriebeanordnung dieser Projektoren. In der Bauersfeldschen Lösung werden die Bewegungen von einem gemeinsamen Jahresgang angetrieben, dem die jeweiligen Übersetzungen nachgeschaltet sind. Bei der Lösung von Böhme sind die Bewegungen sozusagen in einer Kaskade von der schnellsten zur langsamsten Bewegungen aufgefädelt. Umfangreiche Computerberechnungen mit mehreren Millionen Varianten ermöglichten schließlich die zierliche Konstruktion in adäquater Größe zu den Fixsternkugeln.

Es war noch die Zeit vor den PCs, aber Kartensteuerungen gab es schon, und so erhielt das ZKP 2 eine, wenn auch bescheidene Möglichkeit der Automatisierung. Der Erfolg des ZKP 2 war sehr groß: Über 90 Geräte wurden von 1977 bis 1992 aufgestellt, denen dann die Weiterentwicklung ZKP 3 folgte.

Zurück zum Projekt Wolfsburg und unseren Bemühungen, ein erstes Anlagenobjekt für Planetarien zu realisieren. Gertrud Schille wollte nicht irgendeine architektonische Lösung, die auch für einen anderen Standort gepasst hätte. Zugegeben, jeder gute Architekt geht so an seine Aufgabe heran. Aber wir traten ja nun in Konkurrenz zu Architekten aus der BRD und zu ziemlich berühmten Leuten, die in Wolfsburg ihre „Denkmäler" hinterlassen hatten. Wir erhielten die Möglichkeit, in Wolfsburg einen geeigneten Standort mit auszusuchen und fanden ihn in der Nähe des Theaters und der Stadthalle, geradezu in idealer Lage. Dort steht nun auch die Planetariumsanlage.

Nun ging es um die Gestaltung des „Gesichts", und wir hatten die Idee, einen Bezug zu der Schwerindustrie von Salzgitter herzustellen. Das Charakterististische an der äußeren Kuppelgestaltung sollte ein Edelstahl-Stabnetzwerk sein, als eine künstlerische Variation des Bauersfeldschen Netzwerks. Wir fragten nicht lange und entschlossen uns zum Bau eines Modells. Das Netzwerk fertigte mein Mitarbeiter Dr. H.J. Kiel.

Das Modell wurde anlässlich der Feierlichkeiten zum 40jährigen Jubiläum im Sommer 1979 übergeben. Realisiert wurde dann eine andere Variante mit einer „Dreiviertel-Kugel", die Gertrud Schille vorgeschlagen hatte. Dazu waren eine Unmenge bautechnischer Fragen zu lösen. Dieses Schalenbauwerk sollte natürlich aus dem von uns verwendeten Stabnetzwerk nach DYWIDAG aufgebaut werden. Gertrud Schille und Ullrich Müther verbrauchten bald mehr Zeit und Energie für den Baugenehmigungsprozess als für das eigentliche Bauwerk.

Zu dieser Zeit (1978) waren bereits über 10 Raumflug-Planetarien in Betrieb, und Wolfsburg sollte den bewährten Serientyp erhalten. Wir hatten aber begonnen, eine Lösung zu suchen, die den Automatikbetrieb weiter verbessern und erleichtern würde. Die nächstbeste verfügbare Lösung war die Kopplung mit einem Mehrkanaltonbandgerät. Das Prinzip der direkten Programmierung war damit eingeführt, und die Ergänzung DP kennzeichnet die Geräte, die ab 1978 u.a. nach Halle, Paris und Tripolis geliefert wurde. Eine Sonderausführung dieser Variante kam in das Sternenstädtchen bei Moskau, wofür es entsprechend den Trainingsbedingungen der Kosmonauten modifiziert wurde.

Über eines waren wir uns klar. Es kam darauf an, dass das Gerät, wie man damals sagte, höhere Gebrauchswerte hatte. Endlich konnten wir die Forderung von Gerhard Vogel realisieren, eine automatische Aufzeichnung mit anschließend der Wiederholung, „Replay", zu realisieren. Die Ursprungsidee war natürlich naiv aus heutiger Sicht: Kein Musikstück, abgesehen von den live-Mittschnitten bestimmter „events", kann mit entsprechenden Qualitätsansprüchen so aufgenommen werden. Die Planetariumsvorführungen mussten produziert werden.

Es gab zu dieser Zeit niemanden, der höhere Forderungen an die Planetariumstechnik gestellt hätte, und wir mussten auch nicht Oberkochen übertreffen, denn dort gab es kein Gerät der gleichen Klasse. Ich hatte aber an der IPDC-Konferenz 1978 in Nagoya/Japan teilgenommen und dort bemerkt, wie die Elektronik immer stärker in die Geräte integriert wurde. Im Zusammenhang mit dem ASCORECORD hatte ich auch schon Prozessrechner kennengelernt, z.B. den PDP 8 von Digital Equipment/USA. Nun kam es darauf an, Planetarium und Rechner zu koppeln und zwar rechtzeitig, bevor es die Konkurrenz tat.

Wäre es um ein Planetarium für Irgendwohin gegangen, dann hätte ich mich gehütet, im Rahmen eines unangefochtenen Vertrags wesentliche Änderungen der Leistungsmerkmale nach oben zu korrigieren, ohne zusätzliche Preisforderungen und Terminabsprachen. Aber Wolfsburg war sozusagen die Arena für die technisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Oberkochen und der anderen westlichen oder östlichen Konkurrenz.

Wir hatten einen solchen großen Schritt nach vorn schon einmal getan. Mitten im Entwicklungsprozess für die neuen 2-m-Teleskope stellten wir fest, dass nach den damaligen Erkenntnissen die vorgesehene Teleskop-Montierung nur schwer den aufgekommenen und künftigen Forderungen nach Automatiserung gerecht werden würde. Alfred Jensch entwickelte die Stützmontierung, eine völlig neue Lösung. Hinzu kam, dass wir nicht erst irgendwelche Modellversuche abwarteten, sondern sofort, wie man so sagt „in die Vollen" gingen.

Mir fällt beim Nachdenken über unser Planetariumsvorhaben die oft belächelte Ulbricht-Forderung ein: „Überholen, ohne einzuholen!" Nicht, dass wir uns diese zu Eigen gemacht hätten, sie sollte ja auch für die gesamte DDR gelten, und sogar die Genossen der SED-Parteileitung machten ihre Witze darüber. Aber wir wollten mehr, als nur unsere Konkurrenz einholen. Nach unserer Überzeugung lagen wir an der Spitze und wollten diese Spitze sichern.

Der Namenszusatz für das RFP der dritten Automatikgeneration blieb DP mit einer angehängten 2, also RFP DP2. Das Kürzel DP bekam aber einen Bedeutungswandel: Aus „Direkte Programmierung" wurde „Daten Prozessor". Das hatte auch noch einen planungstechnischen Grund. RFP DP war kein neues Thema für die Planungsbürokratie, und die höchstmögliche Leistung wurde ohnehin gefordert.

Was stand uns für unsere Entwicklung zur Verfügung? Auf jeden Fall weniger, sehr viel weniger als Irgendemandem in der westlichen Welt. Es sei erinnert, dass 1978 der Vorläufer des PC in den USA auf den Markt kam und dass erst 1981 der erste PC von IBM gefertigt wurde.

Bei Carl Zeiss Jena hatte eine Gruppe um Martin Karweck einen Kleinsteuer-Rechner KSR 4100 entwickelt, der in der Folge mit zahlreichen Zeiss-Geräten kombiniert wurde. Eigentlich wäre ein solches Gerät die Aufgabe von ROBOTRON Dresden gewesen, aber unsere Rechnertruppe kannte sich von dem ZRA (Zeiss-Rechenautomat) her mit der Rechnertechnologie aus. Aus den USA übernahmen sie die Konzeption des Z 80-Mikrorechnersystems, das später in der DDR als U 880-System gefertigt wurde. Mit diesem System konnten umfangreiche Steuersysteme aufgebaut werden. Es ging aber auch um die Speicherkapazität und die Rechengeschwindigkeit. Bei reinen Rechenaufgaben waren wir schon zufrieden, wenn die Aufgabe überhaupt geschafft werden konnte. Man musste eben warten. Für die Berechnung der Fehler eines allerdings sehr schwierigen Zahnrads benötigte der KSR 4100 mehrere Stunden, aber es funktionierte!

Die Kapazität des Hauptspeichers war lächerlich gering. Da halfen nur externe Speicher. Festplatten wären das Beste gewesen, aber als Importware ein kostbares Gut. Selbst Floppy-Disk-Laufwerke für 5¼ Zoll-Disketten waren ein Problem. Wir mussten bulgarische (!) Laufwerke einsetzen, die äußerst störanfällig waren. Standard waren die BASF-Laufwerke, aber selbst die paar Hundert DM für den NSW-Import waren kritisch.

Was soll das nachträgliche Gejammere? Das RFP-DP2 entstand und wurde 1983 in Wolfsburg in Betrieb genommen - ohne meine Anwesenheit, aber darauf komme ich später zurück. In der Folge wurden dann über 10 RFP-DP2-Geräte geliefert.

Ein Thema habe ich noch nicht behandelt, und das ist der rein kommerzielle Erfolg der Jenaer Planetarien. „Es muss sich rechnen!" ist das Schlagwort der auf uns gekommenen Marktwirtschaft. Wenn es schlimm kommt, dann heißt es gar: „Das rechnet sich nicht!" Am allerschlimmsten ist es, wenn dieses Urteil von sogenannten Unternehmensberatern ausgesprochen wird, die eigentlich vom Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Darüber kann Wilfried Lang ein Lied singen, aber das soll er selbst tun.

Unsere Position sah so aus: Wir hatten seit Mitte der 60er Jahre mit unserem Großplanetarium, unserem Raumflug-Planetarium und unserem Kleinplanetarium drei gute Produkte mit hohem Bekanntheitsgrad und großer Marktakzeptanz, die wir laufend weiterentwickelten, mit denen wir einen großen Marktsektor besetzten. Das trug nicht unerheblich zur Wertschätzung der Marke „Carl Zeiss Jena" bei. Reichte das in der sozialistischen Planwirtschaft? Natürlich nicht! Bei uns hieß das zwar nicht Gewinnoptimierung, aber eine Nutzensrechnung musste Jeder vorweisen: Das fing mit dem FE-Aufwand an und endete normalerweise beim Preis, der nach strengen Regeln ermittelt wurde. Dieser Preis spielte natürlich eine Rolle, wenn das Produkt exportiert werden sollte, und der Außenhandel war angehalten, einen maximalen Devisenerlös zu erzielen. Eine Richtschnur war nicht etwa der aus einem vorgegebenen Wechselkurs errechnete Devisen-Preis, sondern der Marktwert des Produktes. Übrigens hatte Zeiss während der Inflation nach dem 1. Weltkrieg einen Ausverkauf seiner Produkte bei ständig sinkendem Reichsmark-Wert dadurch verhindert, dass im Export mit Valuta bezahlt werden musste.

Es spielten natürlich auch handelspoltische Aspekte eine Rolle, dann mussten oft Diskriminierungen durch niedrige Preise kompensiert werden. Damit nun der Betrieb bei ungünstigen Martkbedingungen keinen übermäßigen Schaden erleidet, gab es sogenannte Richtungskoeffizienten, verschieden für verschiedene Märkte. Für den, der das entweder vergessen oder nie gekannt hat, eine einfache Rechnung: Das Produkt hat einen DDR-Industrieabgabepreis von 1000 MDN (Mark der Deutschen Notenbank), das kann er für 500 DM nach der BRD verkaufen. Also 500 MDN Verlust, da MDN = DM gerechnet wird. Nun kommt der Richtungskoeffizient, sagen wir 2,5, und schon wird anstelle der 500 MDN ein Erlös von 1250 MDN erzielt. Es gab natürlich Richtwerte für die verschiedensten Exportartikel, manches wurde regelrecht verschleudert, um an die kostbaren Devisen zu gelangen.

Einer der Gründe dafür, dass die Planetarien ihre Existenzberechtigung in der Planwirtschaft behaupten konnten, war die gute Devisenrentabilität, begünstigt durch die kontinuierliche Fertigung durch erfahrene Fachleute, durch kompetente Spezialisten von der Entwicklung bis zum Kundendienst. In gewisser Weise half uns auch Oberkochen dabei, denn durch die dort ständig steigenden Preise hatten wir auch eine Möglichkeit, bessere Erlöse zu erzielen (siehe Baghdad). Das hat wohl auch dazu beigetragen, dass nach 1976 unter dem GD Biermann auch das Großplanetarium wieder eine Chance bekam.

Dazu gehörte die Rekonstruktion des Jenaer Planetariums, das im April 1969 ein neues Vorführgerät vom Typ der kanadischen Planetarien erhalten hatte. Das bisherige „Arbeitspferd", das vielfach und vielseitig modernisierte Gerät von 1926, ersetzte das in Brüssel durch Vandalismus zerstörte Vorkriegsgerät.

Es war klar, dass das Jenaer Planetarium nicht mehr so weiter betrieben werden konnte. Auch als „Ehrenamtlicher Leiter" konnte ich lediglich Ideen entwickeln und Anregungen geben.

Die Hauptlast auf den Vortragenden, die häufig aufeinanderfolgende Wiederholung der Vorträge, war durch Tonband-Unterstützung etwas erleichtert, aber es gehörte mehr dazu. Schließlich sollte das Jenaer Planetarium auch vorführtechnisch für andere Planetarien beispielgebend sein.

Der Diplom-Physiker Jochen Rose, ein Raumfahrt-Enthusiast, erhielt die Chance, diese Aufgabe zu realisieren, und es geschah eine Menge unter seiner Regie. Inzwischen hatte ja auch die Zeit der vielen Medien begonnen: HiFi-Technik für die Tonübertragung vom großen Tonstudio angefangen bis zu leistungsfähigen Verstärkern und Lautsprecher. Na, das kannten wir ja von Kanada, siehe Toronto, aber bis es in die DDR kam! Dann die Multivisions-Technik mit den klapprigen, störanfälligen Pentacon-Diaprojektoren. Schließlich sogar die „handgestrickte" Lasertechnik und eigentlich auch die Videotechnik.

Da bin ich einmal, wie schon öfter, in einen politischen Fettnapf getreten. Ich hatte allen Ernstes vorgeschlagen, im Jenaer Planetarium eine Fernsehanlage mit Videorecorder und mit West-Empfang zu installieren, um aktuelle Bildsequenzen auch aus der amerikanischen Raumfahrt aufnehmen und verwenden zu können. Gab das einen Krach!

Der entscheidende Anstoß für eine neue Generation Großplanetarien kam wieder aus Kanada und diesmal aus Edmonton. Dort gab es schon seit langer Zeit ein kleines Queen Elizabeth II.-Planetarium mit einem Spitz-Projektor. Ich wusste das von einem meiner Aufenthalte in Calagary, wo ich zufällig in der Zeitung eine Annonce las. Man suchte einen Direktor für dieses Planetarium und bot ein Jahresgehalt von 12.000 kanad. Dollar. Eigentlich verlockend für mich: Wenn ich die Stelle bekäme, könnte ich sicher vom halben Gehalt leben, vielleicht dazu noch einige Nebenverdienste. Die übrigen Dollar würden über Westdeutschland und den Schwindelkurs viel, viel mehr Geld für meine Frau und meine Familie sein, als ich je bei Zeiss verdienen würde. Da ich aber meine Familie liebte, vergaß ich schnell diese Verlockung.

Risty Perotto berichtete, da gäbe es in Edmonton einen gewissen John Hault, der ziemlich verrückte Ideen für eine grandiose Planetariumsanlage hatte, und offenbar hatte er auch Chancen für die Realisierung des Projekts. Risty Perotto hatte während eines Essens mit John Hault darüber gesprochen, und er zeigte uns eine Papierserviette, auf der unser neuer prospektiver Kunde seine Ideen skizziert hatte. Nicht schlecht! Wir wollten schon immer eine Planetariumsanlage neuen Typus kreieren oder wenigstens mit auf den Weg bringen.

John Hault kam nach Jena, und die Verhandlungen begannen. Im Rahmen des obligatorischen Betreuungsprogramms gab es auch einen Ausflug nach Suhl zur Schulsternwarte und dem Planetarium des rührigen Lehrers Rolf Henkel. Dort lernte er dessen Tochter kennen, die er später heiratete.

Viel Zeit für Planetarien hatte ich damals nicht, denn ich war, wie schon erwähnt, wegen des irakischen Teleskop-Projekts Ende 1977/Anfang 1978 längere Zeit im Irak. Immerhin unternahm ich mit Reinhard Hamatschek im Januar 1978 eine Reise nach Kuweit, weil dort ein Planetariumsprojekt lief. Die Zeiss-Vertretung dort, die Firma Alghany, hatte einigen Einfluss, aber wir erfuhren, dass offenbar ein französischer Architekt aus Paris die Schlüsselfigur war. Wir mussten mit ihm Kontakt aufnehmen und erreichen, dass er unser Raumflug-Planetarium in sein Projekt einpasste.

Das Kuweit-Planetariumsprojekt lief eigentlich, wie viele andere Projekte, schon viel länger. Ich erinnerte mich daran, dass im Jahre 1965 ein ehemaliger technischer Kaufmann von Zeiss, der in Kuweit tätig war, an der großen Astroveranstaltung auf dem Fuchsturm teilnahm. Er erzählte von den märchenhaften Lebensbedingungen der Kuweitis, weil ihr Land vom Ölreichtum profitierte.

Ewig würden diese Vorräte nicht reichen, auch das daraus akkumulierte Kapital. Was es aber auch im Überfluss gab, war die Sonneneinstrahlung. So sinnierten wir, ob wir daraus nicht etwas Attraktives für das künftige Kuweit-Planetarium machen könnten. Wie wäre es, wenn man mit einer photovoltaischen Anlage Strom gewinnen würde, mit dem man - bescheidenerweise und mehr beispielhaft - die Fixsternlampen des Planetariums speist? Nach dem Slogan: „Sternenlicht aus Sonnenenergie!" Wir waren begeistert, auch wenn wir nicht wussten, wie wir in der DDR eine solche Anlage entwickeln könnten. Als ich nach unserer Rückkehr diese Idee dem GD Biermann vortrug, handelte ich mir einen gewaltigen Rüffel ein. Ich sollte mich um meine eigentliche Aufgabe kümmern und nicht so herumspinnen! Dabei hatte er kurz zuvor uns beide mit einer Prämie ausgezeichnet, weil wir einen Irak-Vertrag mitgebracht hatten.

Im November 1978 reiste ich mit Claus Bergner nach Paris, und wir suchten den Architekten auf. Er hatte eigentlich gar keine Lust oder Interesse, sich mit uns zu unterhalten. Wir hatten aber aus Kuweit einige Entwürfe für die Kuppelgestaltung erhalten und konnten ihn auf eine ganze Reihe von Fehlern aufmerksam machen. Wir nannten die Punkte natürlich nicht so brutal Fehler, es waren freundliche Ratschläge, die er sich dann auch anhörte. In der Folge kam es dann zu einer friedlichen Koexistenz mit ihm. Gertrud Schille wurde mit eingeschaltet, und es ging auch um einen repräsentativen Ausstellungsraum. Das Gerät wurde 1986 in Betrieb genommen und 1991 im Golfkrieg zerstört.

Der Rüffel von Biermann sollte für mich im Herbst 1979 zu einem Kinnhaken werden, mit dem er, oder soll ich sagen „man", mich zu Boden schlagen wollte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam der Bannstrahl: „Beck wird wegen mangelnder sozialistischer Leitungstätigkeit von seiner Funktion abgelöst und als Reisekader für NSW und SW gestrichen!" Man ließ auf Grund meiner fachlichen Fähigkeiten Gnade walten, und ich durfte wieder Abteilungsleiter für das Astrolabor sein.

Dort übernahm ich dann die Aufgabe als Themenverantwortlicher für das neue Großplanetarium, das ich COSMORAMA taufte. Die Zielstellung war uns klar: Es musste alle unsere bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Planetarien vereinigen und zwar in optimaler Form, weil wir das Gerät völlig neu konstruierten. Inzwischen war auch die Rechentechnik weiterentwickelt, aber wir kamen trotzdem in Schwierigkeiten, weil wir keinen Zugriff auf die westliche Technik hatten.

Nehmen wir nur das Beispiel der Steuerung der Motoren. Heute kann jeder Youngster mit seinem Lego- oder Fischer-Baukasten einen Roboter konstruieren, dank der Verfügbarkeit von Schrittmotoren. Im RFP hatten wir Schlitzscheiben mit den Motoren oder Getrieben gekoppelt, die uns die Rückmeldung über die Position gaben. Heute kann man diese Rückmeldungen über Funk oder Infrarot realisieren, damals ging es nur über die Schleifringe. Schleifringe zur Energieübertragung waren keine Kunst, wir wollten aber Datenübertragen. Von paketweisem Transport von Daten wussten damals nur wenige. Wir hätten sozusagen das Internet erfinden müssen. So verhandelte ich mit dem VEB Elektrokohle Lichtenberg über eine Sonderentwicklung von Schleifkohle mit Silberanteil, um die gewünschten Eigenschaften zu erzielen.

Natürlich taten wir auch etwas für den Sternhimmel, nicht viel, aber das Gerät erhielt die schon erwähnten Sonderprojektoren für die hellsten Fixsterne. Dann wurden Zoom-Projektoren für Sonne, Mond und Jupiter geschaffen und vieles andere mehr. Die Spezifikation war eindeutig dem Modell VI von Oberkochen überlegen und wurde so von Edmonton anerkannt, wohin das erste COSMORAMA geliefert wurde.

Zu dieser Zeit hatte ich aber den Staffelstab, ohne ihn fallen zu lassen, abgegeben. Ab April 1983 war ich der „größte" Optiker von Zeiss und kümmerte mich um die mir angemessen großen Teleskop-Optiken bis zu 2 m Durchmesser.

Eine Sache hatte ich vorher noch angestoßen: Die Steigerung der Lichtausbeute im Fixsternprojektor durch neuartige physikalische Prinzipien. Ich hatte fast gebetsmühlenartig immer wieder auf diese Problematik hingewiesen. Eine Leistungssteigerung durch leistungsfähigere Glühlampen erschien uns unsinnig. Nirgendwo war dieses Problem interessant.

Wo kannten wir uns aus? Auf dem Gebiet der Fabry-Perot-Interferometer (FPI)! Wie wäre es, wenn wir zwischen Kondensor und Fixsternplatte ein Fabry-Perot-Etalon einschalten würden, das aber nur mit einem Teil seines Wirkprinzips für unser Ziel tätig sein sollte. Im FPI-Etalon entsteht eine vielfache Reflexionsfolge. Wenn wir jetzt bei dem vorderen, sonst teildurchlässigen, Spiegel einerseits den Reflexionsgrad erhöhen, andererseits in den Spiegel die „Fixsternlöcher" einbringen, dann müsste es gelingen, mehr Licht durch die Löcher zu bringen. Die Idee erschien gut, obwohl sie am Anfang eher einer Schnapsidee entsprach. Ein Versuch zeigte aber ein positives Ergebnis, nicht weltbewegend, aber immerhin. Es war vielleicht erst der Beginn einer stürmischen Entwicklung.

Nun musste aber die gesamte Optik des Fixsternprojektors neu berechnet werden. Mit Sicherheit war sie wesentlich komplizierter als bisher. Vorsichtshalber probierter wir die Sache für das Klein-Planetarium aus. Wenn wir dort das Gerät für größere Kuppeln anbieten könnten, hätten wir auch etwas gewonnen. Ein Muster wurde erprobt und es funktionierte. Mehr weiß ich nicht! Ich weiß auch nicht, ob mein fortwährender Anstoß etwas zu der Superidee mit der Glasfaerprojektion beigetragen hat. Einen kleinen Dienst konnte später mein Mitarbeiter Helmut Wegel, ein sehr tüchtiger Optiker, meinen früheren Kollegen erweisen: Er polierte die Glasfaser-Köpfe der neuen Fixstern-Anordnungen, jeweils Flächen von Bruchteilen von Quadratmillimetern, während er sonst Quadratmeter große Flächen bearbeitete.

Als das COSMORAMA im Jahre 1985 im Jenaer Planetarium das UPP 23 aus dem Jahre 1969 ersetzte, wurde es von der Zeiss-Stiftung Jena zunächst im Volkshauskeller eingelagert. Es gab offenbar auch keinen Kunden dafür. Gemeinsam mit Jochen Rose entwickelte ich die Idee eines permanenten „Planetariumsdenkmals".

Im Optischen Museum war kein Platz für das gesamte Gerät. So konzipierte ich eine „Installation", die auf dem Freiplatz vor dem Volkshaus Aufstellung finden sollte. Mir erschien es wichtig, dass das Gerät auch über einen längeren Zeitraum lebendig bleiben sollte, es sollte sich bewegen können. Dazu müsste es geschützt sein, es war ja kein Panzer, den man einfach auf einen Sockel hieven und dort für eine längere Zeit belassen könnte. Als Einhausung schlug ich eine Gitternetzkugel vor, ähnlich dem Globusgradnetz mit entsprechenden Fensterelementen. Mit einer geeigneten Antriebstechnik und Steuerung sollte sich das Gerät immer wieder bewegen und so beweglich bleiben. Im Sommer war das kein so großes Problem, im Winter würden die Motoren, evtl. auch die Lampen für die notwendige Heizung sorgen. Ich erhielt sogar ein Honorar für meinen Vorschlag, aber irgendwie blieb die Idee stecken. Ja, wenn wir damals schon die Goethe-Galerie gehabt hätten, dann stünden jetzt zwei Planetarien dort!!

Zum Schluss ein trauriger Abgesang: Je besser die Darstellung des Fixsternhimmels wurde, umso schlechter wurden meine Augen. Abgesehen von der Verschlechterung der Sehfähigkeit hat offenbar auch die Lichtempfindlichkeit erheblich abgenommen. Bei der Eröffnungsvorführung 1996 des UNIVERSARIUMS im Jenaer Planetarium fragte mich Dr. Meier: „Nun Herr Beck, wie gefällt Ihnen unser neuer Sternenhimmel?" „Lieber Dr. Meier! Ich weiß, dass es der Beste überhaupt ist, aber nach meinem Augenschein entspricht er dem des Spitz-Modell B des Jahre 1959. Herzlichen Glückwunsch allen Ihren Kollegen, die das so hervorragend geschafft haben!"

Warum habe ich dies geschrieben? Sieht wie eine Selbstbeweihräucherung aus! Wer von den heute aktiven Mitarbeitern des Planetariumsbereiches hat Zeit für solche Geschichten, an denen er ja selbst und oft sehr aktiv beteiligt war? Und wer weiß noch etwas, was man nicht in den Akten findet, wenn sie überhaupt noch vorhanden sind? Fritz Pfau hat seine Geschichte aufgeschrieben, ohne nach einem Nutzen selbst zu fragen. Jetzt ist sie eine wertvolle Quelle, auch ohne fachgerechte Zitate irgendwelcher Originalquellen. Ich werde meine Geschichte jedem Interessenten zur Verfügung stellen, denn eine spannende Zeit war es doch. „Was lernen wir daraus, Genossen?" wurde früher gefragt. „Ja, was lernen wir daraus?"

„Per aspera ad astra!"

„Größen" dieser Welt und ich

„Ich han der Lande viel gesehen!" So sagte, wenn ich mich recht erinnere, Walther von der Vogelweide, aber das nur als Zitat zu Beginn dieses Kapitels. Zu diesem Thema habe ich die Beiträge von meinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Weßlau den Memoiren beigefügt, die er mir zu meinen Berufsjubiläen 1979 und 1994 zugedacht hatte. Überall kann man etwas erleben, und ich hatte reichlich Gelegenheit dazu während meiner Tätigkeit für Zeiss von 1954 bis 1994.

Mein Vater erzählte einmal eine Geschichte aus Schleusingen, seiner Heimatstadt. Dort wäre eines Tages auch Adolf Hitler, der „Führer", gewesen, vielleicht nur auf der Durchfahrt. Jedenfalls musste sein Chauffeur an einer Tankstelle halten, um Benzin nachzufüllen. Hitler, in seiner bekannten, mehr gespielten als echten Leutseligkeit, bedankte sich mit Handschlag bei dem Inhaber der Tankstelle, möglicherweise auch für eine kostenlose Tankfüllung. Dieser habe mehrere Tage lang seine Hände nicht gewaschen, so war er gerührt!

Mit Nazigrößen kam ich nicht in „Berührung", niemand strich mir als Pimpf über die Haare, was ich überhaupt nicht bedauerte. Allerdings kam ich als Pimpf, soweit ich mich erinnere, war es im Sommer 1940, in Sichtweite des japanischen Außenministers Matsuoka. Wir waren zum Saalfelder Bahnhof bestellt und sollten dort Spalier stehen. Der Sonderzug war auf dem Wege von München nach Berlin, auf der vollständig elektrifzierten Strecke, und würde in Saalfeld kurz halten. Es wurde uns aufgetragen, die begeisterte Menge zu spielen und immer wieder ein japanisches Wort zu rufen. Wie es geschrieben wurde, wussten wir nicht. Gesprochen klang es so wie "Bonze" oder „Banze". Mit Banze konnten wir nichts anfangen, also riefen wir, etwas irritiert, „Bonze", „Bonze", Bonze"! Was ein Bonze war, wussten wir, aber nicht, dass „Banzei!" der japanische Wunsch war, der Angerufene möge hundert oder gar tausend Jahre leben!

Aber anderen „Größen" begegnete ich, mit unterschiedlichen Eindrücken. Vielleicht interessiert dies den geneigten Leser und amüsiert ihn sogar.

Während meiner Oberschulzeit in Saalfeld war ich aktiv in der FDJ tätig, die ich in Saalfeld mit begründet habe. Meine Erlebnisse zu Kriegsende im Gefangenenlager brachten mich zu dem Entschluss, mit dazu beizutragen, dass der Wiederaufbau vorangeht und demokratische Strukturen auch in der Jugend Chancen zu einer Entwicklung haben. Als ich mich dann in Jena um meine Zulassung zum Studium bemühte, kam ich in Kontakt mit der Betriebsgewerkschaftsleitung der Universität. Ich gründete eine Jugendgruppe der Gewerkschaft, obwohl es so etwas statutenmäßig überhaupt nicht gab. Nach einiger Zeit wandelten wir uns in eine FDJ-Gruppe der Angestellten und Arbeiter der Universität um. Diese meine Aktivität war eine der wichtigsten meines Lebens, denn bei dieser Gelegenheit lernte ich im Universitäts-Kindergarten in der Knebelstraße 2 eine Praktikantin namens Ingeborg Arndt kennen, die meine spätere Frau wurde.

Ein kleiner Zeitsprung rückwärts: Im Oktober 1949 hatte ich endlich, nach Intervention einiger Professoren, gemeinsam mit anderen zunächst benachteiligten Studienanwärtern die Zulassung zum Studium erhalten. Ich war für Physik immatrikuliert, und im Großen Hörsaal des Physikalischen Instituts, dem alten großen Hörsaal, hatten wir Experimentalphysik bei Professor Kersten, dem späteren Präsidenten der Physikalischen Bundesanstalt in Braunschweig. In diesem Hörsaal stellte sich kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck den Studenten vor und hielt eine Rede mit dem üblichen Inhalt. Wir waren aber durchaus positiv gestimmt, welche Aufmerksamkeit die Regierung der DDR mit ihrem ersten Mann an der Spitze den Studenten schenkte. Wenn ich mich recht erinnere, saß ich auf meinem Stammplatz in der obersten Reihe!

Zurück zu meiner gesellschaftlichen Tätigkeit neben meinem Studium. Es gab damals etwa 40 bis 50 Jugendliche, aus allen Berufen, die an der Universität beschäftigt waren, teils noch in der Ausbildung, teils schon im Beruf tätig. Wir entwickelten, früher als andere, ein sogenanntes „Fröhliches Jugendleben" und hatten einen Chor und eine Volkstanzgruppe. Mit etwa hundert Jugendlichen nahmen wir an den Weltjugendfestspielen in Berlin teil, wo wir in einer großen Demonstration an den „Größen" der DDR vorbeizogen. Berlin lag zwar noch in den Trümmern, aber das Zusammentreffen mit vielen Jugendlichen anderer Länder beeindruckte uns sehr.

Von September 1955 bis Januar 1956 war ich in Indien, zumeist in Neu Delhi, anlässlich der Indian Industries Fair, einer großen internationalen Ausstellung. Dort baute ich, wie in einem anderen Kapitel ausführlich geschildert, ein Zeiss-Kleinplanetarium auf und führte es dem staunenden Publikum vor. Zur Eröffnung kam der indische Ministerpräsident Jawarhallal Nehru auch in den DDR-Pavillon, denn das Kleinplanetarium sollte als Geschenk für die indische Regierung übergeben werden. Ich musste dafür einen Vortrag in englischer Sprache halten, der eigentlich 10 Minuten dauern sollte. Es wurden aber nur etwa drei Minuten, denn die Zeit bei solchen Gelegenheiten ist immer knapp. Ich machte meine Sache so gut, wie es eben ging. Zum Dank bekam ich auch einen Händedruck, was zur Freude meiner Mutter von den Kameras der Wochenschau aufgenommen wurde. So konnte sie ihren Sohn „bewundern", für den die Astronomie nicht eine brotlose Kunst geworden war. Während der Ausstellung kamen noch zahlreiche „Größen", Abgeordnete, Minister, Ministerpräsidenten, der Staatspräsident, der König und die Königin von Nepal. Aber Nehru war natürlich, auch von seiner internationalen Bedeutung her, die am meisten beeindruckende Persönlichkeit.

Die nächste große Gelegenheit war 1967, am 7. Oktober, dem Nationalfeiertag der DDR. Mir und meinen Kollegen Jensch, Steinbach, Pfaff, Grimm und Carl stand eine große Ehre bevor, wir sollten mit dem Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik ausgezeichnet werden. Dazu gab es eine Geldprämie, in unserem Fall wurden 50.000 Mark aufgeteilt. Jedes Jahr war man gespannt, „wen es wieder getroffen hatte". Darüber will ich mich nicht viel auslassen, aber es gab einen Witz, den ich schon vor unserer Auszeichnung für Verdienste um die erfolgreiche Entwicklung der Astrotechnik bei Zeiss und Schott kannte. Da trifft ein Wissenschaftler seinen Kollegen, der mit dem Nationalpreis ausgezeichnet wurde, und gratuliert ihm dazu. Der bedankt sich dafür und bemerkt: „Das Geld, das Geld, das ist ja ganz schön „ Aber die Schande, die Schande!"

Die Auswahlkriterien waren ziemlich durchsichtig, man musste auch ein bißchen Glück haben. Für Zeiss gab es fast jedes Jahr einen Nationalpreis, manchmal im Kollektiv, manchmal auch als Einzelauszeichnung. Wenn in einem Jahr mehrere bedeutende oder bedeutend erscheinende Entwicklung das Interesse der Öffentlichkeit erregten, dann hatte die volkswirtschaftlich oder politisch wichtigere Entwicklung bessere Chancen. Bei uns war im August 1967 das 2-m-Teleskop in der ČSSR übergeben worden, das dritte 2-m-Teleskop von Zeiss nach Tautenburg und Schemacha/Aserbeidschan. Auch das von Steinbach maßgeblich gestaltete Satellitenteleskop hatte internationale Anerkennung gefunden.

Zur feierlichen Übergabe der Nationalpreise durch Walter Ulbricht waren wir am Vormittag ins Staatsratsgebäude geladen und befanden uns in einem illustren Kreise. Es ging alles nach einem strengen Protokoll vor sich. Wenn es nicht die offiziellen Fotos gegeben hätte, wäre mir wenig in Erinnerung, schließlich ist man auch ein wenig aufgeregt dabei. Anders war es beim Staatsempfang am Abend, der ebenfalls im Staatsratsgebäude stattfand. Dort waren in zwei großen Sälen eine große Anzahl von „Größen" der verschiedensten Art und Profession versammelt. Wir waren in den einen der Säle verwiesen worden, in dem sich nur „Publikum" befand. Es war eine „ständige" Gesellschaft, denn es gab kaum Sitzgelegenheiten. Das fiel mir besonders auf, als ich Anna Seghers, die berühmte Schriftstellerin sah, die ebenfalls mit dem Nationalpreis ausgezeichnet worden war. Die schon betagte, gebrechlich wirkende Frau musste ebenso wie wir stehend eine längere Rede von Ulbricht zum Rolle und Bedeutung des Nationalfeiertags der DDR über sich ergehen lassen, die über Lautsprecher übertragen wurde.

Aber auch die längste Rede hat einmal ein Ende, und es wurde zum Sturm auf das kalte Büfett aufgerufen, das im anderen Saal aufgebaut war. Man konnte sich mit den Köstlichkeiten von Speis´ und Trank versorgen und wieder in seinen Saal zurückkehren, um dann wieder Nachschub zu holen. Wir blieben aber, von der Neugierde getrieben, wer da so alles von den großen „Größen" zu sehen und zu hören war.

Übrigens waren auch unsere Ehefrauen eingeladen, die es sich ebenfalls gut gehen ließen. Im Saal der besonders Auserwählten waren natürlich Tische aufgestellt, im Raum verteilt, wo man Teller und Gläser abstellen konnte. Es gab aber auch eine lange Tischreihe, hinter denen die ganz Großen aufgereiht waren und huldvoll mit dem Volk konversierten. Frau Carl, eine attraktive, wenn nicht sogar „reizende" Frau, hatte schon einen kleine Schwips, wir übrigens auch. Das führte dazu, dass sie keinerlei Hemmungen mehr hatte, intensiv mit dem Oberkommandierenden der Sowjetischen Streitkräfte heftig zu flirten, der neben dem Vorsitzenden des FDGB stand, Herbert Warnke, wenn ich mich nicht täusche. Der war um ein Gespräch mit dem Russen bemüht, das aber immer wieder infolge des Flirts unterbrochen wurde. Wir erlösten dann beide, weil wir der Meinung waren, dass Frau Carl auf dem besten Wege war, die offizielle Deutsch-Sowjetische Freundschaft zu stören.

An der Seite saß Lotte Ulbricht an einem Tisch, auf dem ein Rosenstrauß stand, dessen Rosen allerdings aus Marzipan geformt waren. Sie gestattete uns, einige der Rosen zu stibitzen. Während wir reichlich den Genüssen zusprachen, fielen uns einige jüngere Herren auf, die nur so herumstanden und weder etwas aßen noch tranken. Bald war uns klar, von welcher Firma sie waren. In meiner angeheiterten Laune versicherte ich ihnen mein Mitgefühl, dass sie ein hartes Brot hätten.

Übrigens hatte ich 1955 in Neu Delhi Chrustschow und Bulganin zu Gesicht bekommen, aber nur aus einer Entfernung von etwa 20 Metern, als sie mit der sowjetischen Regierungsdelegation die Indian Industries Fair besuchten. Im Sommer 1958 ging es mir ähnlich mit dem ehemaligen sowjetischen Außenminister Molotow. Er war in der UN bekannt geworden, weil er mit seinen „Njet!" manchem Beschluss des Sicherheitsrates das Veto der UdSSR entgegensetzte. Molotow war inzwischen in Ungnade gefallen und als Botschafter der UdSSR in der Mongolei quasi in die Wüste bzw. in die mongolische Steppe geschickt worden war. Wir besuchten damals mit unseren Gastgebern von der Sternwarte Ulan Bator eine Opernaufführung, in der Molotow, nicht weit von uns entfernt in einer Loge sitzend, ebenfalls den Kunstgenuss aufnahm.

Im Sommer 1967 sollte ich aber mit einem damals starken Mann in der UdSSR direkt in Berührung kommen. Leonid Breshnew, Generalsekretär der KPdSU, kam zu einem Staatsbesuch und als Staatsgast zum Parteitag der SED in die DDR, angeblich auch, aber das wussten nur wenige, um die ein wenig zu selbständig gewordene Führung der DDR wieder auf „Vordermann" zu bringen.

Eine Hauptaufgabe der notwendigen Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und DDR war der Aufbau einer leistungsfähigen Elektronikindustrie, um mit der westlichen Welt einigermaßen Schritt halten zu können. Der Nachfolger von Hugo Schrade, der Generaldirektor Ernst Gallerach, hatte dazu auf dem Parteitag die Prognose von Zeiss vorgelegt. So stand auch ein Besuch bei Zeiss auf dem Programm mit der Vorführung moderner mit Elektronik oder wenigstens hochgradig mit Elektrik ausgestatteter Geräten. Dazu gehörte auch das ASCORECORD, das mit Registrierautomatik ausgestattete Koordinatenmessgerät der Erzeugnisgruppe Astro. Mit diesem Gerät hatten wir 1964 auf internationalen Ausstellungen in Hamburg und Lissabon großen Erfolg gehabt, und inzwischen lief auch die Serienfertigung. Ich war dazu ausersehen, das Gerät vorzuführen und zu erklären. Es wurde dazu im Kundendienstraum der Erzeugnisgruppe Bildmess im 1. Stock des Forschungsgebäudes, Bau 59, der auf der Nordseite liegt, aufgebaut. Für Bildmess war der Konstruktionsleiter von Bildmess, Wilfried Müller, eingesetzt.

Mein Mitarbeiter Günter Fehlkamm hatte das ASCORECORD in Betrieb genommen und versicherte, alles sei in Ordnung. Ich wusste, dass für die Vorführung nicht viel Zeit zur Verfügung stand, trotzdem wollte ich die Pointen richtig setzen. Beim ersten Modell des ASCORECORD hatten wir einen großen Geräteschrank, in dessen oberen Teil eine Großsichtanzeige der Koordinaten eingebaut war. Eigentlich war eine solche Anzeige überflüssig, denn die Koordinaten sollten ja mit einer Schreibmaschine und einem Lochstreifenstanzer registriert werden. Sie hatte eher eine moralische Wirkung, denn in der ersten Zeit der Anwendung der Elektronik war mancher Kunde skeptisch, ob denn die Elektronik auch zuverlässig arbeiten würde.

Ich wollte nun demonstrieren, dass die Koordinatenanzeige am Schrank mit der von der Schreibmaschine registrierten Zahlenfolge übereinstimmt. Als ich das aber selbst ausprobieren wollte, gab die Schreibmaschine nur ein müdes Stottern von sich. Mein Schreck war groß, diesen Effekt kannte ich nicht. Wo steckt bloß der Fehlkamm, wir hatten nur noch 30 Minuten Zeit. Zu meinem Glück entdeckte ich ihn inmitten der Zeissianer, die unterhalb des Kundendienstraumes Spalier stehen mussten. Auf meinen Zuruf kam er auch durch die Absperrung, nachdem ich meine Not geschildert hatte. Es war noch weniger Zeit für eine Standpauke, also, was ist da los? Ohne jede Aufregung erklärte er, das wäre nur eine Kleinigkeit, ein Defekt der Schreibmaschine, der sei leicht behoben. Die in Sömmerda bei ROBOTRON gefertigte elektrische Schreibmaschine gehörte eigentlich zu einem Buchungsautomaten und hätte zuverlässig sein müssen. Ein wesentliches Bauelement war eine von einem Elektromotor angetriebene Walze, die dauernd lief, an die nach Tastendruck oder mittels elektrischen Kontakts die jeweilige Taste gekoppelt wurde. Für die Verbindung zwischen Motorwelle und Walze sorgte ein Profilriemen, und der war abgesprungen. Also Gehäuse auf, ein wenig am Riemen gezogen, fertig!

So weit so gut! Eine Probe verlief ohne Störung, also Fehlkamm wieder raus! Nun stand ich vor einer schweren Entscheidung und ich beriet mich dazu mit Wilfried Müller, den ich nicht zum Bezeugen anrufen kann, weil er mittlerweile leider schon verstorben ist. Soll ich es noch einmal probieren? Aber, auch wenn es noch einmal funktioniert, bin ich nicht sicher, dass es bei der wirklichen Vorführung funktioniert. Irgendwie musste ich mir die Vorführung so ausdenken, dass ich eine eventuelle Panne überspielen konnte.

Ich wagte eine erneute Probe, alles funktionierte, und der Messwert war auf einem neuen Blatt Papier registriert. Den Einstellpunkt merkte ich mir, und ich wollte ihn, auch mit Hilfe der Großanzeige, wieder finden. Die Demonstration ging ja nur darum, dass der Wert der Großanzeige auf dem Blatt Papier erschien.

Schließlich kam Breshnew mit seinem Gefolge. Von Zeiss war als Vertreter des Forschungsbereiches Hans-Joachim Pohl anwesend. Zuerst hatte Wilfried Müller seinen Auftritt und alles klappte gut, er brauchte ja auch nicht solche riskanten Sachen vorführen. Dann begann ich meine Vorführung, erklärte kurz das Gerät, bewegte den Plattenwagen (stellte ihn auf den vorgesehen Punkt) und drückte auf die Registriertaste. Wieder kam nur das Stottern der Schreibmaschine, der Wagen bewegte sich als einziges, keine Taste! Geistesgegenwärtig, wie innerlich trainiert, holte ich mit Hilfe des Schnellauswurfhebels das Blatt Papier aus der Maschine und zeigte stolz das Ergebnis: Anzeige und Registrierung stimmten bis auf das Zehntel Mikrometer überein! Kolossal! So eine Leistung muss belohnt werden, mit einem Händedruck des gewaltigen Mannes!

Dann ging die Delegation vom Forschungsgebäude über die danach so benannte „Breshnew-Allee" zum Hochhaus am Carl-Zeiss-Platz. Der Verbindungsgang in der zweiten Etage, der durch die ältesten Teile des Werkes führte, war nämlich malermäßig zu einem Schmuckstück gemacht worden. Kaum einer der Offiziellen hatte unser Drama wahrgenommen, alles hatte geklappt, wir hatten eben ganz kunstvoll einen „Türken" gebaut.

Es waren immer wieder Delegationen im Zeisswerk, im Planetarium oder in Tautenburg, an die ich mich im Einzelnen überhaupt nicht mehr erinnere. Auch auf der Leipziger Messe gab es Gelegenheit, den „Größen" des Landes oder der Welt nahe oder wenigstens relativ nahe zu sein. Wann es war, weiß ich nicht mehr, aber es lässt sich datieren. Im sächsischen Steinkohlerevier hatte es ein schweres Unglück gegeben, bei dem mehrere Bergleute ums Leben gekommen waren. Das muss kurz vor einer Leipziger Messe gewesen sein, auf der ich das Klein-Planetarium vorzuführen hatte. Ich bekam Bescheid, dass der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, den Zeiss-Stand besichtigen werde und auch das Kleinplanetarium sehen wollte. Er kam nur mit einer kleinen Gruppe und nahm sich Zeit, alles in aller Ruhe erklärt zu bekommen, was mich etwas wunderte. Ich erfuhr später, dass er vor seinem Messebesuch am Unglücksort war und wahrscheinlich noch voll unter dem Eindruck des tragischen Geschehens diese Ruhe benötigte. Eine sehr menschliche Begegnung!

Wenn Erich Honecker die Messe besuchte, dann war höchste Alarmstufe. Er kam, wie üblich, am ersten Messetag, gelegentlich war die Farbe noch nicht trocken. Manchmal, vor allem in der Ära Biermann, mussten schnell noch Losungen ausgewechselt werden, und die Herren von Ordnung und Sicherheit waren allgegenwärtig.

Ein bemerkenswertes Erlebnis hatte ich mit dem Staatsratsvorsitzenden, das ich aus der Erinnerung ebenfalls nicht genau datieren kann. Es muss frühestens 1976 gewesen sein, denn Biermann kam erst 1975 zu Zeiss. Im Rahmen des obligatorischen Astronomie-Unterrichts in den Polytechnischen Oberschulen wurde ein neues Schulfernrohr benötigt, das wir 1970/71 entwickelt hatten. In der Folge hatten wir auf meine Anregung hin ein Baukastensystem für Schul- und Amateur-Fernrohre entwickelt, auf das wir eigentlich stolz waren. Der große Schlager war, die nach Mitrofanow angeregte Verwendung von Wiederholteilen oder modifizierbaren Grundteilen. Wir hatten außer dem hohen Wiederholteilgrad von bis zu 80% auch erhebliche Verbesserungen in der Materialökonomie erzielt. Z.B. hatten wir eine Okularsteckhülse, die vorher aus Messing gefertigt worden war, auf ein Kunststoffpressteil umgestellt, das nur noch 10% der ursprünglichen Kosten verursachte.

Also stand ich neben meinen Fernrohren, und schließlich kam ein großer Pulk, mit Honecker an der Spitze, auch der Ministerpräsident Will Stoph gehörte dazu. Es gab eine kleine Störung: Stoph begrüßte, gegen alles Protokoll, meine Kollegin Anita Pieritz, an die er sich von einer DDR-Ausstellung in Moskau her erinnerte. Es gab ein kleines Gespräch, das Honecker irritierte. Er löste sich von der Gruppe und kam zu mir, allein, ohne Begleitung. Ich holte tief Luft und sagte mein Sprüchlein auf. Ich kam aber nicht sehr weit. Honecker ging auf das Schulfernrohr TELEMENTOR, das auf einem Dreibeinstativ stand, zu, hob es hoch und stellte fest: „Viel zu schwer, viel zu schwer! In Japan sind die Fernrohre sehr viel leichter!" Mich stach der Hafer und ich wollte auf die notwendige Stabilität hinweisen, dazu kam ich aber nicht! Fort war er!

Ich ärgerte mich natürlich und erzählte es auch Frau Pieritz. Wir ließen es auf sich beruhen, aber eigentlich war das falsch. Wie erwähnt, waren Honecker und ich allein, ohne Ohrenzeugen. Dass wir ein Gespräch führten, war aber wahrgenommen worden. Ich hätte behaupten können, Honecker habe mich eindringlich auf die Vorzüge der japanischen Fernrohre aufmerksam gemacht und geraten, mich an Ort und Stelle davon zu überzeugen. Es wäre mit Gewissheit ein Dienstreiseauftrag für mich herausgekommen, vielleicht aber auch nicht!

Ende 1979 wurde ich „geerdet", wegen fortwährender Mängel in der sozialistischen Leitungstätigkeit. In meiner Tätigkeit im Optikbetrieb von 1983 bis 1994 hatte ich mehr Ruhe, es kamen nur noch die „Größen" von Oberkochen, um sich anzusehen, was aus der Konkursmasse brauchbar war.

Ein Teleskop-Projekt in  Kurdistan

Bei den meisten Berichten habe ich in der Überschrift die Formulierung „Wie ich ..." benutzt, weil es ja persönliche Memoiren sind, die ich zu Papier bringe. Im Fall Irak-Teleskop-Projekt sind es aber mehr kollektive Erlebnisse, und ich möchte die Ichbezogenheit zurückhalten.

Wie jede Geschichte hat auch diese eine Vorgeschichte, die ich noch nicht einmal genau datieren kann. Es muss so um 1963-65 gewesen sein, da gab es im Irak Interesse an einem Planetariumsprojekt. Das war nicht ungewöhnlich. Obwohl es sicher in Ländern wie dem Irak wichtigere Dinge gegeben hätte, war durch das begonnene Zeitalter der Weltraumforschung ein großer Drang nach aktueller Information für größere Bevölkerungskreise zu verspüren. Das Fernsehen war noch nicht so entwickelt, der Begriff Multimedia wahrscheinlich überhaupt noch nicht geprägt.

Es gab also Projekte in Indien, Indonesien, Kolumbien, Ägypten, Brasilien, um nur einige dieser Länder der dritten Welt zu erwähnen. Wenn man die Sache genauer betrachtete, war aber auch eine alte römische Taktik „Brot und Spiele" mit den Planetariums-Projekten verknüpft, manchmal sogar Korruption in Regierungskreisen, die sich hinter den redlichen Absichten der Verbesserung der Volksbildung versteckte. Es ist bekannt und verbürgt, dass sich an Sternwartenprojekten in Venezuela und sogar an dem ESO-Projekt in Chile zahlreiche lokale Politiker gesund gestoßen haben. Es spielte dann sogar eine große Rolle, wie umfangreich das Projekt war. Je höher die Investitionssumme, umso höher der Anteil an Schmiergeldern, eleganter Provisionen oder orientalisch Bakschisch genannt. Darauf komme ich noch zurück. Für den Irak gab es auch eine historische Beziehung, hatte doch die Astronomie im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris starke Wurzeln.

Im Irak gab es Öl, und Öl heißt Geld, man braucht nur den Hahn aufzudrehen und schon fließt es, schier unerschöpflich. Das Öl im Irak hatten die Engländer gefördert und den Gewinn eingesteckt. Nun gab es eine irakische Nationalregierung, und die Erdölquellen waren verstaatlicht. Kein Problem für die Finanzierung eines Planetariumsprojektes. Also gab es eine Anfrage von Seiten unserer irakischen Vertretung, und es wurde beschlossen, dass ich nach Bagdad reisen sollte, um die betreffenden Dienststellen von unserer Leistungsfähigkeit zu überzeugen.

Wie ich bald merkte, war unsere Vertretung, die Firma Hasso Marketing, bei diesen Stellen gut eingeführt. Eines der Hauptgeschäfte war der Import von Lkws und Motorrädern für die Armee. Das konnte man jeden Tag auf den Straßen beobachten. Der allgemeine Straßenverkehr war übrigens auf dem ersten Blick chaotisch. Bei den Kreuzungen gab es Kreisverkehr, und das Einfädeln und Herausfahren ging bei der gleichen Geschwindigkeit vor sich, wie die Fahrt auf gerader Strecke. Der Fahrer signalisierte mit seinem Arm, der aus dem Fenster hing, was er vor hatte, ohne zu hupen, und es funktionierte meistens. Als ungewohnter Beifahrer schloss man am besten die Augen.

An die einzelnen Verhandlungen erinnere ich mich nicht mehr, ich wurde herumgereicht, und ich sagte überall meine Sprüche auf. Wir hatten ja einiges zu bieten. Ich konnte auf die zahlreichen Planetarien verweisen, die wir nach dem 2. Weltkrieg geliefert hatten und auch auf laufende Projekte. Die Konkurrenz von Oberkochen war nicht sehr stark vertreten, sie spielte bei den Diskussionen vorerst keine Rolle. Während meiner Anwesenheit kam es zu keinen Entscheidungen, was auch ungewöhnlich gewesen wäre. Einige Zeit nach meiner Rückkehr erhielten wir aber den Auftrag zur Lieferung eines Großplanetariums für Bagdad.

Bagdad war um diese Zeit noch das alte Bagdad, eine orientalische Großstadt mit vielen niedrigen Gebäuden, von den Moscheen dominiert. Am Abend erleuchteten nur hier und da Karbidlampen einen Verkaufsstand, an dem man einen Shish-Kebab, was wir Schaschlik nennen, erstehen konnte.

Ein solcher Verkaufsstand, der die Urzelle eines großen Restaurants sein konnte, bestand aus einem Karren, auf dem aus Ziegelsteinen eine Feuerstelle aufgebaut war. Aus einem Stück Lammfleisch wurden geeignete Stücke geschnitten und auf Spieße aufgezogen, die gleichzeitig den Rost bildeten. Ein oder zwei Spieße mit einem Fladenbrot waren unserer Bratwurst an Sättigungswert äquivalent, aber nicht so anregend. Das verbrannte Fett verbreitete einen unangenehmen Geruch, und dann wusste man auch nicht, wie es mit der Hygiene stand.

Die nächste Stufe der kulinarischen Kultur waren Imbissstuben, in denen etwas gebraten wurde, was heute jedes Kind als Döner Kebab kennt. Vom Geruch her war es schon aromatisch, aber es lockte doch nicht so sehr, aus ähnlichen Gründen wie eben erwähnt. Erst später, als ich in der Türkei und in Griechenland das Döner Kebab gekostet hatte, verlor ich die Scheu vor dem, was der Bauer nicht kennt.

Wenn ich es mir recht überlege, war ich im November im Irak, denn ich wunderte mich, dass die Rosen noch in voller Blüte standen, von denen ich einen Stengel sogar mit nach Hause brachte. Selbstverständlich besuchten wir auch den Basar, der mir von meinem Aufenthalt in Indien nicht fremd war. Ich durfte mir ein Souvenir auswählen, und nun erinnern mich silberne Serviettenringe mit orientalischen Motiven an diesen ersten Aufenthalt in Bagdad.

Mein zweiter Aufenthalt war im September 1975. Wir hatten inzwischen den Vertrag über das Groß-Planetarium erhalten, und das Gerät war auch geliefert worden. Es hatte aber Verzögerungen beim Bauprojekt gegeben, und zu allem Unglück war in Folge einer großen Überschwemmung das eingelagerte Planetariumsgerät stark beschädigt worden. Wie stark, haben wir nie erfahren, aber es sollte ein neues Gerät gekauft werden.

Es gab auch stärkere Aktivitäten von Oberkochen mit einem Angebot des Modell VI, wie es nach Rochester geliefert worden war. Wir waren in einer kritischen Phase, denn die Astrogeräte-Entwicklung war infolge der Belastung durch das E-System auf die wichtigsten Aufgaben konzentriert. Hinzu kam, dass alle Fertigungsunterlagen auf neue Steuerungssysteme umgestellt werden sollten, darunter auch das Großplanetarium. Dafür war keine Kapazität frei, der Schwerpunkt lag auf der Entwicklung der Raumflug-Planetarien. Andererseits waren wir mitten im neuen 2-m-Teleskop-Projekt für Bulgarien.

Da kam im Sommer 1972 eine Anfrage nach einer Ausrüstung für ein großes Nationalobservatorium aus Bagdad, und ein irakischer Astronom Dr. Adim al-Sabti besuchte Jena, um sich von unserer Leistungsfähigkeit zu überzeugen, begleitet von einem Mitarbeiter unserer Vertretung. Wir boten ein 2-m-Teleskop analog dem für Bulgarien an und ein 1-m-Teleskop, wie wir es nach Ungarn geliefert hatten. Für das Projekt gab es Konkurrenzangebote von Grubb Parsons, England, und Oberkochen, später auch von Boller & Chivens, USA.

Dr. Sabti war ein Schüler von Prof. Zdenek Kopal, dem Direktor der Sternwarte Manchester, England. Zu seinen Schülern gehörte auch Dr. Kadir, der damalige Präsident der Foundation of Scientific Research in Bagdad.

Kopal wurde als Berater für das Observatoriumsprojekt engagiert, und Reinhard Hamatschek nahm deshalb im Sommer 1972 Kontakt mit ihm auf. Kopal war gebürtiger Tscheche und kannte das 2-m-Teleskop in Ondrejov seit der Inbetriebnahme während der Tagung der Intertnationalen Astronomischen Union im August 1967 in Prag. Er empfahl daher ein solches 2-m-Teleskop. Wir wurden auch auf die Bedeutung des Objektes im Irak aufmerksam gemacht, das erheblich zum Prestige des Landes beitragen sollte.

Im Jahre 1973 begann die Serie der Irakreisen, zunächst auf kommerzieller Ebene durch Mitarbeiter des Außenhandels. Im Mai wurde das erste Angebot übergeben, das mit Prof. Kopal zuvor beraten worden war. Im August 1973 wurde das Angebot Dr. Kadir vorgetragen, in Anwesenheit von Mr. Al-Dabbagh, der offenbar in seiner Eigenschaft als Generaldirektor der Youth Welfare Organisation ziemlich einflussreich war.

In dieser Zeit wurde der Import im Irak verstaatlicht, um eine bessere Kontrolle ausüben zu können. Die Firma Hasso Marketing konnte nun nicht mehr als Importeur auftreten. Die neue Organisation war das Iraqui Technical Bureau, das als Beraterfirma tätig sein durfte.

Ende Oktober 1974 erfolgte eine weitere Reise mit Gesprächen bei Dr. Kadir. Es wurde bestätigt, dass das Angebot von Zeiss Jena das reichhaltigste und qualitativ beste Angebot war. Wunschgemäß bot sich Zeiss Jena als Hauptkonsultant in Sinne eines Generalauftragnehmers an. Es wurde zugesagt, bei der Standortwahl, der Projektierung, der Bausausführung, der Montage und Ausbildung irakischen Personals aktiv mitzuwirken und auch andere Geräte zu vermitteln. Es wurde vereinbart, dass Zeiss im Januar 1975 Experten zu technischen Verhandlungen nach Bagdad entsendet.

Die Experten waren zunächst Reinhard Hamatschek und ich. Es gab zwar mehr Experten, aber sie waren entweder keine oder noch nicht Reisekader für das NSW, das Nicht-Sozialistische Wirtschaftsgebiet.

Die Kaderauswahl war im Laufe der Jahre immer strenger geworden. Wenn ich darüber nachdenke, so kommt es mir vor, dass bis 1961 lediglich die fachliche Qualifikation für die Eignung als Auslandsreisender maßgeblich war. Ich glaube auch, dass man damals noch nicht von Reisekadern sprach, und es auch keine Reisekaderschulung gab. Wahrscheinlich ab 1970, vielleicht auch erst 1975, als die DDR nach der Helsinki-Konferenz auch in den westlichen Ländern anerkannt wurde, zog „Zucht und Ordnung" ein. Ähnlich wie früher der Ariernachweis, musste nun nachgewiesen werden, dass man keine Westverwandschaft oder Westkontakte hatte. Was sonst noch alles ausspioniert wurde, haben viele ehemaligen DDR-Bürger aus ihren Stasi-Akten entnehmen können. Ich hatte zwar Verwandte im Westen, aber nur zweiten Grades, mit denen ich keine Kontakte hatte. Bekannte hatte ich massenweise, denn als Mitglied der Astronomischen Gesellschaft und durch meine häufigen Dienstreisen und Besuche der Sternwarten in der BRD kannte ich viele Astronomen, was nicht nachteilig für unsere Geschäfte war. Penibel musste alles aufgelistet werden, was zu einem solchen „West-Umfeld" gesagt werden konnte. Ich erhielt auch viel Post aus dem westlichen Ausland. Eigene Briefe und Karten von meinen Auslandsreisen, solange es erlaubt war, sowie Karten und Glückwünsche zu den Feiertagen, wie das so üblich war. Bei der Jenaer Post kannte man mich, denn eines Tages wurde prompt eine Postkarte ohne Zeitverzögerung zugestellt, auf der nur „Hans Beck Jena" als Adresse stand.

Ein zweites Problem war die Reisegenehmigung. Auch wenn die Reisen geplant waren, dauerte der interne Durchlauf bis zur Reisestelle des Ministeriums und die dortige Bearbeitung mindestens zwei Wochen, und erst dann durfte ein Visum beantragt werden, das manchmal erst nach sechs Wochen erteilt wurde. Wenn also eine Reise besonders dringlich war, dann bedurfte es gewaltiger Anstrengungen, um doch innerhalb kürzester Zeit zum Kunden zu kommen. Bei Kundendienstreisen war das oft sehr kritisch, wenn eine Havarie auftrat, was von der Konkurrenz immer wieder gegen uns vorgebracht wurde.

Wir verhandelten mit einem Komitee, das auf Weisung des Revolutionären Kommandorates (RCC) tätig war, über das im November 1974 übergebene Angebot für das schlüsselfertige Observatoriumsprojekt. Der damalige Vorsitzende war Dr. Sula Tahseen, weitere Mitarbeiter waren Ishak Gargis, Dozent an der Universität Bagdad, Farid Sabti, Finanzverantwortlicher der FSR, Al-Dabbagh und Adim al-Sabti. Wir erfuhren, dass das Komitee im Februar eine Europareise machen wollte, um sich bei den Anbietern näher über die Leistungsfähigkeit der Firmen zu informieren. Es wurde vereinbart, dass das Komitee nach Jena und Ondrejov kommen sollte. Außerdem wollte das Komitee nach Oberkochen und Newcastle (Grubb Parsons) reisen. Auf dem Weg nach Europa sollte auch das 1,88-m-Teleskop in Kottamia/Ägypten besichtigt werden, das aber völlig veraltet war gegenüber unseren Teleskopen in Tautenburg und Ondrejov, ganz zu schweigen vom neuen Teleskop für Bulgarien.

Während dieser Zeit waren Experten für das Site Testing aus der UdSSR im Irak, die schließlich empfahlen, im Norden Iraks das Observatorium zu erreichten. Ansich gab es ein umfangreiches Site Testing Programm in der UdSSR, u.a. um den besten Standort für das 6-m-Teleskop auszusuchen. Ganze Scharen von jungen Astronomen und Astronominnen wurden für Monate, wenn nicht Jahre, auf geeignet erscheinende Berge in Mittelasien (Usbekistan, Tadschikistan u.a.) entsandt, um großräumig homogenes Beobachtungsmaterial zu gewinnen. In der Nähe von Alma-Ata und Dushanbe entstanden so neue Observatorien, die u.a. auch mit Zeiss-Jena-Teleskopen ausgerüstet wurden. Ich konnte selbst einen Blick auf die Bergeinsamkeit werfen, als ich 1975 im Anschluss an eine Zeiss-Ausstellung in Taschkent nach Dushanbe flog. Mit einem Jeep ging es über Feldwege allmählich in etwa 2000 m Höhe zur Site Testing Station, einer Hütte, in der ein junges Astronomen-Ehepaar, die Frau in guter Hoffnung, schon Monate verbracht hatten, meilenweit von der Zivilisation entfernt.

Das Komitee wurde von Reinhard Hamatschek und mir in Jena und Ondrejov betreut. Wenn ich mich richtig erinnere waren Jena und Ondrejov die letzten Stationen ihrer Reise, sie flog von Prag nach Bagdad zurück. Was uns vor allem auffiel, war das umfangreiche und gewichtige Gepäck, das sie mit sich führten, jeder von ihnen. Offenbar war eine solche Studienreise auch eine Reise ins westliche Einkaufsparadies! Allem Anschein nach, war die Gruppe mit den Ergebnissen in der DDR und der ČSSR zufrieden.

In Fortsetzung der Aktivitäten reiste Reinhard Hamatschek im März wieder nach Bagdad, um die Verhandlungen mit dem Komitee fortzuführen. Die Konkurrenz war auch nicht untätig, nach unseren Informationen waren vier Experten von Grubb Parsons und sogar sieben von Oberkochen in Bagdad gewesen. Von Oberkochen wäre sogar der oberste Chef gekommen. Ein kritisches Problem war die lange Laufzeit des eventuellen Vertrags. Es war damals üblich, in solchen Verträgen den endgültigen Preis von der eingetretenen Inflationsrate abhängig zu machen. Grubb Parsons und Oberkochen bestanden auf einer solchen Regelung, es lag bei uns, hier einen Vorteil für uns herauszuarbeiten. Von der Konkurrenz lag auch kein Angebot für ein schlüsselfertiges Objekt vor. Bei diesen Beratungen tauchte erstmalig eine Astronomin, Dr. May Kaftan, auf die in den USA ihre Ausbildung absolvierte hatte und auf dem Gebiet der Radioastronomie tätig war. Sie war irakischer Abstammung und war offenbar von Dr. Kadir angeworben worden, der mit einer Amerikanerin verheiratet war. Beide sollten uns noch viele Schwierigkeiten machen.

Eigentlich sollte bereits zum 15.4.1975 vom RCC über das Projekt entschieden werden. Im Rückblick hat offenbar Dr. May, wie sie genannt wurde, das Verfahren verzögert, obwohl mit dem Bericht über die Standortempfehlung der Weg für den Projektablauf frei war. Nach der Lage der Dinge entsprach nur unser Angebot den Interessen des Landes, aber Dr. May zählte nicht zu den dabei Begünstigten.

Der Sommer verging, auf einmal kam eine Nachricht aus Bagdad: Die Verhandlungen sollen wieder aufgenommen werden, es muss schnellstens eine Delegation anreisen. An sich war vorgesehen, dass nach der Herbstmesse, Anfang September 1975, eine Zeiss-Delegation nach Bagdad reisen sollte, um das Projekt vor Ort voranzutreiben. Aber so schnell lief ein Dienstreiseantrag nicht durch die Dienststellen. Nur mein Pass hatte eine Ausreisegenehmigung, und so wurde ich auf den Weg geschickt, was aber nicht so einfach war.

Nach den sogenannten Flugroutenvorschriften der DDR musste man bei Reisen in das NSW so weit wie möglich mit Fluggesellschaften der DDR, also Interflug, oder anderer sozialistischer Staaten fliegen. Interflug hatte zwar eine Linie Berlin-Bagdad, aber wegen der Messe waren alle Flüge ausgebucht. Da meine Ausreisegenehmigung nur noch drei Tage galt, musste ich auf anderem Weg nach Bagdad fliegen. Alternativen waren Kairo oder Damaskus, die beide von Interflug bedient wurden. Die Buchung nach Damaskus war OK, aber es gab keine Rückmeldung wegen eines Anschlussfluges nach Bagdad. Notgedrungen wurde beschlossen, ich sollte bis Damaskus fliegen und von dort aus versuchen, weiter zu kommen.

Als ich am späten Abend in Damaskus ankam, erkundigte ich mich schon an der Gangway beim örtlichen Interflug-Vertreter, wie ich weiter nach Bagdad kommen könnte. Die Antwort war niederschmetternd: es gäbe wegen politischer Spannung zwischen Syrien und dem Irak überhaupt keine Flugverbindungen und ich sollte am besten gleich wieder nach Berlin zurückfliegen! Glücklicherweise war mit der Maschine auch der Leiter der Interflug-Vertretung in Damaskus angekommen, an den ich verwiesen wurde. Er beruhigte mich, er werde mir helfen. Ich sollte zunächst übernachten, und am anderen Tag würde es schon eine Möglichkeit geben, von Beirut aus nach Bagdad zu fliegen. Wie kommt man aber von Damaskus nach Beirut? Mit dem Taxi! Nachdem ich mein Transitvisum für Syrien erhalten hatte, fuhr ich mit ihm in die Residenz der Handelsvertretung der DDR, wo man mir ein Zimmer gab.

Am anderen Morgen versuchte ich mein Glück im Interflugbüro, aber es gelang auch nicht, eine Buchung vorzunehmen. Er beruhigte mich wieder, ich solle nur losfahren, ich käme bestimmt mit irgendeiner Maschine von Beirut nach Bagdad. Wie weit war es nun von Damaskus bis Beirut und wie lange würde eine Fahrt dauern, was würde eine Taxifahrt kosten? Meine Kenntnisse über Syrien, Libanon stammten aus dem Schulatlas, in dem die Entfernung auf der Karte etwa einem Zentimeter entsprach, aber bei welchem Maßstab? Es waren etwas mehr als 100 Kilometer, und die Fahrt sollte längstens drei Stunden dauern, Grenzkontrolle eingeschlossen. Die Fahrtkosten im Gemeinschaftstaxi sollten etwa 25 Dollar kosten, also keine Unsumme.

Die Fahrt begann am frühen Mittag und war sehr interessant, aber doch zu schnell, um mehr als Eindrücke von der Gegend aufzunehmen. Es ging hoch in die Berge des Anti-Libanon, dann ins Bekaa-Tal und wieder in die Berge des eigentlichen Libanon, von denen man dann einen Ausblick auf Beirut und das Meer hatte. Auf der gut ausgebauten Straße war ein reger Verkehr in beiden Richtungen, vor allem schwere Lastwagen und Sattelschlepper. Der Aufenthalt an der Grenze war nur kurz. Ich bekam ohne weiteres das Transitvisum für den Libanon, und bald waren wir am Flugplatz im Süden der Stadt. Ich war überrascht vom Flair der Stadt, mehr europäisch als orientalisch, vor allem in den auf den Anhöhen gelegenen Villenvororten.

Auf dem Flugplatz orientierte ich mich zuerst, welche Fluggesellschaften wann am selben Tag noch nach Bagdad fliegen würden. Ich hatte Pech, alle Maschinen waren ausgebucht, weil zahlreiche Pilger wieder nach Hause wollten. Nur bei der Air France war die Maschine nicht voll besetzt. Aber Air France durfte keine Passagiere für die „lokale" Strecke aufnehmen, es sei denn, der Flughafenkommandant gebe die Erlaubnis. Ich suchte ihn auf und trug mein Anliegen vor. Ich erlebte hier ein Stück Orient: Eigentlich hätte er mir eine schriftliche Genehmigung geben müssen, aber das wäre eventuell ein später zu kontrollierender bürokratischer Akt gewesen. Also rief er bei Air France an und auf Grund der mündlichen Zusage durfte ich mitfliegen, mit einem modernen Airbus bei bester Betreuung. Es gab ein vorzügliches Abendessen.

Schließlich landeten wir kurz vor Mitternacht in Bagdad, und ich rief bei unserer Vertretung an, die mich dann abholte. Inzwischen war es Freitag geworden, also freier Tag für die Einheimischen, auch für mich ein Ruhetag nach den nervlichen Strapazen. Was ich beinahe sonst noch erlebt hätte, erfuhr ich am nächsten Tag aus dem Bagdad Observer: Kämpfe in der Nähe des Flugplatzes, womit der Bürgerkrieg begann, ich hatte den letzten Friedenstag erlebt!  

Bei meinen Gesprächen mit der irakischen Vertretung erfuhr ich, dass es beim Teleskop-Projekt keine Fortschritte gegeben habe und damit auch keine Eile für die Anreise einer ganzen Delegation bestand. Aber beim Planetariums-Projekt stand eine Entscheidung bevor, weswegen meine Anwesenheit gerade richtig war.

Wie wurde im Irak über ein Projekt entschieden? In den meisten Fällen gab es keine irakischen Experten, die in der Lage gewesen wären, die Angebote technisch und finanziell zu bewerten. Ein Projekt diente zwar im günstigsten Fall einem öffentlichen Interesse, wie ich schon erwähnt habe. Die Befürworter konnten erwarten, dass sie oder Mittelsmänner zu nicht unbeträchtlichen Provision kommen. Die Kosten spielten schon eine Rolle, aber nicht, wie man normalerweise erwarten würde. Es war üblich, mit einem gewissen Prozentsatz für die Provision zu rechnen, etwa 10%. Und die Araber beherrschten die Prozentrechnung.

Als ich mit der irakischen Vertretung das Angebot für das Raumflug-Planetarium besprach, erfuhr ich, dass seitens Oberkochens ein Angebot zu einem Preis von über 2 Millionen DM vorlag. Dieser Preis war extrem hoch, er lag um etwa 100% über den üblichen Angeboten. Demgegenüber verlangten wir etwa 350.000 DM, also sehr viel kostengünstiger! Aber 10% von 2 Millionen sind ein höherer Anreiz als 10% von 350.000! Es gab für uns nur die Möglichkeit, den Preis mit einer höheren Provision auszustatten, um einen ähnlichen Anreiz zu schaffen. Schließlich hatten wir Erfolg, weil wir bessere Verbindungen hatten.

Für einen unbedarften Zeitgenossen scheint diese Methode ehrenrührig für die Anbieter zu sein, denn Provision wird in solch einem Fall mehr mit Schmiergeld übersetzt. Inzwischen wissen wir „So machen's alle!", und nach dem Recht der BRD können solche zusätzlichen Aufwendungen, wenn man sie nicht dem Preis zuschlagen kann, von der Steuer abgesetzt werden. Aber am besten sprach man nicht darüber!

Das Teleskop-Projekt nahm immer greifbarere Formen an. Wir konnten auf unsere laufenden Projekte zurückgreifen, nachdem wir geklärt hatten, dass die von Alfred Jensch entwickelte Stützmontierung auch für den Irak geeignet war, wenn auch gerade an der Grenze liegend für das Gebiet nördlich von Bagdad in der Nähe von Mossul. Allerdings wurde ein schlüsselfertiges Projekt gefordert, das durchaus dem Interessen des DDR-Außenhandels entsprach. Im Kombinat war zu diesem Zweck ein Bereich Anlagenexport gebildet worden, von dem auch schlüsselfertige Planetarien angeboten wurden.

In beiden Fällen lagen Erfahrungen vor. Das Observatorium Tautenburg war zwar von einem Bereich der Akademie der Wissenschaften projektiert und gebaut worden, aber immer im engen Kontakt mit dem Astro-Konstruktionsbüro. Von Tautenburg her und durch meine Besuche der großen Observatorien in den USA, sowie aus dem Literaturstudium waren wir z.B. mit den Fragen des kritischen Mikroklimas innerhalb und in unmittelbarer Umgebung der Sternwartenkuppel vertraut. Es lagen auch Erfahrungen vor, was bei der Auswahl des Standortes und bei der Gestaltung der Infrastruktur zu beachten war. Mit den Observatorien Tautenburg und Ondrejov/ČSSR konnten wir realisierte, erfolgreich arbeitende Objekte vorweisen, was wir im Februar 1975 auch gegenüber der irakischen Delegation nutzten.

Im Februar 1977 stand die Entscheidung im Ministerium für Wissenschaft und Technik an, und ich reiste nach Bagdad mit einem Vertreter des Außenhandels, um für Rückfragen umgehend zur Verfügung zu stehen. Außer einem Angebot von Oberkochen für ein 2,2-m-Teleskop ähnlich dem des Max-Planck-Instituts für Astrophysik hatte auch die Firma Grubb Parsons ein Angebot für ein 2,4-m-Teleskop abgegeben. Wir wussten, dass das Angebot von Oberkochen über und das von Grubb Parsons unter unserem Preis liegen würde. Es kam darauf an, die Kombination mit dem 1-m-Teleskop und die Ausführung als schlüsselfertiges Projekt in den Vordergrund zu spielen. Natürlich wurde auch um die Höhe des Angebots gepokert. Schließlich hatte unsere Vertretung die besseren Beziehungen in die höchsten Regierungskreise und wir erhielten einen Letter of Indent, eine Absichtserklärung, den Vertrag mit uns abschließen zu wollen. Das schien uns ein großer Erfolg und wir glaubten, dass die Abfassung und der Abschluss des eigentlichen Vertrages nicht sehr lange dauern würde, denn mit dem Angebot war auch eine Lieferfrist von vier Jahren nach Auftragserteilung verbunden.

Für den Vertrag war die Foundation of Scientific Research verantwortlich, mit der wir seither noch keinen Kontakt hatten. Der einzige Astronom, den wir bis dahin kennen gelernt hatten, war Dr. Adim Al-Sabti, der in Manchester/England bei Professor Zdenek Kopal, einem gebürtigen Tschechen, studiert und promoviert hatte. Er hatte sich aber nur theoretisch mit Astrophysik beschäftigt, von praktischer Astronomie hatte er keine Ahnung. Darauf werde ich mit einer kleinen Geschichte noch zurückkommen. Wir kannten ihn aber näher von seinem Besuch in Jena, und auch in Bagdad hatten wir mehrfach Kontakt. Es schien so, als ob er stärker in das Projekt eingebunden wäre.

Aber immer wieder gab es Verzögerungen. Im April 1977 gab es einen ersten Anlauf. Es ging darum, den in Aussicht genommenen Standort zu besichtigen. Ich flog nach Bagdad und von dort in Begleitung des eben erwähnten Astronomen nach Mossul. Westlich des Gebiets erstreckt sich von Südwest nach Nordost ein Höhenzug, mit einem langgestreckten Plateau in etwa 1200 m Höhe.

Dort fanden wir ein Camp und einige junge englische Astronomen vor, die das Mikroklima studieren sollten. Zum Zweck des sogenannten „Site Testing" hatten sie ein Polarteleskop aufgebaut, mit dem sie den Polarstern als Testobjekt verwendeten. Da der Polarstern immer nahezu die gleiche Höhe hat, sind die Variationen im Aussehen der Sternscheibchen prinzipiell vergleichbar. Die Engländer hatten das Verfahren bereits bei dem Site Testing für das englische Großteleskop, das später Herschel-Teleskop benannte 4,2-m-Teleskop, angewandt. Ihr Auftraggeber war eine irakische Astronomin, Dr. May Kaftan, die in der Foundation of Scientific Research mit der Vorbereitung des Teleskop-Projekts beauftragt war. Sie war an sich Radioastronomin und hatte in den USA studiert und gearbeitet. Von dort her hatte sie Kontakte zu Dr. Walker vom Lick Observatory, den ich 1961 bei meinem Besuch des Observatoriums dort kennen gelernt hatte. Walker hatte sich intensiver mit Site Testing beschäftigt. Es ging ja um die Reduzierung der gemessenen Werte vom ganzen Himmel auf die Werte des Polarteleskops.

Mein Eindruck war, dass das Gelände geeignet, es stand genügend Fläche zur Verfügung. Der Zugang auf der Straße war ohne Probleme, und Mossul als Basisstation war nicht weit entfernt. Es kam auf die Ergebnisse des Site Testing an, das noch weitergeführt werden sollte. Das war alles, von Vertragsverhandlungen war keine Rede.

Schließlich kam sogar der Sommer, wo es sicher kein Vergnügen gewesen wäre, in der Gluthitze in Bagdad den Vertrag in die endgültige Form zu bringen. Es war beschlossen worden, dass Reinhard Hamatschek als Vertreter des Außenhandels und ich für die wissenschaftlich-technische Seite nach Bagdad reisen sollten. Wir sollten so lange bleiben, bis der Vertrag unterschriftsreif war. Nach vernünftigen Überlegungen könnte das in vier bis spätestens sechs Wochen der Fall sein. Wie sehr wir uns geirrt hatten, wird sich noch erweisen. Anfang September reisten wir ab, nachdem uns mitgeteilt worden war, dass die irakische Seite bereit war.

Meine Aufgabe im Irak sah ich als nicht sehr schwierig an, immerhin hatte ich an der Realisierung des Ondrejov- und Schemacha-2-m-Projektes aktiv und verantwortlich mitgearbeitet. Wie schon erwähnt, waren unsere damaligen Bemühungen erfolgreich abgeschlossen worden. Unsere Partner waren engagierte Astronomen mit internationalen Erfahrungen, auch die kommerziellen Partner waren an dem Erfolg des Projektes interessiert. Es spielten aber solche Dinge, wie politischer Einfluss und Provision keine Rolle.

Zur politischen Situation im Irak einige Bemerkungen: Im Jahre 1968 hatte die Baath-Partei die Macht übernommen. Der starke Mann an der Spitze war al-Bakr, der zweite Mann im Staate war Saddam Hussein, sein Schwiegersohn. Beide wurden immer in einem Atemzug genannt oder auf Plakaten gezeigt. Die wichtigsten Posten in der Partei und der Regierung waren durch Verwandte besetzt, was wir als Vetternwirtschaft bezeichnen. Wenn man etwas erreichen wollte, musste man an einen dieses Familienclans herankommen und etwas bieten.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Herrn Baader, dem Seniorchef der Firma Baader Planetarium, den ich vor einigen Jahren in München aufsuchte. Wir kannten uns seit einer Tagung der Astronomischen Gesellschaft im Jahre 1965, als Konkurrenten. Nach der Wende gab es geschäftliche Beziehungen mit der Astroabteilung von Zeiss Jena. Wir kamen auf das Thema Irak zu sprechen, und ich erfuhr, dass Herr Baader recht gute Geschäfte dort gemacht hatte. Vermutlich durch Planetarium und Nationalobservatorium begünstigt, sollte mehr für die Popularisierung der Astronomie getan werden. Das war nicht ungewöhnlich, schließlich war das Zweistromland die Wiege der Astronomie. Herr Baader beteiligte sich also an der Bagdad Fair, einer jährlich stattfindenden Messe. Seine Teleskope fanden reges Interesse selbst in höchsten Kreisen. Nach einem entsprechenden Besuch einer Regierungsdelegation tauchte ein Adjutant auf, der mehr oder weniger unverhohlen ein Exponat als Geschenk anforderte. Herr Baader wusste offenbar, was landesüblich war, und sicherte sogar zwei Teleskope als Geschenk zu. Die Folge waren die erwähnten guten Aufträge.

Als wir, Reinhard Hamatschek und ich, unseren Antrittsbesuch bei der Foundation of Scientific Research machten, lernten wir Frau Dr. May Kaftan und Herrn Dr. Zein al-Abedien als unsere Verhandlungspartner kennen. Dr. May, wie sie genannt wurde, war eine Dame schon in etwas fortgeschrittenen Alter, Dr. Zein al-Abedien ebenfalls. Wir merkten bald, dass gar kein großes Interesse bestand, schnell zu einem Vertragsabschluss zu kommen. Obwohl für uns mit dem Letter of Indent die Lage klar zu sein schien, wurden Grundsatzdiskussionen geführt, im orientalischen Stil. Da gab es z.B. die Standortfrage, die keineswegs geklärt war. Irgendwie, vielleicht sogar auf Grund des Site Tests, war der Standort westlich Mossuls verworfen worden. Es gab ein neues Stichwort: Mt. Korrek, ein etwa 2200 m hoher Berg im Kurdengebiet nördlich von Salahuddin.

Da wir das Observatorium schlüsselfertig angeboten hatten, spielte natürlich der Standort eine wichtige Rolle, sowohl von der Zugänglichkeit als auch von der Beschaffenheit her. Also mussten wir zunächst mit dem Geologischen Dienst Verbindung aufnehmen, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Dann gab es die Diskussion um das Forschungsgebäude, das nur als Position im Vertrag enthalten, aber nicht näher spezifiziert war. Ich hatte schon versucht, unterstützt von unserer Vertretung, ein Gebäude zu skizzieren, sogar Grundrisse gezeichnet, um überhaupt eine Diskussionsgrundlage zu haben. Schließlich forderten wir dringlich Unterstützung von Jena an. Gemeinsam mit dem Justitiar Werner Groß reiste Frau Gertrud Schille, unsere Planetariums-Architektin, an und nun konnte es losgehen!

Das erste war eine Exkursion zum Mt. Korrek, die natürlich gründlich vorbereitet werden musste, schließlich lag der Mt. Korrek in einem Militärgebiet. Die Kurden sind bekanntermaßen ein streitbares Volk, insbesondere weil ihre nationalen Interessen bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches zu kurz gekommen waren. Kein Wunder, dass weder die Türkei, noch der Iran und schon gar nicht der Irak ohne Probleme mit den Kurden über die Zeit kamen. Es hatte im „wilden Kurdistan" anhaltende Kämpfe in den vergangenen Jahren gegeben, mit empfindlichen Verlusten für die irakische Armee. In der Nähe des Mt. Korrek war sie in einen Hinterhalt geraten, ähnlich wie die Franzosen in Vietnam bei Dien Ben Phu. Es wunderte uns also, dass das Observatorium in solch einem kritischen Gebiet aufgebaut werden sollte. Hinzu kam, dass ja Spannungen zwischen Irak und Iran bestanden, und die iranische Grenze nicht weit war.

Eine Delegation, bestehend aus Dr. May und Dr. Zein al-Abedien, sowie Frau Schille und mir, wurde mit einem klapprigen Kleinbus auf den Weg geschickt, zunächst über Kirkuk nach Salahuddin, wo wir übernachteten. Dann ging es in die Berge, bis wir etwa 100 km nördlich von Salahuddin in einem Militärcamp ankamen. Wir wurden freundlich empfangen, vielleicht als eine Abwechslung im militärischen Trott, und ländlich-sittlich bewirtet. Auf der Fahrt dorthin hatte mein Hauptaugenmerk der Beschaffenheit der Straße gegolten, und in einem anschließenden Bericht hatte ich Kurven und Steigungen und andere Details ausführlich beschrieben. Wie ich später erfuhr, amüsierte man sich in Jena über die epische Breite, aber ich wollte soviel wie möglich für die Vorbereitung des Bauprojektes tun.

Da es auf dem Berg keine geeigneten Unterkünfte gab, mussten wir eine Nacht im Camp bleiben und am anderen Morgen sehr früh mit einem Jeep den „Aufstieg" vornehmen. Eine ausgebaute Straße gab es natürlich nicht, es war ein grob planierter Feldweg, teils aus dem Felsen gesprengt. Ich hatte eine ähnliche Tour schon einmal bei Izmir in der Türkei gemacht, als ich mit Prof. Kienle den Standort für ein geplantes 1-m-Teleskop besichtigte. In beiden Fällen war die Fahrt zum Gipfel noch einigermaßen erträglich. Man konnte ohnehin nicht schnell fahren, und bei kritischen Stellen, an denen der Jeep zum Halten gezwungen war, gab es eine Chance, aus dem Fahrzeug zu springen. Es war wenig tröstlich, ab und zu an einem Autowrack vorbeizufahren, schließlich kamen wir etwa 50 m unterhalb des Gipfelgebiets an, der ein langgestreckter Sattel von etwa 200 m Länge war.

Die letzte Strecke hätten wir auf Maulesel reitend zurücklegen können, was aber nur Dr. May in Anspruch nahm. Frau Schille und ich, damals noch gut in Form, stiegen auf einem Trampelpfad, der im Zickzack verlief, nach oben. Als Frau Schille eine Abkürzung nehmen wollte, wurde sie mit den Rufen „Mines! Mines!" aufgehalten. Das war noch einmal gut gegangen, zeigte aber auch den Ernst der Situation. In 2000 m Höhe war es auch über Mittag nicht sehr heiß, trotzdem tat uns ein kühler Trunk Wasser gut.

Grundsätzlich schien der Sattel ausreichend groß, die beiden Kuppeln und das Forschungsgebäude sowie die notwendigen Nebengebäude aufzunehmen. Auch die Straßenführung zum Gipfel schien keine unüberwindlichen Probleme zu bringen. Kritisch erschien uns die geologische Beschaffenheit. Der Berg Korrek war nämlich ein Kalksteinmassiv mit karstigem Charakter. Es würde notwendig sein, zunächst riesige Mengen Stein abzutragen und möglicherweise eine Verfestigung mit großen Betonmengen vorzunehmen.

Wir hielten uns auf dem Gipfel nicht lange auf, stiegen wieder den Trampelpfad hinab und überließen unser Schicksal dem Fahrer des Jeeps, der im Schritt-Tempo das Gefährt nach unten rollen ließ. Wir kamen am späten Nachmittag an und erfuhren, dass wir mit einem Kleinbus in eine „Herberge" gebracht würden, die schon einige Kilometer südwärts, aber immer noch im Kurdengebiet lag. In dem Militärfahrzeug saßen noch mehrere Soldaten, bewaffnet, vielleicht zu unserem Schutz. Dr. May blieb im Camp, so dass nur Dr. Zein al-Abedien uns begleitete. Als wir in unserem Nachtquartier ankamen, war es schon dunkel geworden, so dass wir unsere Umgebung nicht erkennen konnten. Die Zimmer waren für die Verhältnisse annehmbar, und wir konnten ruhig schlafen. Am anderen Morgen fragte uns Dr. Zein al-Abedien, ob wir die Schüsse gehört hätten, also war es doch nicht so ruhig gewesen.

Die Fahrt nach Bagdad zurück traten wir mit einem Taxi an. Wir fuhren wieder über Kirkuk, da dort die Familie von Dr. Zein al-Abedien lebte. Er verließ uns dort, wir waren inzwischen in sicherem Gebiet. Am frühen Nachmittag kamen wir in Bagdad an.

Unser Quartier hatten wir im neu erbauten Hotel „Andalus Palace" genommen, in dem wir zu den ersten Gästen gehörten. Es war immer etwas problematisch, in Bagdad ein geeignetes Quartier für längere Zeit zu mieten. Bei meinen früheren Reisen wohnte ich im von den Zeiss-Dienstreisenden frequentierten Hotel „Carlton", einem orientalischen Zwei-Sterne-Hotel. Manchmal, so im September 1975, als ich mehr oder weniger unangemeldet kam, musste ich mit einem fensterlosen Innenraum vorliebnehmen. Das „Andalus" hatte durchweg Zimmer mit zwei getrennt stehenden Betten mit Bad und WC. Es war üblich, dass jeder sein eigenes Zimmer hatte, was bei einem langen Aufenthalt günstig ist, wenn man einmal seine Ruhe haben will.

Bei dieser Gelegenheit einige Bemerkungen zur DDR-„Kolonie", der Handelsvertretung. Der oberste DDR-Repräsentant war natürlich der Botschafter, aber unser „Chef" war der Handelsrat. In der HV waren Delegierte der Außenhandelsbetriebe der DDR vertreten, für die der Irak ein Schwerpunktland, meist exportseitig, war. Die Delegierten, meist Ehepaare und beide in der HV tätig, waren zwei bis drei Jahre im entsprechenden Land. Wir waren als Dienstreisende Außenseiter, aber disziplinarisch der HV zugeordnet. Die HV war wie eine DDR-Institution organisiert. Montags war Parteiversammlung, auch die Gewerkschaft und der Demokratische Frauenbund hatten Veranstaltungen. Nur die Arbeitszeit war den örtlichen Verhältnissen angepasst. Die Bürozeit ging von 9 Uhr morgens bis 13 Uhr. Dann konnte in einer Kantine das Mittagessen eingenommen werden, Feierabend!

Diese Zeitspanne hätte nie für unsere Arbeit ausgereicht, so dass wir in einem separat liegenden Büro unsere Schreib- und später Zeichenarbeiten erledigten, ohne dass wir es uns leisten konnten, uns feste Zeiten vorzugeben. Das war an sich keine Quälerei, Arbeit war noch der beste Zeitvertreib. Es gab keinerlei Unterhaltung, kein Fernsehen mit westlichen Programmen, kein Radio mit Kurzwelle, erst nach langer Zeit erhielt ich ein Kassettenabspielgerät mit einigen Kassetten von den ABBAs und ähnlichen Interpreten. Außer dem „Bagdad Observer", einem kleinen englischsprachigen Blättchen, gab es keine Zeitungen. Sogar die DDR-Zeitungen und einige Zeitschriften waren nicht leicht zugänglich. Sie zirkulierten zuerst bei den Delegierten. So begannen wir jeden Tag nach einer ausgedehnten Siesta unsere zweite Schicht, die manchmal bis spät in den Abend ging.

Gelegentlich hatten wir aber auch Zeit zu einem Spaziergang, was am ehesten noch am späten Nachmittag möglich war. An einem Tag kurz vor Sonnenuntergang spazierten wir in Richtung Tigrisufer. Ich erzählte Reinhard von einem astronomischen Erlebnis im Sommer 1962. Damals sollte ich in Kalkutta das 1956 in Auftrag gegebene Großplanetarium übergeben. Ich musste erst nach Prag fahren, um mir dort in der Indischen Botschaft mein Visum abzuholen. Am Abend flog ich mit einer TU 104 nach Moskau, wo es gegen Mitternacht nach Neu Delhi über Taschkent weitergehen sollte. Ich hatte einen Platz auf der Backbordseite und konnte den Sonnenuntergang und danach den Nordwesthimmel beobachten. Trotz der Kabinenbeleuchtung strahlten die Sterne sehr intensiv. Ich versuchte mich zu orientieren, wurde aber durch zwei helle Objekte irritiert, die zu keinem Sternbild passten. Das eine war sicher die Venus, aber was war das andere Objekt? Diese Frage wollte ich in Kalkutta im Planetarium klären.

Nach meiner ersten Inspektion, ob das Gerät übergabereif war, fragte ich unseren Monteur, Herrn Walter Gebauer, was das für helle Objekte am Nordwesthimmel seien. Im Nu war das Planetarium eingestellt und das Rätsel gelöst. Es waren Venus und Merkur! Ich hatte also, wenn auch unter sehr günstigen Bedingungen, den Merkur mit bloßem Auge gesehen! Kepler soll auf seinem Totenbett bedauert haben, dass er Merkur nie mit bloßem Auge gesehen habe. Das war aber nur die halbe Geschichte. Als wir unsere Besichtigung beendet hatten, war inzwischen die Abenddämmerung hereingebrochen, die in südlicheren Breiten bekanntlich sehr früh einsetzt und sehr kurz ist. Als wir aus dem Planetarium ins Freie traten, konnten wir eine Straßenflucht entlang schauen. Zwei helle Objekte strahlten am Himmel, kurz nach Sonnenuntergang: Venus und Merkur! Während ich die Geschichte erzählte, war die Sonne untergegangen, und wir sahen nunmehr im Westen über dem Untergangspunkt zwei helle Objekte, wie ehedem 1962. Nun hatte ich weder ein Planetarium zur Verfügung noch ein astronomisches Jahrbuch. Also erkundigte ich mich am anderen Tag bei unserem jungen Astronomen. Der hatte wahrscheinlich die Anfangsvorlesungen versäumt, denn er meinte, der Merkur müsste im Osten stehen! Das waren die Experten, mit denen wir es zu tun hatten und die in einem großen Observatorium leitende Aufgaben übernehmen sollten!

Zurück zu den Aufenthaltsbedingungen. Da gab es noch den Postverkehr, der streng reguliert war. Grundbedingung: keinerlei Postverbindungen auf direktem Wege, weder in die DDR und schon gar nicht anderswohin. Die Delegierten waren ausgewählte Kader, die keine Westverbindungen haben durften! Meine Frau adressierte die Post an mich an ein Postfach in Berlin, das praktisch das Postfach der HV Bagdad war. Einmal die Woche, Sonntagabend, kam die Kurierpost mit der Interflug-Maschine und am Montag ging die Post nach Berlin zurück. Von Berlin zum Empfänger dauerte es meist drei Tage. Es war also kaum möglich, innerhalb einer Woche Antwort zu erhalten, besonders bei dienstlicher Post, die ja noch im Betrieb ihre Durchlaufzeit brauchte. Die schnellste Kommunikation war der Telex-Verkehr, der aber wegen der Kosten nur in dringenden Fällen in Anspruch genommen werden durfte.

Es wäre sicher am besten gewesen, mit der irakischen Seite eine etappenweise Verhandlung zu verabreden, vielleicht zwei Wochen Verhandlung, zwei Wochen Bericht und Beratung in Jena, dann wieder nach Bagdad. Es wäre auch nicht sehr viel teurer gewesen, schließlich verbrauchten wir im Irak kostbare Devisen. Es bestand aber die Befürchtung, dass eine Unterbrechung einen zügigen Fortschritt hemmen würde. So mussten wir uns auf einen längeren Aufenthalt einrichten.

Die Verhandlungen waren äußerst zäh, was uns so sehr nicht wunderte. Selbst wenn man sein Wissen über Land und Leute nur aus den Geschichten aus 1001 Nacht oder bei Karl May gewonnen hat, man diskutiert erst des Langen und Breiten, ehe man zur Sache kommt. Zur Sache kann man aber nur dann kommen, wenn der Partner oder Kontrahent etwas von der Sache versteht. Wir kamen aber bald zu der Einsicht, dass wir es mit irrationalen Sachen zu tun hatten, „irakzionales" Denken hatte eigene oder keine Gesetze.

Die erste Phase war, wir brauchten einen Termin für eine Beratung. Dann übergaben wir einen Vorschlag über die Punkte, die zu diskutieren seien. Diese Punkte untersetzten wir in der Zwischenzeit in einem ausführlichen Schriftstück mit Einzelheiten, damit die Protokollierung der Beratung erleichtert wurde. In der Beratung wurden selten alle Punkte behandelt, es gab neue Punkte, und schließlich wurde die Beratung vertagt. Im günstigsten Fall wurde noch eine gemeinsame Aktion vereinbart, z.B. ein Besuch beim Geologischen oder Meteorologischen Dienst.

Während für die Kuppelgebäude ein spezifiziertes Angebot mit entsprechenden architektonischen Unterlagen vorlag, sollte während der Anwesenheit von Frau Schille, auch unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Standortbesichtigung, das Forschungsgebäude entworfen werden. Es war an sich leicht gewesen, eine Liste der benötigten Räume aufzustellen und diese Liste funktional zu ordnen. Wir griffen auf die Erfahrungen von Tautenburg und Ondrejov zurück und übergaben eine solche Liste. Auch die Zuordnung entsprechender Flächen brachte keine Probleme. Mehr Diskussionen waren hinsichtlich der Hülle des Gebäudes zu erwarten, aber es gab Vorbilder für eine funktionale Gestaltung, die Frau Schille aus der internationalen Literatur kannte. Trotzdem dauerte es die ganze Zeit, rund vier Wochen, die Frau Schille in Bagdad war, bis ein einigermaßen abgestimmtes Konzept vorlag. Zwischendurch hatte unser Jurist Werner Groß versucht, einen Vertragsentwurf über die Grundsatzfragen zu Papier zu bringen, was aber auch sehr mühselig war.

Wenn man sich fragt und diese Frage stelle ich mir selbst, während ich dies schreibe, worin der große Arbeitsaufwand lag, dann spielen der in englischer Sprache geführte Schriftwechsel, die Übersetzung ins Englische, manchmal auch eine direkte Formulierung in Englisch und dann die Übersetzung ins Deutsche für die Berichte nach Jena und die Berichte selbst eine große Rolle. In der Vor-Computerzeit, ohne Kopiergerät, wenn auch mit einer elektrischen Schreibmaschine, brauchte ich als „Schreiber" mehr Zeit, um ein anständiges Schriftbild zu erzeugen. Reinhard Hamatschek war mit dem Englischen genauso vertraut wie ich, so dass wir uns gegenseitig aushelfen konnten. Es gab auch noch einen Delegierten, der längere Zeit in England stationiert war, den wir konsultieren konnten. Die meisten anderen Delegierten hatten gerade mal ihren Englisch-Intensivkurs hinter sich.

Wir hatten natürlich auch Zeit, uns die Stadt und Umgebung anzusehen. Mit einem Taxi kam man überall hin, und man brauchte auch nicht auf ein Taxi zu warten. Kaum stand man am Straßenrand, da fuhr schon ein Wagen vor. Die Fahrtkosten waren verhältnismäßig niedrig, da ja auch das Benzin sehr billig war. Man musste sich aber mit den Preisen auskennen und wie auf dem Basar feilschen. So fuhren wir endlich nach Babylon, um uns das Gelände dort anzusehen, teilweise seit Jahrzehnten ausgegraben, teilweise noch verschüttet. Ebenso besuchten wir die Goldene Moschee am Rande von Bagdad. Selbstverständlich auch den Basar, auf dem viele Geschäfte ihre Waren anpriesen. Bei den Juwelieren lockten die Goldketten und Ringe, die nach Gewicht verkauft wurden, was ich schon Jahre zuvor in Indien bemerkt hatte. Es gab auch wunderschöne Stoffe und Souvenirs aller Art.

Wie waren wir finanziell gestellt? Grundsätzlich waren wir mit Dollars ausgerüstet, die in den irakischen Dinar nach Bedarf umgewechselt wurden. Der Wechselkurs schwankte nur wenig, und es blieb uns auch überlassen, mit wem wir unser Geld wechselten. Die besser gestellten Iraker waren an Dollars interessiert, so dass man privat etwa 10% besser wechseln konnte. Damit war aber kein Vermögen zu gewinnen. Die Aufwendungen für die Übernachtungen mussten belegt werden, die Kosten für das Frühstück wurden abgezogen, sie mussten aus dem Tagegeld getragen werden.

Das Tagegeld eines Dienstreisenden, der in einem Hotel lebte, war immer sehr knapp gehalten. Diese Erfahrung hatte ich auf vielen Dienstreisen gemacht. Es ging noch, wenn man nur wenige Tage zu tun hatte und außerdem von der Vertretung betreut wurde. Kannte man Land und Leute, so reichte das Geld auch. Wenn man aber in einem Land wie Irak gezwungen ist, aus hygienischen Gründen in einem besseren Restaurant zu essen, dann wurden die Spesen knapp. Die Mittagsverpflegung in der Kantine der HV war nicht üppig, aber preiswert. Sie entsprach etwa der Werksverpflegung in der DDR. Da die Delegierten in ihren Wohnungen nach ihren Wünschen kochen konnten, stellten sie auch keine hohen Ansprüche.

Eine Hauptmahlzeit in einem Restaurant kostete mehr als die Hälfte des Tagegelds, was man sich nur einmal am Tag leisten kann. Inzwischen hatten wir uns mit dem Döner Kebab angefreundet, was wesentlich billiger war. Von Zeit zu Zeit wurden wir von unserer Vertretung zum Essen eingeladen, wobei ich mich besonders an das Maskouf-Essen in einem der Restaurants am Tigrisufer erinnere. Maskouf ist ein Tigrisfisch, der in besonderer Weise am Holzkohlenfeuer gegrillt wird. Die ganze Zeremonie am lauen Abend in dem Gartenrestaurant braucht ihre Zeit, die man für angeregte Gespräche nutzen kann. Allerdings war der Spaß sehr teuer, den wir uns selbst nicht hätten leisten können.

Der vorige Abschnitt könnte so wirken, als ob wir zu bedauern wären. Eigentlich waren wir Dienstreisenden privilegiert gegenüber den anderen DDR-Bürgern, die keine großzügigen Westverwandten hatten. Jeder gesparte Dollar gab die Möglichkeit, begehrte oder benötigte Westwaren zu erwerben. Bevor es die Intershops gab, musste man diese Waren mitbringen und sich bei der Einreise in die DDR mit dem Zoll herumschlagen. Verglichen mit den Vertretern der westlichen Konkurrenz waren wir aber arm dran, denn wir hatten kein Spesenkonto für Einladungen und auch kein eigenes Geld, das etwas wert war. Nach der Wende merkte ich bei den wenigen Dienstreisen, die ich noch unternahm, den Unterschied, abgesehen natürlich davon, dass es zu Hause alles gab, was man brauchte oder sich gewünscht hätte.

In dieser Zeit kamen die elektronischen Taschenrechner und die Digitaluhren auf, quasi die Urahnen der jetzigen Geräte. Teilweise waren sie Spielzeuge für Rechenkunststücke, teilweise hatten sie fast den Charakter eines Statussymbols. Meine erste digitale Armbanduhr war ein Ungetüm an Volumen, fast 10 mm hoch und etwa 40 mm im Durchmesser. Ich brauchte eine neue Uhr, weil meine in Indien 1955 gekaufte Schweizer Uhr nach mehr als 20 Jahren treuen Dienstes nicht mehr repariert werden konnte. Dann sollte es auch eine Digitaluhr sein, die aber richtig protzig wirkte, weil sie mit Gold plattiert war. Sie sah so aus, als wollte sie mit einer Rolex konkurrieren.

Frau Schille reiste Mitte Oktober wieder ab, und wir kämpften weiter. Es war ein Stellungskrieg, fast um jede Zeile des Vertrags. Eigentlich waren wir davon ausgegangen, dass die Spezifikation der Ausrüstungen fest geschrieben war. Da kam Frau Dr. May mit der Forderung nach höheren Qualitätsparametern für die Optik-Systeme. Sie flog in die Schweiz, um sich mit Vertretern der ESO zu konsultieren, und verlangte kategorisch eine erhebliche Verbesserung der Spotkonzentration. Ich kannte mich auf diesem Gebiet aus und wusste, wie kritisch diese Frage war. Da es aber zu einer Entweder-Oder-Frage kam, musste ich meine Vorgesetzten in Jena auf den Ernst der Lage aufmerksam machen.

Grundsätzlich hatten wir solche Forderungen in Jena kommen gesehen. Das Thema hatte Dr. Bahner vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Heidelberg in einem grundlegenden Artikel zur Diskussion gestellt und die höheren Forderungen begründet. Dann kam noch die Spezifikation für das spätere Hubble-Space-Teleskop nach einem beugungsbegrenzten Hauptspiegel. Wir wussten, dass die Kunst des Optikers vergeblich war, wenn die Prüfbedingungen die Qualität begrenzten. Also hatte mein Mitarbeiter Helmut Artus schon im Jahre 1976 eine Konzeption für einen Astro-Optikprüfturm erarbeitet, bei dem sogar eine Prüfung im Vakuum möglich sein würde. Das Projekt musste nun unter dem Druck der irakischen Forderungen bestätigt und schnellstens realisiert werden. Nur dann konnten wir die höheren Forderungen akzeptieren.

Mein Vertreter in Jena war inzwischen Karl-Heinz Jahr, ein Diplom-Ingenieur, der ursprünglich in Zeitz in der Entwicklung von Mobilkränen tätig war. Auf Grund einer Zeitungsannonce im „Neuen Deutschland" hatte ich ihn für unsere Arbeit gewinnen können, und er hatte sich sehr gut eingearbeitet. Nach dem inzwischen gängigen Auswahlprinzip für leitende Kader hatte er bessere Chancen, die Nachfolge meines langjährigen Chefkonstrukteurs Alfred Jensch anzutreten. Der andere Kandidat, der erfahrene, von der Pike an gediente Astrokonstrukteur Dieter Gutcke war parteilos. Alfred Jensch hatte das Pensionsalter im Juni 1977 erreicht und wollte nicht mehr weiter arbeiten, sondern sich um seine schwerkranke Frau kümmern. So sehr ich meinen Freund Alfred Jensch noch gebraucht hätte, musste ich seine persönlichen Interessen achten.

Manche Fragen konnte ich selbst klären und brauchte keine Rückfragen in Jena. Gelegentlich geriet ich innerlich in Wut, wenn wir uns ernsthaft mit unqualifizierten Fragen herumschlagen mussten. So gab es eine anhaltende Diskussion über das Öffnungsverhältnis der Teleskope und des jeweiligen Zubehörs. Während bis etwa 1960 das Öffnungsverhältnis eines Teleskophauptspiegels bei 1:5 lag, hatten später größere Teleskope als solche mit 2 m Hauptspiegel ein größeres Öffnungsverhältnis, z.B. 1:2,8. Das kam einerseits von den in Mode gekommenen Ritchey-Chretien-Systemen, andererseits konnten so die Kuppeldurchmesser kleiner bleiben. Im Cassegrainfokus hatten diese Teleskope das Öffnungsverhältnis 1:8, gegenüber früher 1:15.

Eine solche Konzeption hatten wir auch bei unserem 2-m-Teleskop gewählt, das wir für Bulgarien entwickelt hatten. Bei dem 1-m-Teleskop standen solche Fragen nicht, und wir hatten mit mehreren Kunden einheitlich abgestimmt, dass das Öffnungsverhältnis im Cassegrainfokus 1:12,5 sein sollte bei einem 1:4 Hauptspiegel. In Brennweiten umgesetzt, die das Auflösungsvermögen bestimmten, hatten wir beim 2-m-Teleskop 16 Meter bzw. beim 1-m-Teleskop 12,5 Meter, also nahezu die gleiche Größenordnung. Jedes Teleskop hatte seine eigenen Zusatzgeräte mit den dazu passenden Aufnahmevorrichtungen.

Da kam eines Tages Dr. May mit der Forderung, die Öffnungsverhältnisse beider Teleskope sollten identisch sein, damit man die Zubehörgeräte gegeneinander austauschen könne. Das war totaler Unsinn, denn es war logisch, dass man schon von den Abmessungen und der Masse her auf das 2-m-Teleskop mehr aufladen konnte. Andererseits bedeutete gleiches Öffnungsverhältnis ein Brennweiten-Verhältnis von 2:1, ein großer Unterschied beim Auflösungsverhältnis. Es war überhaupt nicht einzusehen, warum die Zubehörgeräte vereinheitlicht werden sollten. Wenn sie doppelt vorhanden sind, hat man auch keinen Gewinn, will man sie wechselweise an das eine oder andere Teleskop setzen, schränkt man sich bei der Planung der Beobachtungsprogramme ein. Ich konnte soviel reden, wie ich wollte, in Jena musste eine Variante des 1-m-Teleskops mit einem 1:8-Optiksystem berechnet und entworfen werden.

Bei meinen Diskussionen hatte ich natürlich das Handicap, dass die Kommunikation mit Fachleuten z.B. der ESO oder englischer bzw. amerikanischer Sternwarten nicht zustande kam. Ob nun diese unqualifizierten Forderungen aus mehr oder wenig Unwissen heraus oder mehr als Provokation zur Störung der Verhandlungen vorgebracht wurden, ist mir auch heute nicht klar. Vielleicht trafen beide Gründe zu.

Ein weiteres Thema schlich sich in die Diskussionen ein: Radioteleskop! Kein Wunder bei dem Spezialgebiet von Dr. May. Es sah manchmal so aus, als ob aus dem optischen Teleskop ein Radioteleskop werden sollte, woran wir überhaupt nicht interessiert waren. Es gab keine entsprechenden Entwicklungen in der DDR, aber in der BRD gab es leistungsfähige Radioteleskope und Entwicklungen, z.B. bei Krupp. Mit dem Hinweis auf den Letter of Indent bemühten wir uns, die Diskussion auf die in der Spezifikation festgeschriebenen Ausrüstungen zu beschränken.

Schließlich war es Mitte Dezember 1977 geworden, alle Themen waren wieder und wieder diskutiert worden. Zahlreiche Formulierungen wurden immer wieder verändert. Es war zu erwarten, dass um den Jahreswechsel keine Verhandlungen laufen würden. So erhielten wir die Erlaubnis, kurz vor Weihnachten, nach dreieinhalb Monaten Einsatz im Irak, nach Jena zurückzukehren. Allerdings würden wir Anfang Januar 1978 wieder nach Bagdad fliegen müssen. So mussten wir die Arbeitstage um die Feiertage zur Berichterstattung und Abstimmung des weiteren Vorgehens nutzen. Unsere Arbeitsergebnisse wurden akzeptiert. Nach uns sollte eine höherrangige Delegation nach dem Irak reisen, der Vertrag sollte endlich abgeschlossen werden.

Im Januar 1978 ging der zähe Kampf noch weiter, aber wir hatten noch eine andere Aufgabe bekommen. In Kuwait gab es schon seit längerer Zeit ein Planetariumsprojekt, um das wir uns kümmern sollten. Das erste Mal hatte ich 1965 von diesem Projekt gehört, als ich in Jena einen ehemaligen technischen Kaufmann von Zeiss kennenlernte. Damals hatte Zeiss im Rahmen einer Tagung der Astronomischen Gesellschaft zu einem geselligen Abend auf dem Fuchsturm eingeladen, wo Dr. Schrade persönlich als Gastgeber auftrat. Der Mann aus Kuwait war mit von der Partie, und ich unterhielt mich einige Zeit mit ihm. Was wusste ich vorher von Kuwait? Es musste ein Land sein, wo Milch und Honig fließen. Keine Steuern, kostenlose Schul- und Universitäts-Ausbildung, modernes Gesundheitswesen usw. Also auch eine gute Chance für ein Planetarium!

Wir flogen also nach Kuwait und besprachen mit dem Handelsrat die Angelegenheit, dann mit der Zeiss-Vertretung, die in Kuwait fest etabliert war und über gute Beziehungen verfügte. Eigentlich war das Projekt schon weit gediehen. Es gab einen Architekten in Paris, der andere Projekte schon in Kuwait realisiert hatte und mit dem wir unbedingt Kontakt aufnehmen mussten. Bei verschiedenen Institutionen sprachen wir vor, fanden aber keine Schlüsselfigur, die wir hätten „bearbeiten" können. Andererseits schien noch keine Eile geboten zu sein. Wir wussten aber etwas besser über die Situation Bescheid. Es kam darauf an, den französischen Architekten für uns zu gewinnen, was mir später im November 1978 gelang. Es fehlten ihm nämlich einige grundlegende Erfahrungen für die Konzeption einer Planetariumsanlage.

Kuwait war auch noch aus einem anderen Grund interessant. Es gab dort wesentlich bessere Einkaufsmöglichkeiten als im Irak. Wenn irgendjemand von der HV Bagdad dienstlich in Kuwait zu tun hatte, dann hatte er einen Wunschzettel für gewisse Kleinigkeiten mit, z.B. Parker-Kugelschreiber oder Füllhalter. Also statteten wir auch dem Basar einen Besuch ab, der nur so vom Warenangebot überquoll. Ob es Früchte aller Art waren oder Stoffe, von Gold und Silber ganz zu schweigen, alles, was das Herz begehrte und der Geldbeutel erlaubte. Kurioserweise gab es einen Second Hand Markt für Kleidungsstücke aller Art, auf denen auch nagelneue Uniformen der verschiedensten Armeen zum Kauf angeboten wurden.

Inzwischen ist ja Kuwait besser bekannt, auch aus der Zeit vor dem Golfkrieg. Es war eine moderne Stadt, zwar am Meer gelegen, aber von der immer brennenden Wüstensonne dominiert. Dieser Überfluss an Sonnenstrahlung inspirierte mich zu einer Idee, wie wir das Planetarium interessant machen könnten. Irgendwann würde ja das Öl nicht mehr so sprudeln, also gab es eine gute Chance für Sonnenenergie. Selbst wenn man damit nicht wie mit dem Öl viel Geld verdienen konnte, so brauchte man doch Energie, um die modernen Lebensumstände aufrecht zu erhalten, z.B. die riesigen Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben.

Meine Idee war, Solarenergie über einen großen photovoltaigen Empfänger aufzunehmen und damit die Fixsternlampen des Planetariums zu betreiben, also gewandeltes „Sternenlicht" zu projizieren. Reinhard hielt die Idee auch für gut, und so dachten wir, das müsste auch bei unseren Vorgesetzten gut ankommen. Allerdings waren wir der Zeit, zumindest in der DDR, voraus. Es gab niemanden, der ein solches Aggregat hätte entwickeln und liefern können, und das war in vielen Fällen das Hauptkriterium, ob eine Idee brauchbar war oder nicht. Ja, wenn es im Westen schon solche Anlagen gegeben hätte, die das sogenannte Weltniveau repräsentierten, dann wäre man vielleicht hinterhergelaufen. Unser Gedanke war aber, der Konkurrenz vorneweg zu laufen. Ich bekam von Biermann einen persönlichen Rüffel vor versammelter Mannschaft, ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern oder er hätte eine andere Aufgabe für mich! Basta!

Schließlich war der Vertrag ausgearbeitet, juristisch geprüft und unterschriftsreif. Der Generaldirektor des Außenhandels, Ronneberger, war angereist, um das wichtige Dokument gemeinsam mit dem Präsidenten der Foundation of Scientific Research zu unterzeichnen. Es gab die üblichen Reden, Frau Dr. May machte ein süß-saures Gesicht, war aber sichtlich befriedigt, dass sie uns noch zu Verbesserungen der Optikqualität gezwungen hatte. Eigentlich sollte es zur Siegesfeier ein großes Hammelessen im orientalischen Stil geben, aber wir waren eher froh, die Strapazen hinter uns lassen zu könne.

In Jena war Biermann zufrieden, dass der Vertrag im Wert von etwa 10 Millionen Dollar unter Dach und Fach war. Reinhard und ich erhielten jeder eine Prämie von 2500 Mark! Und nun sollte die eigentlich Arbeit beginnen.

Der Irak wurde nun das Reiseziel für die verschiedenen Bereiche, die an der Realisierung beteiligt sein würden. Für das Bauprojekt war das Bau- und Montagekombinat Erfurt (BMK) eingesetzt, die organisatorische Leitung hatte der Bereich von Horst Baumann, zu dem Frau Schille gehörte. Unser Partner war Siegfried Berger, der sich um die Sternwartentürme kümmerte.

Auch ich musste wieder in den Irak reisen, das nächste Mal unter nahezu dramatischen Umständen. Zum Jahreswechsel 1978/79 wurde Europa von einer langsam vom Norden nach Süden wandernden Frostwelle überzogen, die u.a. auch den Eisenbahnverkehr erheblich beeinträchtigte und teilweise zum Erliegen brachte. Ich glaube, Reinhard war wieder dabei, und wir hatten erhebliche Probleme, rechtzeitig nach Berlin zu kommen, um unser Flugzeug zu erreichen. Am 18. Januar war der Tag meines 25-jährigen Berufsjubiläums bei Zeiss, und ich erhielt das bekannte Beduinentuch mit der „Gehirnbremse" als Geschenk. Horst Baumann war damals auch im Irak, der sich noch gut daran erinnert.

Auch Biermann kam mit einer großen Delegation nach Bagdad, und im Gegenzug sollte Ende Oktober 1979 eine Delegation der Foundation of Scientific Research nach Jena kommen. Zuvor nahm ich an der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in Montreal teil, wo ich mit Dr. May verabredet war. Wir wollten amerikanische Astronomen wegen der Spezifikation der Spektro-graphen konsultieren, es ging also immer noch um Details. Während des Besuchs der irakischen Delegation in Jena wurde mir, für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erklärt, dass ich aus den Verhandlungen ausscheiden sollte. Auf Grund eines besonderen, mir nicht bekannten oder bewussten Vorkommnisses wurde ich als Leiter der Astrogeräteentwicklung abgelöst. Auf meine Vorhaltungen hin erreichte Siegfried Hülß, der mit allen Wassern gewaschene Außenhändler, es wenigstens, dass ich weiter aktiv blieb, so lange die Iraker in Jena waren.

Aus der zweiten Reihe nahm ich dann die weitere Entwicklung wahr, die schließlich zur Auflösung des Vertrages führte. Vermutlich hatte niemand, weder bei der Handelsvertretung im Irak noch jemand beim Außenhandels- oder Außenministerium wahrgenommen, dass 1979 Saddam Hussein die alleinige Macht übernommen hatte und nun seine Leute so richtig an die Futterkrippe kamen. Letztlich bekamen Oberkochen und Krupp die Chance für ein Exportgeschäft im Wert von mehreren Hundert Millionen Dollar für ein 3,5-m-Teleskop, ein 1,23-m-Teleskop und ein 30-m-Teleskop, bei entsprechend höherer Provision, was ich ja schon erwähnt hatte. Die in Jena begonnene Entwicklung war nicht umsonst, denn ukrainische Astronomen waren schon seit langem an einem 2-m-Zeiss-Teleskop interessiert, das inzwischen auf dem Terskol im Kaukasus arbeitet.

Wir hatten gelegentlich Informationen über das Oberkochener Irak-Projekt, so z.B. von der Stahlbaufirma im Saarland, die die Sternwartenkuppeln geliefert hatte. Horst Baumann, der mit dieser Firma in einer anderen Angelegenheit verhandelt hatte, konnte sich einen Film vom Aufbau der Kuppeln ansehen. Mehr Information erhielten wir 1990, als wir die Zusammenarbeit mit Krupp Industrietechnik wegen des Hexapod-Teleskops aufnahmen. Die irakzionalen Verhältnisse herrschten weiter, warum auch nicht? Bei der Abnahme des 3,5-m-Teleskops fiel eine Schraube auf den Hauptspiegel und beschädigte ein winziges Stück Spiegeloberfläche. Das war der Anlass für eine erhebliche Intervention mit der Einschaltung internationaler Experten, und schließlich war Oberkochen gezwungen, einen Preisnachlass in Millionenhöhe zu gewähren.

Ende 1997 lernte ich Herrn Christian Kühne kennen, der Astroentwicklungschef von Oberkochen. Er war mit anderen Zeiss-Oberkochen-Pensionären nach Jena gekommen, und wir kamen auf das Thema Irak zu sprechen. In seiner Begleitung war ein Konstrukteur, der vor Ort auf dem Mt. Korrek die Montage geleitet hatte. Angeblich ohne besondere Aktivitäten von Oberkochen sei es zu dem Auftrag gekommen, aber so richtiges Glück gab es für die Astronomie nicht. Im Verlaufe des irakisch-iranischen Konfliktes in den Jahren 1980-1988 war das Observatorium mehrfach bombardiert und stark beschädigt worden, darunter das schon betriebsfertige Radioteleskop. Kein Wunder, denn das Objekt war, wie ich schon erwähnte, nicht weit von der iranischen Grenze quasi auf dem Präsentierteller gelegen. Das 3,5-m-Teleskop liegt noch in den Kisten und wartet auf den Tag der Auferstehung. Es ist aber sicher, dass die Provisionen in die entsprechenden Kanäle geflossen sind.

Das Planetarium Kuwait wurde gebaut, im Golfkrieg zerstört und soll wieder aufgebaut und neu ausgerüstet werden.

Dank an einen Freund...

Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass ich meinem Mitarbeiter Alfred Jensch sehr viel verdanke, und er behauptet, es wäre umgekehrt genauso. Sei es wie es wolle, als sich sein 80. Geburtstag näherte, überlegte ich mir, auf welche Weise seine Verdienste um die Astroabteilung von Carl Zeiss Jena gewürdigt werden könnten. Es sollte etwas Bleibendes sein, das für lange Zeit an ihn und seine erfolgreiche Tätigkeit als Chefkonstrukteur erinnern wird. Ich nahm daher Kontakt mit dem Leiter des Karl-Schwarzschild-Observatoriums, Prof. S. Marx, auf. Mein Vorschlag war, das Tautenburger Teleskop nach seinem Schöpfer „Alfred-Jensch-Teleskop" zu nennen. Marx stimmte dem Vorschlag begeistert zu und sorgte für die Genehmigung durch das Wissenschaftsministerium in Erfurt.

Und so kündigte ich das Ereignis beim Geschäftsbereich Astro an:

Mitteilung

Alfred-Jensch-Teleskop

Jena, den 15.5.1992

Alfred Jensch wird am 19.06.1992 seinen 80.Geburtstag begehen können. Aus diesem Anlass soll am 16.06.1992 um 15.00 Uhr in Tautenburg eine Ehrung stattfinden, um deren Vorbereitung ich mich bemüht habe. Es hat dazu Vorgespräche mit Prof. Marx und Prof. Pfau gegeben, die dieses Vorhaben begrüßten. Außerdem habe ich Herrn Gutcke und Herrn Teske informiert.

Ursprünglich war ein Ehren-Kolloquium geplant, bei dem Prof. Marx über die Leistungen des Tautenburger Teleskops berichten wollte. Seitens des GB Astro sollte ein Beitrag über die Entwicklungen „nach Jensch" folgen, und schließlich sollte namens der Urania-Volkssternwarte eine persönliche Würdigung des Werdegangs von Alfred Jensch die Veranstaltung abschließen. Das Vorhaben wurde mit Frau Schenke, der Tochter von Herrn Jensch, zeitlich abgestimmt.

Inzwischen hat es aber persönliche Probleme für Herrn Jensch gegeben, weil seine Frau schwer erkrankt ist. In einem Brief an ihn hatte ich um seine Zustimmung gebeten und erhielt eine Absage, deren Kopien ich beifüge. So sehr wie man die Gründe für die Absage anerkennen muss, so wenig sollte uns das hindern, eine Ehrung vorzunehmen. Ich habe daher vorsorglich noch eine andere Variante mit Prof. Marx besprochen, nämlich das 2-m-Teleskop Tautenburg nach seinem geistigen Urheber Alfred-Jensch-Teleskop zu nennen. Prof. Marx und die Mitarbeiter des Karl-Schwarzschild-Observatoriums haben diesen Vorschlag begrüßt, und es liegt eine mündliche Zustimmung seitens der Verantwortlichen für diese Namensnennung vor.

Es wurden Schritte eingeleitet, eine entsprechende Tafel anzufertigen, auf der der Name Alfred-Jensch-Teleskop in großen Lettern verewigt wird. Zusätzlich soll noch eine kleinere Tafel erläutern: Alfred Jensch entwarf 1949 das 2-m-Universal-Spiegelteleskop, das in der Astro-Abteilung von Carl Zeiss Jena in den Jahren 1950-1960 konstruiert und gebaut wurde. Als Chefkonstrukteur für Astrogeräte hat Alfred Jensch die Astrotechnik in Jena entscheidend geprägt und ihr zu internationalem Ansehen verholfen.

Ich würde mich freuen, wenn der GB Astro das Vorhaben in geeigneter Form unterstützen und der Geschäftsleitung zur Kenntnis geben würde.

                Hans G. Beck

Über das Ereignis selbst berichtete ich in einem Beitrag in der Zeitschrift „Die Sterne":

A l f r e d - J e n s c h - T e l e s k o p

Am 16. Juni 1992 fand in der Sternwartenkuppel der Landes-Sternwarte Thüringen / Karl-Schwarzschild-Observatorium Tautenburg eine schlichte Feierstunde statt, in der dem 2-m-Universal-Spiegelteleskop der Name Alfred-Jensch-Teleskop gegeben wurde. Aus Anlass seines 80. Geburtstages wurde so der Astro-Ingenieur Alfred Jensch geehrt, der über 30 Jahre als führender Konstrukteur in der Entwicklungsabteilung für Astronomische Geräte bei Carl Zeiss Jena tätig war. Seine Ideen und Konstruktionen schufen die Grundlagen für den Bau einer Generation von modernen Astro-Beobachtungsgeräten, deren Ursprung in der Konzeption des nach ihm benannten Teleskops liegt.

Wer ist Alfred Jensch? Ein Astronom als Entdecker des RR-Lyrae-Sterns CY Aquarii mit der kürzesten Periode? Ein Konstrukteur eines nach ihm benannten Sonnenbeobachtungsgeräts, dem Jensch-Coelostaten? So hätte man vor 35 Jahren fragen können. Heute bedarf es keiner Frage mehr. Er ist einer der bekanntesten Konstrukteure des Zeisswerkes, der in einer entscheidenden Phase der Entwicklung in Jena mit der Konzeption des 2-m-Universal-Spiegelteleskops eine Meisterleistung vollbrachte.

In der Geschichte des Zeisswerkes sind die Wissenschaftler bekannter als die Konstrukteure, ein Tatbestand, den man auch in vielen anderen Industriebetrieben findet. Es scheint fast so, als ob die Konstrukteure das gleiche Los teilen wie die von Brecht zitierten Erbauer des siebentorigen Thebens. Das mag mit seine Ursache darin haben, dass in vielen Fällen die Konstruktionswissenschaft erst dann in Anspruch genommen wurde, wenn die Wünsche des Wissenschaftlers vom Instrumentenbauer nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln realisiert werden konnten. In der Geschichte des astronomischen Instrumentenbaus des vergangenen Jahrhunderts ist das klar erkennbar, als die Forderungen an die Größe und die Genauigkeit der Beobachtungsgeräte eine konstruktive Durchdringung der technischen Aufgabe erforderten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der erste ausgebildete Ingenieur des Zeisswerkes, Franz Meyer, in der 1897 gegründeten Astrogeräteabteilung eingesetzt wurde und dort lange Zeit bis 1933 schöpferisch tätig war. Im selben Atemzug mit dem legendären Franz Meyer können wir nun Alfred Jensch nennen, der ein weiteres bedeutendes Kapitel der Geschichte der Astroabteilung des Zeisswerkes in entscheidendem Maße mitgestaltet hat.

Die Jugendzeit des Amateur-Astronomen

Von Alfred Jensch kann man sagen, dass er bereits in seiner Jugendzeit für seine künftige Entwicklung geprägt wurde. Die väterliche Elektromechanikerwerkstatt bot dem Schüler die Gelegenheit, fast spielerisch praktische Kenntnisse der Elektrotechnik und Mechanik zu erwerben und sie beim Bau einer kleinen Amateur-Sternwarte anzuwenden. Der Vater war vielseitig tätig, er war ein Tüftler, ein Erfinder. Der Sohn war Helfer, Beobachter, Mitdenker. Es wäre folgerichtig gewesen, wenn Alfred Jensch sich angeschickt hätte, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Aber es kam anders. Aus dem Steckenpferd, heute Hobby genannt, der Amateur-Astronomie, sollte ein Beruf werden.

Er wurde mit Cuno Hoffmeister bekannt, der ebenfalls als Amateurastronom begonnen und inzwischen eine eigene Sternwarte in Sonneberg aufgebaut hatte. Am 1.5.1933 begann er dort als Praktikant in der Hoffnung, später eine Assistentenstelle übernehmen zu können.

Das Hauptarbeitsgebiet von Cuno Hoffmeister war die Erforschung der Veränderlichen Sterne. Auch Alfred Jensch entwickelte sich rasch zu einem befähigten Beobachter, seine Arbeitsergebnisse wurden in den Astronomischen Nachrichten veröffentlicht. Am bekanntesten wurde er durch die schon erwähnte Entdeckung des rasch veränderlichen Sternes CY Aquarii, der die bis dahin kürzeste Periode des Lichtwechsels besaß.

Die Anfänge als Konstrukteur astronomischer Geräte

Die Sternwarte Sonneberg war nicht mit großen Glücksgütern gesegnet, so dass ihre technische Einrichtung von den Mitarbeitern der Sternwarte selbst geschaffen werden musste. Hier konnte Alfred Jensch die Forderungen der astronomischen Forschung mit seinen praktischen Kenntnissen und Fähigkeiten schöpferisch verbinden und selbst gründlich das Ergebnis prüfen. So wurde ein weiterer Grundstein seiner späteren erfolgreichen Tätigkeit gelegt. Es entstanden eine Reihe von Beobachtungs- und Messgeräten, wie z.B. ein lichtelektrisches Plattenphotometer, ein Photometer für schwache Flächenhelligkeiten, ein Spektrograph für die Beobachtung des Nachthimmelsleuchtens, ein Stereokomparator für große Plattenformate, ein Fernrohr-Synchronantrieb und mehrere elektrische Feinbewegungen. Aber sein Wunsch, eine festere Bindung zur Astronomie zu finden, ging in Sonneberg nicht in Erfüllung. Trotz der Bemühungen von Cuno Hofierter und auch von Prof. Guthnick, dem Direktor der Babelsberger Sternwarte, gelang es ihm nicht, auch nach mehrjähriger erfolgreicher Tätigkeit, eine feste Anstellung oder ein Studien-Stipendium zu erhalten.

Auf dem Wege zum Astro-Konstrukteur bei Zeiss

Die besten Möglichkeiten für eine berufliche Weiterentwicklung sah Alfred Jensch in Jena, in einem Werkstudium bei Carl Zeiss Jena. Er begann am 1. April 1938 eine neue Tätigkeit als Konstrukteur für astronomische Geräte im Konstruktionsbüro Büchele. Es mag verwundern, dass ein Autodidakt ohne formelle Ingenieurausbildung in einem schwierigen Arbeitsgebiet wie dem Astronomischen Gerätebau als Konstrukteur eingesetzt werden konnte. Das war aber durchaus üblich. Leute aus der Praxis, erfahrene Mechaniker, wurden in die Konstruktionsabteilung übernommen, die bereits die besonderen technologischen Erfahrungen mitbrachten. Gleichzeitig nahm Alfred Jensch ein Physikstudium als Gasthörer an der Jenaer Universität auf, aber der 2. Weltkrieg zerstörte den Studiengang. Er wurde 1942 einberufen und tat in einer Vermessungsabteilung Dienst, die u.a. mit Zeiss-Vermessungsgeräten ausgerüstet war, die er selbst konstruiert hatte. Erst nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft kehrte er nach Jena zurück und nahm 1948 seine Tätigkeit im Konstruktionsbüro für astronomische Geräte wieder auf. Dort war man voll beschäftigt mit den Reparationslieferungen, z.B. dem Bau des 650-mm-Refraktors, der dann nach Pulkowo kam. Aber auch die Rekonstruktion bewährter Vorkriegsgeräte war in Gang gekommen, denn es gab einen großen Nachholbedarf im In- und Ausland.

Die Stichworte der damaligen Zeit waren: Wiederaufbau zerstörter Fertigungsstätten und Fortschritt in Wissenschaft und Technik. Die Astrotechnik in Jena hatte einen guten Ruf, und so fand eine Initiative des Direktors des Astrophysikalischen Instituts Potsdam, Prof.Kienle, günstige Aufnahme bei den Verantwortlichen der Akademie der Wissenschaften und den Wirtschaftsgremien. Er griff einen langgehegten Wunsch der deutschen Astronomen nach einem leistungsfähigen Teleskop wieder auf, mit dem an die großen Traditionen des Potsdamer Astrophysikalischen Instituts vor dem ersten Weltkrieg angeknüpft werden sollte. Das Ziel war ein 2-m-Spiegelteleskop, zu dem bereits um 1938 Pläne erarbeitet worden waren, für eine Sternwarte im ehemaligen Deutsch-Südwest-Afrika.

Prof. Kienle nahm mit der Astroabteilung des Zeisswerkes Kontakt auf, um seine geplante Denkschrift an die Akademie der Wissenschaften durch entsprechende Entwürfe zu untermauern. Alfred Jensch wurde diese Arbeit übertragen, und er stand vor einer schwierigen Aufgabe. Die führenden Konstrukteure der Astrogeräteentwicklung von Zeiss waren entweder mit den Amerikanern nach Westdeutschland gegangen oder in die Sowjetunion dienstverpflichtet worden. Die Vorbilder für ein großes Teleskop waren der 2,5-m-Mt.Wilson- und der 2,08-m-McDonald-Spiegel in den USA. Von dem im Bau befindlichen 5-m-Spiegel waren zwar neuartige Konstruktionsprinzipien bekannt, aber ihre Bewährung stand noch aus. Für die Aufgabenstellung des Teleskops hatte es Prof. Kienle ähnlich schwer. Welche Entwicklung würde die astronomische Forschung in den nächsten Jahrzehnten nehmen, welche Grundkonzeption sollte das Teleskop haben? Gab es früher einen Wettstreit zwischen Refraktor und Reflektor, so war es nun notwendig, sich zwischen dem Schmidtspiegelteleskop und dem klassischen Spiegelteleskop zu entscheiden. Für die Erforschung unseres Milchstraßensystems brauchte man ein Teleskop mit großem Bildfeld, mit dem die für die Stellarstatistik erforderlichen großen Mengen an Sternen rationell zu beobachten waren. Andererseits entwickelte sich die photometrische und spektroskopische Untersuchung von Einzelobjekten immer mehr. Zum 5-m-Spiegelteleskop gehörte deshalb ein großes Schmidt-Teleskop, der sogenannte Big Schmidt.

Prof. Kienle sah keine Chance, in gleicher Weise ein Teleskop-Paar zu schaffen. Es konnte nur e i n Teleskop werden, und am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn man mit einer Grobkonzeption begonnen hätte, die während des Baus an die aktuellen Erfordernisse angepasst wird. Für einen verantwortungsbewussten Konstrukteur ist eine unklare Aufgabenstellung aber ein Greuel. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma war eine sowohl-als-auch-Lösung anstelle des entweder-oder. Eine derartige Aufgabe konnte einen Konstrukteur wie Alfred Jensch schon reizen. Zugleich lag natürlich eine große Gefahr in einer solchen Konzeption. Viele Kombinations-Konstruktionen, so besagte eine weit verbreitete Meinung, brachten es nur zu einer mittelmäßigen Leistung. Die hohen Anforderungen zweier Spezialkonstruktionen würden in der Kombination Kompromisse erfordern, die zu Lasten der Qualität oder der Effektivität gehen würden.

Die Konzeption des Universal-Spiegelteleskops.

Mit großer Kühnheit schuf Alfred Jensch den Entwurf und die wissenschaftliche Fundierung für das 2-m-Teleskop, das sich dann im Karl-Schwarzschild-Observatorium in Tautenburg erfolgreich in die internationalen Forschungsprogramme einreihte. Das Teleskop und die gesamte Sternwartenanlage ist ein Musterbeispiel für eine wissenschaftlich fundierte Konstruktion. Hier zeigte Alfred Jensch zum ersten Mal umfassend seinen Arbeitsstil, durch sorgfältig ausgewählte und ausgearbeitete, mathematisch und physikalisch untermauerte Konstruktionsprinzipien den Erfolg der Konstruktion schon vor dem Bau zu sichern. Die Fertigkeiten des Mechanikers mit den sprichwörtlichen goldenen Händen sollten nicht dazu missbraucht werden, Mängel der Konzeption oder der Konstruktion auszugleichen. Hierbei kam Alfred Jensch selbstverständlich seine astronomische Beobachtungspraxis zugute. Er wusste genau, welche Forderungen und Wünsche der Astronom haben würde und wodurch ihm die Arbeit erleichtert werden konnte. Daher war klar, dass der Umbau von der einen zu einer anderen Variante nicht nur bequem vor sich gehen musste, sondern auch rasch und möglichst ohne Beeinträchtigung der Justierqualität bzw. ohne lange Nachjustierung. Hier ergaben sich die ersten größeren Schwierigkeiten, denn das Optiksystem mit dem sphärischen Hauptspiegel war in der Cassegrain- und Coudé-Variante wesentlich justierempfindlicher als ein klassisches System mit einem Parabolspiegel als Hauptspiegel. Durch das Schmidt-System wiederum war die Tubuslänge bestimmt. Übrigens hatte Bernhard Schmidt auch solche Quasi-Cassegrain-Systeme mit sphärischem Hauptspiegel hergestellt.

Alfred Jensch wählte für den Tubus einen quadratischen Querschnitt. Das hatte verschiedene Vorteile, verlangte aber auch höheren Aufwand in der mechanischen Fertigung. Durch das Schmidt-System war ein geschlossener Rohrkörper zwingend, an den hinsichtlich der Biegung und der Verwindung hohe Ansprüche zu stellen waren. Im Schmidt-Fokus von 4000 mm Brennweite durfte sich der Bildpunkt während einer ein- bis zweistündigen Aufnahme um weniger als 0,1 Bogensekunde, also um weniger als 2 Mikrometer verlagern. Das war vom absoluten Betrag her überhaupt nicht möglich, sondern nur durch das Zusammenwirken einer geeigneten, versteiften Schweißkonstruktion mit entsprechenden Kompensationseinrichtungen. In den Ecken des quadratischen Rohrkörpers waren die Nachführoptiken eingebaut, die ohne gesonderte Rohrkörper in dem Teleskop so integriert waren, dass die differentielle Biegung zwischen Haupt- und Nachführungsoptik eliminiert werden konnte. Es war in gleichem Maße erforderlich, die Fokuslage über längere Zeit stabil zu halten, wozu eine Temperaturkompensation entwickelt und gebaut wurde.

Die umfangreichen theoretischen Untersuchungen füllten mehrere Bände von Forschungsberichten, die nach Aufgabenstellungen von Alfred Jensch von befähigten Mathematikern im Entwicklungsbüro für theoretische Probleme erarbeitet und zum Teil durch Experimente erhärtet wurden. Heute ist eine solche Methodik eine Selbstverständlichkeit, eine mathematisch gestützte Konstruktion war aber damals eine Seltenheit. In vielen Fällen wurden die Theoretiker erst gefordert, wenn es Schwierigkeiten in der Praxis gab.

Ein Problem war z.B. das Temperaturverhalten des Spiegels. In den USA hatte man für den 5-m-Spiegel neue Glassorten entwickelt, Borsilikate mit niedrigem thermischen Ausdehungskoeffizienten, das Pyrex-Glas der Firma Corning. Ein ähnliches Glas, Tempax, war 1938 für das deutsche 2-m-Teleskop von Schott in Jena vorgeschlagen worden. Die Problematik dieses Materials bestand darin, dass es eine relativ hohe Schmelztemperatur erfordert.

Die nach dem Krieg bei Schott verfügbare Technologie der Hafenschmelze ließ aber nur die Verwendung des Glases ZK 7 zu, das einen um etwa 30% höheren thermischen Ausdehnungskoeffizienten hat. Eine Berechnung des thermischen Verhaltens des Spiegels mit einer Masse von über 2 Tonnen brachte interessante Ergebnisse. Durch die niedrige Wärmeleitfähigkeit des Glases würde es etwa 48 Stunden dauern, bis eine Temperaturdifferenz zur Umgebung ausgeglichen sein würde. Es kam also auf eine gute Dämpfung der Tag-Nacht-Schwankungen der Temperatur durch eine geeignete Gebäude- und Kuppelkonstruktion an. Die Spiegelscheibe würde sich verformen, wenn es eine Temperaturdifferenz zwischen Vorder- und Rückseite gibt.

Die Berechnung ergab, dass bereits eine Temperaturdifferenz von nur einem Grad die Abbildungsqualität merklich verschlechtern würde. Erfreulicherweise sah es dann in der Praxis besser aus. Systematische Untersuchungen zeigten, dass in gewissen Grenzen die Temperaturdifferenz eine proportionale Fokusverlagerung ergab, die korrigiert werden konnte.

Nicht weniger schwierige Aufgaben stellte die Gabelmontierung, die auf der einen Seite noch die Ablenkspiegel für den Coudé-Strahlengang aufnehmen musste. Um so richtig ein Gefühl dafür zu bekommen, um welche Dimensionen es bei der Konstruktion des Teleskops ging, hatte man an die Wand des Konstruktionsbüros mit Kreide den Gabelfuß in Originalgröße aufgezeichnet.

Das Teleskop würde eine bewegliche Masse von ca. 60 Tonnen haben, die mit der Genauigkeit einer astronomischen Uhr der scheinbaren Himmelsbewegung nachzuführen waren. Von dem 5-m-Teleskop war eine Öldrucklagerung bekannt, die sehr geringe Reibung hatte und große Lagerdrucke aufnehmen konnte. Trotz der Prinzipversuche war man doch vorsichtig und baute eine spezielle Hubeinrichtung ein, falls es zu Schwierigkeiten beim Probebetrieb kommen sollte. Es funktionierte aber alles zur vollen Zufriedenheit, sowohl beim ersten Versuch in der Werkhalle als auch in Tautenburg.

Ein weiteres Beispiel für den Erfindergeist von Alfred Jensch ist die Beobachtungsbühne. Ursprünglich war eine Art Brücke geplant, die mit der Kuppel verbunden sein sollte. Solche Beobachtungseinrichtungen waren bei Tageslicht noch brauchbar, in der totalen Dunkelheit bei der nächtlichen Beobachtung gab es oft eine Katastrophe. Eine derartige Bühne in den USA hatte den Spitznamen der „Große Refraktor", weil sich mehrere Astronomen Knochenbrüche zugezogen hatten. Alfred Jensch entwarf das Tautenburger „Beobachtungshaus" mit Fahrstuhl und erfand dabei, unabhängig von anderen, den Wälzschraubtrieb, mit dem das Haus in der Höhe verstellt wurde.

Es würde zu weit führen, das Tautenburger Teleskop mit all seinen Finessen zu erläutern. Der erfolgreiche Einsatz des Teleskops seit seiner Inbetriebnahme im Jahre 1960 spricht für sich. Über 8000 Schmidt-Aufnahmen und über 5000 Spektrogramme wurden (bis 1992) gewonnen und sind die Grundlage für zahllose Forschungsprogramme und Einzeluntersuchungen.

Allerdings ist bemerkenswert, dass Prof. Kienle seinerzeit noch Zweifel hatte, ob sich die gewählte Lösung bewähren würde. Als er jedoch in Tautenburg das neue Teleskop einer gründlichen Untersuchung unterzog, konnte er sich davon überzeugen, dass sein Vertrauen in die Betriebe Carl Zeiss Jena und Schott/Jenaer Glaswerk nicht enttäuscht worden war.

Die Leistungen von Alfred Jensch in dieser Zeit sind um so höher zu bewerten, als er ein Ingenieurfernstudium aufnahm, um sich weiter zu qualifizieren und um seiner Tätigkeit eine formelle Bestätigung geben zu lassen. Durch eine langwierige und wiederkehrende Augenerkrankung war es ihm jedoch nicht möglich, das Studium abzuschließen.

Die neuen 2-m-Teleskope

Das Tautenburger Teleskop nahm zuerst als Schmidt-Teleskop seinen Betrieb auf, für die Cassegrain- und Coudè-Systeme wurde noch an der Entwicklung der Spektrographen gearbeitet, die als Gitterspektrographen konzipiert waren. Bevor das Teleskop seine volle Bewährungsprobe im Observatorium abgelegt hatte, begannen Verhandlungen mit Astronomen aus der damaligen ČSSR und UdSSR/Aserbeidshan. Auf der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in Moskau 1958 hatte die Astroabteilung von Carl Zeiss Jena das Modell eines neuen 2-m-Teleskops vorgestellt. Auf Wunsch der Astronomen des Astronomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der ČSSR war es wieder ein klassisches Cassegrain-Coudé-System mit einem F/4.5-Parabolspiegel. Eine schematische Darstellung im Zeiss-Katalog Astro 60 zeigt die Englische Montierung mit einem Gittertubus. Dieser scheinbare Rückschritt hatte zwei Gründe: Inzwischen gab es auf der Welt mehrere große Schmidt-Teleskope, die soviel Beobachtungsmaterial gesammelt hatten, dass man sich der individuellen Beobachtung von Einzelobjekten intensiver widmen konnte. Zum anderen fürchtete man eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Coudé-Fokus durch die vier Planablenkspiegel der Gabelmontierung, weshalb man der Englischen Montierung den Vorzug gab. Nach Beratungen in Moskau mit amerikanischen Astronomen kam sogar noch der Primärfokus hinzu, was die Gesamtkonzeption erschwerte.

Eine Englische Montierung hat für eine industrielle Fertigung den Vorteil, in einem weiten Polhöhenbereich ohne große Anpassungskonstruktionen einsetzbar zu sein. Alfred Jensch entwickelte demzufolge für die Englische Montierung eine Typenlösung von vier Größen, von denen später aber nur die ersten beiden Typen für den 400-mm-Doppelastrographen und das 1-m-Spiegelteleskop realisiert wurden.

Die Englische Montierung EM 4 zeigte sich jedoch etwas spröde in Bezug auf die höheren Ansprüche hinsichtlich des geforderten Automatisierungsgrades. Besonders die automatische Koordinatenvorwahl brachte Schwierigkeiten. Bei einer Gabelmontierung gab es keine Probleme wegen der Fernrohrlage Ost oder West, für eine Englische Montierung hätte man Einschränkungen in der Benutzbarkeit in Kauf nehmen müssen. Eine Rechnersteuerung erschien seinerzeit als ein kostspieliger Luxus, Prozessrechner kannte man nur in der Form von Rechengetrieben oder mechanischen Modellen, von denen in der Astronomie die sogenannte Phantomsteuerung der Kuppelnachführung am bekanntesten ist.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma brachte der Entwurf einer neuartigen parallaktischen Montierung, der sogenannten Stützmontierung, für die Alfred Jensch ein Patent erteilt wurde. Diese Montierung vereinigt in nahezu idealer Weise die Vorteile der Englischen und der Gabelmontierung unter Vermeidung der Nachteile beider Montierungen.

Die charakteristische Form der Anordnung des Gegengewichts der Stützmontierung weist auf das Prinzip der Lagerung der Stundenachse hin: Der Schwerpunkt des Teleskops liegt im Zentrum der Kugelzone der Öldrucklagerung. Die freie Beweglichkeit des Teleskops ließ nun mit vernünftigem Aufwand eine zuverlässige Automatisierung zu.

Es sei noch vermerkt, dass die Zeit nicht reichte, ein Modell der Stützmontierung zu erproben. Im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts und den Fähigkeiten von Alfred Jensch vertrauend wurde das Risiko übernommen, die Montierung in ihrer vollen Größe gleich in zwei Exemplaren zu bauen. Das Konstruktionsprinzip wurde lediglich mathematisch abgesichert, wobei die Gestaltung und Dimensionierung der Verbindung zwischen Teleskop und Fundament die höchste Aufmerksamkeit verlangte. Alfred Jensch gestand später, dass er ab und zu geträumt habe, die Montierung sei abgestürzt. Inzwischen sind vier Stützmontierungen gebaut worden, für die 2-m-Teleskope Ondrejov, Schemacha, Roshen und Terskol, und das Konstruktionsprinzip hat sich voll bewährt.

Anfang der 70er Jahre wurden die Ritchey-Chretien-Systeme modern. Über vierzig Jahre war das Prinzip bekannt, bei dem man durch die Kombination zweier Hyperbolspiegel ein aplanatisches Cassegrain-System erhalten würde. Durch die Entwicklung des Offnersystems als Prüfmittel für die Fertigung des Hauptspiegels konnte man sich an die Herstellung von Hauptspiegeln wagen, die ein großes Öffnungsverhältnis hatten. Obwohl eine solche Konfiguration eher Vorteile für die geplanten Teleskope der 3- und 4-m-Klasse brachte, wegen der geringeren Tubuslänge und der entsprechenden Kuppelgröße, schien auch für ein 2-m-Teleskop das Ritchey-Chretien-System ein Fortschritt zu sein. So wurde auch in Jena der Schritt ins Neuland gewagt und eine neue Rohrmontierung entwickelt.

Die neue Teleskop-Anlage entstand unter komplizierten Arbeitsbedingungen und forderte von Alfred Jensch mehr und mehr organisatorische Fähigkeiten, die zahlreichen Kooperationspartner anzuleiten und zu koordinieren. Er beschäftigte sich intensiv mit der Konzeption und der Realisierung der modernen Teleskop-Steueranlage, die in einem ungarischen Betrieb entwickelt und gebaut werden sollte. Der Übergang von der analogen Steuerung mit Drehmeldern zur digitalen Steuerung mit völlig neuen elektronischen Bauelementen der 3.Generation wurde bestens gemeistert. Diese Steuerung wurde später für die 1-m-Teleskope und das 2-m-Teleskop Terskol zu einer Rechnersteuerung nach modernstem internationalem Stand weiterentwickelt.

Die Jensch-Coelostaten

Die Sonnenbeobachtung stellt andere Forderungen als die Sternbeobachtung. Da sehr viel mehr Licht zur Verfügung steht, spielt nicht mehr das Öffnungsverhältnis eine Rolle, es geht mehr um die hohe Auflösung, also um lange Brennweiten.

So gab es eine Vielzahl von Konstruktionen, mit denen über Spiegelsysteme das Licht in ein feststehendes Fernrohr gelenkt wurde. Der Vertikal-Coelostat von Zeiss im Einstein-Turm Potsdam bot dem Beobachter bereits eine Reihe von Vorteilen bei der Einstellung auf die Sonne zu unterschiedlichen Jahreszeiten, die Einstellung nach Koordinaten wie bei einer parallaktischen Montierung gelang erst mit dem Jensch-Coelostaten.

Die erste Variante mit 300-mm-Planspiegeln entstand in den 50er Jahren, und eines dieser Geräte war auch im Observatorium Ondrejov eingesetzt, wo eine größere Abteilung für Sonnenphysik im Aufbau war. Neben dem 2-m-Teleskop für Sternphysik sollte eine leistungsfähige Sonnenbeobachtungsanlage entstehen. In Jena wurde die Konzeption eines Sonnenturmteleskops mit 1 Meter Öffnung erarbeitet, bei der Alfred Jensch wieder seine führende Hand zeigte. Er konnte in stärkerem Maße jüngere Mitarbeiter in die Entwicklungsarbeit einbeziehen, die einmal seine Nachfolge antreten sollten. Leider blieb es aus finanziellen Gründen bei einer Studie zu dieser Anlage.

Mehr Erfolg hatte dann das Programm zur Errichtung mehrerer Sonnenbeobachtungsstationen in der damaligen ČSSR, das zur Entwicklung der Horizontalen Sonnenforschungsanlage führen sollte. Für den Coelostat war das Konstruktionsprinzip zu entscheiden, wobei insbesondere die Effektivität der Beobachtungsarbeit für mitteleuropäische Klimabedingungen zu bedenken war.

Bei der Auswahl der Varianten, zu denen ursprünglich auch ein Polarcoelostat gehörte, zeigte sich wieder die Überlegenheit des Prinzips des Jensch-Coelostaten. Allerdings sollte der Coelostat mindestens 600 mm Planspiegel haben. Das war eine neue Aufgabe für Alfred Jensch, denn es war nicht möglich, einfach eine Vergrößerung des 300-mm-Coelostaten zu schaffen. Es mussten grundlegende Modifikationen, wie z.B. eine Umstellung auf eine Öldrucklagerung, vorgenommen werden, bei denen er aus seinem Erfahrungsschatz wertvolle Anregungen und Lösungsvorschläge geben konnte.

Die Entwicklung dieser Sonnenforschungsanlagen bildete den Abschluss der Tätigkeit von Alfred Jensch als Chefkonstrukteur in der Astroabteilung von Carl Zeiss Jena. Er trat 1977 seinen wohlverdienten Ruhestand an.

Während seiner Dienstzeit gab es für Alfred Jensch viele Anerkennungen und Auszeichnungen, auch für seine ehrenamtliche Tätigkeit in zahlreichen Gremien, wie z.B. im Vorstand der Urania-Volkssternwarte Jena. Eine besondere Ehrung wurde ihm anlässlich des 25jährigen Bestehens des Karl-Schwarzschild-Observatoriums am 18. Oktober 1985 in einem Festkolloquium in Tautenburg zuteil. Der Kleine Planet (3245), der in Tautenburg von F. Börngen und K. Kirsch entdeckt worden war, erhielt auf Vorschlag der Entdecker offiziell den Namen Jensch.

Die Namensgebung „Alfred-Jensch-Teleskop" für das 2-m-Universal-Spiegelteleskop in Tautenburg ist die Krönung des erfolgreichen Lebenswerks seines Urhebers, der den Astrogerätebau von Carl Zeiss Jena nachhaltig geprägt hat. Sein Vorbild, auch als Kollege und Freund, wird weiter wirken.

Meister des astronomischen Gerätebaus

bei Carl Zeiss Jena


Aus der Geschichte der Astro-Abteilung


G. W. Lichtenberg:

„…alle wichtigen Dinge geschehen durch Röhren..."

In dem bekannten Buch von Rolf Riekher "Fernrohre und ihre Meister", das den astronomischen Gerätebau bis in die neueste Zeit behandelt, ist auch der Anteil der Astroabteilung von Carl Zeiss Jena gebührend beschrieben. Insbesondere wird dort die Fortführung der von Fraunhofer entwickelten Technologien der Optik- und Mechanikfertigung sowie der Glasherstellung durch Carl Zeiss, Ernst Abbe und Otto Schott im Fernrohrbau betont.

Die besonderen Anforderungen an die Astrogerätetechnik sind vielfältig und dadurch gekennzeichnet, dass das Licht der einzige „Informant" von den Himmelsobjekten war. Die Aufmerksamkeit der ersten Astronomen der Frühzeit galt den Bewegungen der Himmelskörper an der Fixsternsphäre. Im Altertum wurde mit Ziel- und Winkelmessgeräten auch schon vor der Erfindung des Fernrohrs eine bemerkenswerte Genauigkeit erreicht. Durch die ersten, nach heutigem Standpunkt sehr primitiven Fernrohre des 17. Jahrhunderts wurde dann ein „neuer Himmel" entdeckt, der aus wesentlich mehr Sternen und anderen Himmelsobjekten bestand, als mit dem bloßen Auge erkennbar war.

Eine Aufgabe der Astronomen war also die Erfassung immer schwächerer „Lichtquellen", was zu immer größeren Auffangflächen, d.h. Durchmessern der Linsen- und Spiegeloptiken führte. Damit verbunden ist das Streben nach immer besseren Abbildungseigenschaften, um die extrem schwache Lichtmenge optimal auf einer Empfängerfläche, sei es im Auge, auf der Fotoschicht oder auf einem modernen elektronischen Bildempfänger, abzubilden.

Die Vergrößerung der Ausmaße der Fernrohre brachte erhebliche Probleme. Es ist erstaunlich, welche grundlegenden neuen Erkenntnisse z.B. mit den bis zu 40 m langen Luftfernrohren schon im 18. Jahrhundert erzielt wurden. Nicht weniger beeindruckend waren die großen Spiegelteleskope, mit denen Herschel oder der Earl of Rosse nunmehr in die Tiefen des Weltalls vorstießen. Die von Messier katalogisierten Nebelflecke wurden erst in diesem Jahrhundert zu den fernen Welteninseln, wie bereits Emanuel Kant vermutete.

Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war nach Bessel die Hauptaufgabe der Astronomen die exakte Vermessung der Lage und damit auch Bewegung der Himmelsobjekte. Die erste exakte Entfernungsbestimmung zu einem Fixstern durch Bessel mit Hilfe eines von Fraunhofer gefertigten Heliometers war dafür ein starkes Argument. Tycho Brahe hatte hierfür die ersten Maßstäbe gesetzt und Kepler daraus die Gesetze der Planetenbewegung abgeleitet. Demzufolge wurden sehr hohe Anforderungen an die sogenannten astrometrischen Instrumente gestellt, die auch für die Orts- und Zeitbestimmung mit der Entdeckung der neuen Welten an Bedeutung gewonnen hatten. Die Herstellung von Präzisionsteilungen für die Winkelmessung war eine wichtige Voraussetzung, die Messgenauigkeit im Bogensekundenbereich zu realisieren.

Die großen Refraktoren des 19. Jahrhunderts dienten neben der Beobachtung der Oberflächen des Mondes und der Planeten vorwiegend der Beobachtung und Vermessung der „engen" Doppelsterne, weshalb eine sehr gute Abbildung mit hoher Winkelauflösung erforderlich war.

Am Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte die Wende zur Astrophysik, in der die Astro"chemie" eingeschlossen war. Die Fraunhoferschen Linien in der Strahlung der Sonne und der Sterne wiesen auf eine universelle Verteilung der Materie hin. Es begann eine Zeit der Katalogisierung sowohl der Positionen als auch der Spektren mit fotografischen Mitteln, wodurch wieder höhere Anforderung an die Teleskope gestellt wurden, denn bei oft stundenlangen Belichtungen musste das Licht auf die gleiche Stelle der Fotoplatte exponiert werden. Lange Brennweiten, der Einfluss der wechselnden Biegung auf die Teleskopstrukturen, auch die wechselnden thermischen Einflüsse setzten entweder unvermeidliche Grenzen oder verlangten große Mühen bei der Beobachtung in völliger Dunkelheit und bei oft niedrigen Temperaturen.

Eine hervorragende Übersicht über die Entwicklung der Astrogerätetechnik gab 1897 Ambronn in seinem Handbuch der Instrumentenkunde, nach heutigen Begriffen ein Weltstandsvergleich, der sicher auch bei Abbe eine Rolle gespielt haben wird, als es um eine Erweiterung des Fertigungsprogramms durch eine Astroabteilung ging.

Die Gründung der Astroabteilung im Jahre 1897 war im Wesentlichen durch die neuen Gläser von Schott in die Wege geleitet worden. Mit Max Pauly, einem erfahrenen Amateur-Optiker, konnte Ernst Abbe einen Fachmann einsetzen. Sein von ihm aus neuen Schottgläsern gefertigtes Objektiv war von Max Wolf, dem Direktor der Heidelberger Sternwarte, als das Beste attestiert. In der Folge übernahmen die von Pauly gefertigten Zeiss-Astro-Objektive eine Spitzenposition hinsichtlich der Farbkorrektur. Sie waren damit die wesentliche Voraussetzung für eine breite Entwicklung und Fertigung von Fernrohren. Franz Meyer3, der erste graduierte Ingenieur des Zeisswerkes, kam ebenfalls mit Erfahrungen beim Bau des Großen Treptower Refraktors zu Zeiss. Er setzte neue Akzente mit dem nach ihm benannten Typ einer vielseitig nutzbaren parallaktischen Teleskopmontierung, die in der Folge auch für Spiegelteleskope (Innsbruck, Babelsberg, Hamburg-Bergedorf) mit Erfolg eingesetzt wurde.

Soweit die Skizze der Entwicklung bis zur Gründung der Astroabteilung im Jahre 1897. Das eigentliche Thema dieses Beitrags soll die neuere Geschichte der Astroabteilung in Jena sein, insbesondere einige wirtschaftshistorische Aspekte der Entwicklung.

Eine Würdigung der technischen Leistung ist, wie bereits erwähnt, bei Riekher erfolgt. Schwerpunkt der folgenden Ausführungen ist die Bedeutung der Astrogeräte-Entwicklung und -Fertigung für das Zeisswerk in Jena, insbesondere in der Zeit nach 1945 bis 1990.

Es sollen folgende Fragen beantwortet werden:

  • Welchen Stand hatte die Astroabteilung bis zum Beginn des 2. Weltkriegs erreicht?

  • Welche Ausgangsbedingungen gab es für die Fortführung der Astroabteilung?

  • Wie kam es zu dem außerordentlichen Aufschwung der Entwicklung und Fertigung von Astrogeräten?

  • Welche „Meister" haben die Entwicklung der Astroabteilung entscheidend beeinflusst?

  • Welche Innovationen kamen aus der Astroabteilung?

  • Welche Rolle spielten Kosten, Umsatz, insbesondere der Export?

  • Welche Impulse aus der Astroabteilung wirkten interdisziplinär im Zeisswerk?

Stand der Astroabteilung bis zum Beginn des 2. Weltkriegs:

Die Astroabteilung war, nicht zuletzt auch wegen der Zeiss-Planetarien, eine fest etablierte Warengruppe im Zeisswerk. Aus den Katalogen Astro 304 und 5165 geht die große Breite des Programms hervor, unterstrichen durch die umfangreiche Referenzliste von Sternwarten in aller Welt. Große Observatorien in Deutschland, wie Babelsberg, Potsdam, Hamburg-Bergedorf, Heidelberg, Sonneberg waren ebenso wie bekannte Observatorien in Belgrad, Tokio, Uccle, Nizza, Merate, Rostow, Stockholm, Castel Gandolfo mit modernen leistungsfähigen Astrogeräten von Carl Zeiss Jena ausgerüstet. Mehr noch als die Sternwartenausrüstungen trugen die Zeiss-Planetarien in den bedeutendsten Metropolen der Welt wesentlich zu dem internationalen Ruf des Jenaer Werks bei.

Kein zweites Unternehmen in der Welt hatte ein solches umfassendes Programm vom Amateur- und Aussichtsfernrohr bis zu großen Forschungsanlagen. Die sprichwörtliche Zeiss-Qualität war unübertroffen.

Die größten Teleskope waren jedoch in den USA in Betrieb, der 2,5-m-Hooker-Spiegel auf dem Mt. Wilson und der 2,07-m-Spiegel des McDonald-Observatoriums in Texas. Es gab auch noch zahlreiche große Refraktoren aus dem 19. Jahrhundert, als größter der Yerkes-Refraktor mit einem Objektiv von 1,06 m Durchmesser.

Wo stand hier Zeiss, wo stand die deutsche Astronomie, die bis zur Jahrhundertwende eine führende Rolle bei der Entwicklung der Astrophysik gespielt hatte?

Vor dem 2. Weltkrieg gab es eine große Chance für die deutschen Astronomen, wieder in die vorderste Linie der Forschung vorzudringen, was auch der Astroabteilung bei Carl Zeiss einen großen Aufschwung gegeben hätte.

Das Projekt eines 2-m-Teleskops, das im ehemaligen Deutsch-Süd-West-Afrika, jetzt Namibia, aufgestellt werden sollte, wurde ernsthaft bearbeitet. Die Pläne dafür gingen auf Prof. Finlay-Freundlich, den Initiator des Einsteinturms in Potsdam, zurück, der bereits Mitte der 20er Jahre ein Angebot für ein 2- bis 2,5-m-Spiegelteleskop von Zeiss erhalten hatte. Der Einsteinturm war entstanden und mit leistungsfähigen, neuartigen Zeiss-Geräten ausgerüstet worden, um den experimentellen Nachweis der Relativitätstheorie bringen. Die erforderlichen Finanzmittel waren durch eine Einstein-Spende erbracht worden.

Finlay-Freundlich erhoffte sich in ähnlicher Weise eine finanzielle Hilfe von der deutschen Industrie, insbesondere durch Geheimrat Bosch, dem Chef des IG Farbenkonzerns, der selbst eine mit Zeiss-Geräten ausgerüstete Privatsternwarte besaß.

Infolge der Weltwirtschaftskrise bestanden jedoch sehr geringe Chancen für eine baldige Realisierung. Nachdem Finlay-Freundlich aus rassistischen Gründen Deutschland verlassen musste, wurde das Projekt von Prof. Guthnick und Prof. Ludendorff, unter Mitarbeit von Prof. Kienle fortgeführt.

Bei Schott wurden schon Vorbereitungen für den Guss eines Tempax-Spiegels getroffen, ebenso entstand eine Reihe von Entwürfen für das Teleskop mit z.T. umfangreichen Berechnungen der Antriebstechnik. Auf diese Entwürfe wird später eingegangen.

Durch die Kriegsvorbereitungen kam das Projekt zum Erliegen.

In dieser Zeit wurde dann das sogenannte Mussolini-Projekt6 bearbeitet. Als großzügiges Geschenk Hitlers sollte eine große Sternwarte in der Nähe von Rom mit einem großen Spiegelteleskop, einem 650-mm-Refraktor und einem 400-mm-Doppelastrograph ausgerüstet werden. Das Projekt wurde trotz des Krieges vorangetrieben und war praktisch bei Kriegsende in der Endphase.

Bemerkenswert ist auch die Ausrüstung zahlreicher Beobachtungsstationen der Luftwaffe für die Überwachung der Sonnenaktivität im Zusammenhang mit deren Einfluss auf die Kurzwellenfunkverbindungen im Kriege.

Bei der Wiederaufnahme der Produktion nach Kriegsende gab es demzufolge einen beachtlichen Bestand an Astrogeräten.

Die für Rom bestimmten Teleskope fanden eine bessere Verwendung als Reparationslieferungen in die Sowjetunion für den Wiederaufbau der Sternwarte Pulkowo und der Krimsternwarte, die durch den Krieg verwüstet und beraubt worden waren.

Der Aufbau dieser Teleskope erfolgte unter Anleitung von Konstrukteuren und Spezialisten der Astroabteilung, die im Oktober 1946 nach Leningrad dienstverpflichtet wurden, um „einen Beitrag zur Wiedergutmachung" beim Aufbau der Astro-Fertigung im damaligen Leningrad zu leisten.

Zu den Konstrukteuren gehörte Georg Günzerodt, der 1937 gemeinsam mit Georg Mann an den Entwürfen für das 2-m-Teleskop gearbeitet hatte. Die entsprechenden Geräteakten waren mit nach Leningrad gekommen und kehrten erst 1989 wieder nach Jena zurück. Günzerodt hatte bei GOMS, der Staatlichen Fabrik für Optik-Mechanik, eine führende Rolle und baute dort ein Astrokonstruktionsbüro mit 70 Mitarbeitern auf, in das die deutschen Spezialisten integriert waren.7

Zu ihnen gehörte auch Walter Pfaff, der Astro-Optikspezialist bei Zeiss, der bereits in den 30er Jahren Spitzenleistungen hervorbrachte. Ursprünglich Maschinenbauingenieur arbeitete er sich in das Spezialgebiet besonders dadurch ein, dass er eine Vielzahl von neuartigen Maschinen und Vorrichtungen selbst konstruierte und damit eine rationelle Fertigung organisierte. Das Leistungspotential der Astro-Optikfertigung bei GOMS und dem daraus entwickelten Großbetrieb für Optik und Mechanik LOMO wurde von Pfaff begründet.

Schon vorher waren mit dem Abzug der Amerikaner aus Thüringen eine größere Anzahl von Zeiss-Spezialisten nach dem Westen „verbracht" worden, darunter der Gruppenleiter des Astro-Konstruktionsbüros Bruno Müller. Zu den Planetariumsexperten gehörten Prof. Bauersfeld und Dr. Helmut Werner.

Ausgangsbedingungen für den Wiederaufbau einer Astrofertigung

Was war nun in Jena nach der Demontage des größten Teils des Zeisswerkes übrig geblieben? War es eine dritte Garnitur? Wohl kaum, denn die ersten Ergebnisse des Neuaufbaus sollten sich bald zeigen.

Da waren zunächst die Facharbeiter in den Werkstätten, die Männer mit den goldenen Händen und langer Zeiss-Erfahrung. Ihr Wissen und Können war bei der Rekonstruktion der Vorkriegsgeräte gefragt, mit denen der erste dringende Bedarf im In- und Ausland gedeckt werden sollte. Es gab sogar eine Unterstützung aus Oberkochen durch Bruno Müller, der Informationen über konstruktive Parameter der Serienteleskope zur Verfügung stellte. Aus dem Schrott wurden Maschinen wieder aufgebaut, wie z.B. eine 1,2-m-Schleif- und Poliermaschine, mit der noch bis in die 80er Jahre erfolgreich gearbeitet wurde.

Auf der ersten Leipziger Messe im Jahre 1949 wurde ein großes Refraktor-Astrograph-Doppelinstrument ausgestellt, das später in der Zeiss-Werksternwarte der Erprobung neuer Optiken und Zubehörgeräte diente.

Da entwickelte Prof. H. Kienle, inzwischen Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, im Jahre 1948 die Idee eines großen deutschen Teleskops, die Vorkriegspläne wieder aufgreifend. Für eine Denkschrift8 an die Akademie der Wissenschaften und die (ost-) deutsche Wirtschaftskommission benötigte er eine Zuarbeit von Zeiss Jena, um sein Projekt zu untermauern.

Kienle brachte in dieser Denkschrift seine Überzeugung zum Ausdruck, dass „nur Zeiss und Schott in Jena" in der Lage wären, ein solches Projekt zu realisieren. Über die Kosten hatte er sich bereits soweit geäußert, dass sie denen von wenigen Kilometern Autobahn entsprechen würden, also vertretbar seien.

Der konstruktive Entwurf wurde Alfred Jensch übertragen, der als Amateurastronom in Sonneberg bei Cuno Hoffmeister Beobachter und Instrumentenbauer wurde, bevor er nach Jena kam. Aus französischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, war es seine erste und zugleich größte Aufgabe.

Die Leistungen von Jensch sind sowohl bei Riekher als auch vom Verfasser in der Zeitschrift „Die Sterne"9 anlässlich seines 80. Geburtstages umfassend gewürdigt worden.

Die Entwürfe von Jensch unterschieden sich wesentlich von denen der Vorkriegszeit. Die bisherigen Großteleskope verrieten ihre Herkunft aus dem Schwermaschinenbau, wo es in erster Linie auf Festigkeit und ordentliche Getriebetechnik ankommt. Fragen, wie eine Kompensation der thermischen und durch wechselnden Einfluss der Schwerkraft verursachten Einschränkungen der Leistungsfähigkeit standen noch nicht zur Debatte oder waren noch nicht erprobt. Jensch kannte als erfahrener Beobachter diese Probleme. Er wusste, dass nur durch prinzipielle, gut durchdachte Lösungen und durchgerechnete Konstruktionen ein modernes Teleskop den gewünschten Erfolg bringen würde.

Wir wollen kurz ein Blick in die astrogerätetechnische Welt des Jahres 1948 werfen. Der 5-m-Spiegel in den USA, in dem viele neue, aber noch nicht erprobte technische Lösungen steckten, war noch nicht in Betrieb genommen. Ein deutsches 2-m-Teleskop wäre somit nach dem 2,5-m-Hooker-Spiegelteleskop und dem 2,07-m-McDonald-Spiegelteleskop das drittgrößte Teleskop der Welt gewesen.

Es gab aber damals keine Möglichkeit, Näheres darüber zu erfahren. Selbst westdeutsche Astronomen, wie Prof. Heckmann aus Hamburg, hatten große Mühe, eine USA-Reise zu finanzieren. Von ihm kamen dann Informationen, die auch in die Konstruktion des großen Schmidtspiegelteleskops für die Sternwarte Hamburg-Bergedorf einflossen. Dieses Teleskop, eine Gemeinschaftsarbeit von Carl Zeiss Jena und der Hamburger Firma Heidenreich & Harbeck, wurde 1956 erfolgreich in Betrieb genommen.

Neben dem 5-m-Spiegel war nämlich auf Vorschlag von Walter Baade, der vormals in Hamburg die Entwicklungen von Bernhard Schmidt „erlebt" hatte, der sogenannte Big Schmidt entstanden. Mit diesem neuartigen Optiksystem sollten die großen Sternfelder aufgenommen werden, um die interessanten Objekte für die Einzeluntersuchungen mit den 5-m-Spiegel herauszufinden.

Prof. Kienle erkannte, dass er nur e i n Teleskop fordern und eventuell erreichen könnte. So kam die Aufgabe nach einem Mehrzweck-Teleskop zustande, eine Herausforderung für Jensch als Konstrukteur, aber auch für Zeiss und Schott in Jena für die Realisierungsphase. Diese Art von Teleskop schien Kienle auch deswegen vorteilhaft, weil die weitere Entwicklung der Astronomie und Astrophysik noch nicht abzusehen war.

Der Weitsicht von Dr. Schrade, dem Werkleiter, und von Prof. Harting, dem wissenschaftlichen Leiter des Zeisswerkes, sowie der Unterstützung durch zahlreiche Astro-Sympathisanten in den verschiedensten Behörden bis in die Ministerien hinein ist es zu verdanken, dass diese Aufgabe übernommen und damit eine solide Basis für eine neue, leistungsfähige Astroabteilung bei Zeiss und Schott in Jena geschaffen wurde.

Jensch schuf aber nicht nur die Entwürfe, sondern er organisierte auch die zügige Überleitung der Fertigungsunterlagen in die Technologie und die eigentliche Fertigung. Das übliche Verfahren war, ein Gerät erst vollständig konstruktiv zu erarbeiten und dann nach abgeschlossener technologischer Überarbeitung in die Fertigung überzuleiten. Jensch ließ in sich geschlossene Baugruppen mit exakt definierten oder modifizierbaren Schnittstellen entwickeln, die dann reihenweise und auch manchmal parallel in die Fertigung übergeleitet wurden. Bei dieser Aufgabe erhielt das 2-m-Projekt aktive Unterstützung durch den Technischen Direktor Rudolf Müller (Rumü) und den Astro-Fertigungsleiter Helmut Kittler.

Das Konstruktionsbüro hatte nach seiner Rückkehr aus Leningrad Günzerodt übernommen, und die erfahrenen „Leningrader" trugen wesentlich zum zügigen Fortgang der Konstruktionsarbeiten bei. Das von Jensch gewählte Konzept und seine Entwürfe wurden neidlos anerkannt. Die Entwürfe aus der Vorkriegszeit waren noch in Leningrad und wurden daher nicht diskutiert, sie waren auch technisch überholt.

Auf dem von Bombentrümmern im Südwerk geräumten Gelände wurde eine große Halle für die Optik- und Mechanik-Fertigung gebaut, mit großen Spezialmaschinen ausgerüstet, u.a. eine in Eigenentwicklung hergestellte 2-m-Verspiegelungsanlage und eine Hochgenauigkeits-Schneckenradschneidmaschine. Bei Schott wurden umfangreiche Vorbereitungen getroffen, um mehrere 2-m-Rohlinge aus dem Glas ZK 7 zu gießen. Die Wahl dieses Glases war in gewisser Hinsicht ein Notbehelf, denn für das bei höherer Temperatur zu schmelzende Tempax. Wesentliche Aktivitäten kamen dort von Dr. Moritz und dem Leiter der Astro-Optik Hans Hoch.

Im Maschinenbau bei Zeiss wurde eine große 4-m-Karussel-Drehbank installiert, die lange Zeit nur für die Präzisionsbearbeitung großer tonnenschwerer Astroteile reserviert war. Dazu gehörten schwierigste Schweißkörper, von deren Qualität die von Jensch erdachte Kompensation der Schwerkraft abhing. Diese Spitzenqualität der Zeiss-Spezialisten der Schweißkonstruktion und der praktischen Schweißtechnik überraschte sogar die Experten des Zentralinstituts für Schweißtechnik in Halle.

Zahlreiche Kooperationsbeziehungen mit Großbetrieben in der damaligen SBZ wurden aufgebaut. So wurde die 20-m-Kuppel beim Sächsischen Brücken- und Stahlbau in Dresden nach Zeiss-Zeichnungen gefertigt. Auch der Zementanlagenbau in Dessau oder der Schwermaschinenbau in Magdeburg waren integriert. Das Projekt gab dem Wiederaufbau der zerstörten Industrie an vielen Orten einen bedeutenden Anschub, nicht zuletzt wegen der hohen technischen und qualitativen Anforderungen.

Die Bearbeitung der 2-m-Spiegel-Optiken (ein 2-m-Planspiegel, ein 2-m-Hohlspiegel und die 1,34-m-Korrektionsplatte) hatte die Astro-Optikfertigung unter Leitung von Horst Schwinge aufgenommen, der bereits die Hamburger Schmidt-Optik in hervorragender, die Spezifikation überbietender Qualität gefertigt hatte. Leider starb Schwinge unerwartet, so dass Pfaff nach seiner Rückkehr aus Leningrad die Leitung der Fertigung der schwierigen Optikelemente des 2-m-Teleskops übernahm, unter wesentlicher Mitarbeit von Hans Grimm und Horst Seifert. Pfaffs konstruktive Fähigkeiten bewies er erneut beim Entwurf und dem Bau des Vakuumwerkzeugs für die Herstellung der größten Schmidt-Korrektionsplatte der Welt.

Pfaff baute die Optikwerkstatt weiter mit zahlreichen Fertigungs- und Prüfeinrichtungen aus, worüber er in der Jenaer Rundschau10 berichtet hat. Später entstand auf dem Gelände der alten Gasstation von Schott eine neue Astro-Optikfertigung mit einem zukunftsorientierten Astro-Optikprüfturm, nach einer von Helmut Artus 1976 entwickelten Konzeption mit einem Vakuumtanksystem zur Optimierung der Prüfbedingungen. Insbesondere für die Prüfung der hyperbolischen Ritchey-Chretien-Hauptspiegel wurde durch Dr. Karl-Heinz Weßlau und Dr. Heinzgünther Reichardt die vom Verfasser 1960 modifizierte Hartmannprüfung durch neue von einander unabhängige Prüfverfahren und -techniken vervollkommnet. Höhepunkt dieser Entwicklung wurde 1992 die in real-time durchgeführte Erprobung und Prüfung eines 1,5-m-Leichtgewichtsspiegels mit aktiver Lagerung für das HEXAPOD-Projekt der Ruhr-Universität Bochum, dem eine Spitzenqualität bescheinigt werden konnte.

Das Tautenburger Teleskop wurde 1960 in Betrieb gestellt. Ihm folgten 1966 bzw. 1967 die 2-m-Teleskope für Ondrejov und Schemacha, später 1976 für Roshen und 1994 für Terskol, ebenso entscheidend durch Alfred Jensch beeinflusst, der für diese Teleskope eine neue Teleskopmontierung erfand, die man in die Kategorie der Innovationen einordnen kann wie seinerzeit, vor etwa 60 Jahren, die Meyersche Entlastungsmontierung.

Immer mehr Teleskope entstanden als Seriengeräte, seien es nun über 100 Coudé-Refraktoren für Volkssternwarten, oder mehr als 50 600-mm-Teleskope als ökonomische Arbeitspferde oder die 13er Serie der 1-m-Teleskope, von denen das jüngste Gerät auf den Kanaren in das Weltraumkommunikation-Programm SILEX integriert ist. Nicht zu vergessen die Tausenden von Schul- und Amateurfernrohre.

Parallel zu der Entwicklung und dem Bau der Beobachtungs- und Auswertegeräte erfolgte die Planetariumsentwicklung durch eine kleine Gruppe von Spezialisten im Konstruktionsbüro und in der Fertigung, die über langjährige Erfahrungen schon aus der Anfangszeit der Planetariumsentwicklung verfügten. Fritz Pfau war der Konstrukteur des Modells II mit der charakteristischen Hantelform, das in einer Serie von 25 Geräten im Laufe von knapp zwei Jahrzehnten gefertigt wurde. Walter Gebauer hatte schon die ersten Planetarien mit gebaut und sich zum legendären „Sternenstecher" entwickelt, der die „Sternenlöcher" in die Kupferfolie stanzte. Er hatte auch Planetarien bei den Kunden montiert und war sogar als langjähriger Vorführer und Vortragender im Jenaer Planetarium erfahren. Gebauer gehörte übrigens mit seinem Sohn Lothar zu den Astro-Spezialisten, die in Leningrad bis 1951 tätig waren, wobei er mit Pfaff zusammenarbeitete.

Hinzu kam Gerhard Vogel, der nach dem Ausscheiden von Pfau der führende Planetariumskonstrukteur in Jena wurde. Aktive Mitarbeiter waren Helmut Böhme und Peter Wöckel.

Das Jenaer Planetariumsgerät aus dem Jahre 1926 existierte noch, es gab aber keine Zeichnungsunterlagen mehr. Lediglich die allerdings sehr ausführliche Bedienungs- und Wartungsvorschrift und das Wissen der Spezialisten waren vorhanden. Wer würde sich aber in dieser Notzeit für ein neues Planetarium interessieren?

Ein politisches Moment gab den notwendigen Anschub für die Wiederaufnahme der Planetariums-Entwicklung und Fertigung. Stalin sollte aus Anlass seines 70. Geburtstages im Dezember 1949 ein würdiges Geschenk der Werktätigen der DDR erhalten in Form eines Planetariums und einer Sternwarte für das schwer zerstörte Stalingrad.

Das Projekt bekam dadurch eine breite Unterstützung. Da keine unmittelbar verwendbaren Zeichnungsunterlagen existierten, konnten auch ohne entsprechende Rücksichtnahme auf bisherige Konstruktionen neue Erkenntnisse der Antriebstechnik übernommen werden, so z.B. der stufenlos veränderliche Antrieb für alle Geräteachsen.

Die ersten Zeiss-Planetarien der Nachkriegsfertigung kamen aus Jena, dem Stalingrader Gerät folgten Geräte für Peking, Kattowitz, Prag, Kalkutta, Akashi, Jakarta, Bogota und weitere Großstädte in Ost und West.

Inzwischen war auch das Kleinplanetarium rekonstruiert, das ursprünglich für die Nautik-Ausbildung bei Luftwaffe und Marine entwickelt worden war. Eine große Zahl von Volkssternwarten nutzten die „Schlechtwetter-Variante" der Himmelsbeobachtung.

Ab Mitte der 60er Jahre gab es infolge der sich entwickelnden Weltraumfahrt einen großen Boom auf dem Planetariumsgebiet. Zunächst nur durch einen zusätzlichen Satellitenprojektor wurden immer mehr Raumfahrteffekte integriert, was dann 1965 zur Entwicklung des Raumflug-Planetariums „SPACEMASTER" führte, einer Anregung des Moskauer Planetariums folgend. Wesentliche Neuerung dieses „Mittel"-Planetariums war die automatische Steuerung der Antriebs- und Projektor-Funktionen, was den Routinebetrieb beträchtlich erleichterte.  

Die ersten Geräte gingen nach Brasilien (Rio de Janeiro, Santa Maria, Porto Allegre und Goiania) sowie nach Polen (Olzstyn). Die Entwicklung dieses „Queen-Size" Planetariums entsprach den gewachsenen Markt-Erfordernissen, denn nicht nur die Metropolen der Welt, sondern auch die Großstädte mit mehreren Hunderttausend Einwohnern waren an solcher kulturellen Attraktion interessiert.

Ebenso wie bei Großplanetariumsprojekten wie in Peking, Kalkutta, Jakarta wurden die Kunden der Raumflug-Planetarien nicht nur hinsichtlich der technischen Gestaltung des Vorführraums beraten, es kam auch eine architektonische Beratung bis zum Angebot eines schlüsselfertigen Projekts mit Zwischenstadien zum Leistungsspektrum des Planetariumsexports hinzu. Beispiele hierfür ist das Raumflug-Planetarium Tripolis, das als schlüsselfertiges Objekt bereitgestellt wurde, an dem Gertrud Schille als Architektin und Ulrich Müther (Spezialbetonbau Binz) für den Schalenbau verantwortlich waren. In gleicher Weise wurde die architektonische Gestaltung des Planetariums Wolfsburg von Jena aus entscheidend beeinflusst.

Gleichzeitig entstand Mitte der 60er Jahre auf Grund moderner Forderungen aus den Planetarien Calgary, Toronto und Vancouver ein neuer Typ von Großplanetarien. Ursprünglich ging es bei den ersten Planetarien mehr um eine optische Modelldarstellung mit vorwiegend didaktischen Zielen. Durch einen möglichst naturgetreuen Sternenhimmel und entsprechende Showeffekte blieb das Planetarium attraktiv wie bisher. Das große Plus dieser Entwicklung „Der Jenaer Himmel" war nach Einschätzung der Berater des Planetariums Toronto schon Ende der 60er Jahre der beste der Welt!

Die neue Tendenz, nämlich die Integration der Automatisierungs- und Rechentechnik und die Steigerung der Natürlichkeit des Sternhimmels, wurde in Jena konsequent verfolgt und führte über den Typ Cosmorama zum absoluten Spitzentyp Universarium Modell VIII mit dem Jenaer Patent der Faserprojektion aller Fixsterne. Aus Anlass des 150jährigen Jubiläums von Carl Zeiss Jena wurde im Jenaer Planetarium das neueste Modell VIII installiert, dessen unvergleichbar strahlender Himmel als das non-plus-ultra der Planetariumsprojektion mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.

Parallel zur Entwicklung des Großplanetariums wurden auch die Klein- und Mittelplanetarien auf den neuesten Stand gebracht. So hatte das Raumflugplanetarium Wolfsburg 1979 die erste direkt programmierbare Computersteuerung.

Das in Wolfsburg 1996 installierte Folgegerät Starmaster entspricht dem Universarium hinsichtlich der prinzipiellen Anordnung der Projektoren in einem Starball mit computergesteuerten Planetenprojektoren. Es zeichnet sich besonders durch eine Optimierung der Zahl der Fixsternprojektoren aus. Anstelle von 32 sind es nur noch 12 mit speziellen Weitwinkelobjektiven ausgerüstete Fixsternprojektoren. Auch hier sorgt die Faserprojektion für eine unübertroffene Brillanz des Sternenhimmels.

Die Aufwärtsentwicklung der Jenaer Planetarien wurde durch den Verfasser initiiert und lange Jahre in Arbeitsteilung und später selbständiger Fortentwicklung durch Dr. Ludwig Meier betrieben, der auch die neue Starmaster-Variante konzipierte. Durch jahrzehntelange Tätigkeit als Vortragender im Jenaer Planetarium und seine weltweite Tätigkeit auf dem Planetariumsgebiet verfügt er über profunde Kenntnisse und Erfahrungen.

Welche Bedeutung hatte die Astroabteilung kommerziell?

Schon Auerbach weist auf die Schwierigkeiten einer rentablen Fertigung von Astrogeräten hin. Hellmuth und Mühlfriedel zeigen auf, dass in den ersten Jahren nach der Gründung der Astroabteilung das Geschäft keineswegs lukrativ war.

Verglichen mit den Warengruppen Mikro, Fernrohr, Foto, Feinmess, Mess und Bildmess war die Warengruppe Astro klein, wenn auch das Sortiment sehr breit war und sich teilweise auf die größeren Warengruppen stützte. Das traf besonders auf die Auswerte- und Zubehörgeräte zu, beispielsweise die Koordinatenmessgeräte und Sternplattenkomparatoren oder die Spektrographen und Photometer. Das kleinste Astroerzeugnis war ein Okularzubehör von wenigen Gramm, das größte ein 2-m-Teleskop in einer 20-m-Sternwartenkuppel mit insgesamt mehreren Hundert Tonnen Masse.  

Produktionsvolumen und Wert der Astroproduktion bewegten sich über die Zeit bei wenigen Prozenten der Gesamtleistung des Zeisswerkes und waren starken Schwankungen unterworfen. Scheinbare Leistungsspitzen ergaben sich, wenn nach mehreren Jahren Fertigungszeit ein Großgerät „ausgestoßen" wurde, was rein rechnerisch sehr positiv für die Planerfüllung des gesamten Werkes war. Auch ohne diesen Effekt könnte sich ein florierendes Unternehmen einen solchen Aufwand mit der bekannten hohen Werbewirksamkeit der Astrogeräte und Planetarien eigentlich leisten, ohne zu fragen, „ob es sich rechnet"!

Fritz Pfau, der langjährige Planetariumskonstrukteur, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass die Verantwortlichen der Astroabteilung in den 30er Jahren oft der Geschäftsleitung Rede und Antwort stehen mussten, weil die Erträge zu wünschen übrig ließen. Die Schwierigkeit, im „Zwölftel Dutzend" zu fertigen, wurde immer wieder von der Fertigung beklagt.

Der Aufbau einer großen Astroabteilung ab 1950 konnte daher keineswegs als eine Marotte angesehen werden, mit der die Werkleitung ein Glanzlicht setzen wollte, ohne Rücksicht auf Kosten und Erlöse. Es war zunächst eine wichtige Aufgabe des Wiederaufbaus, bei der Carl Zeiss und Schott in Jena zeigen und beweisen konnten, wozu sie fähig wären.

Während dieser Zeit wurde auch aus wirtschaftlichen Gründen begonnen, ein Basissortiment an Astrogeräten zu rekonstruieren, für das international ein entsprechender Bedarf bestand.

Das Stichwort „Grundlast" spielte eine große Rolle, und es gab eine nicht geringe Lagerfertigung. Sowohl bei den bekannten Geräten und umso mehr bei neuen Geräten dauerte es eine längere Zeit von der Angebotsabgabe bis zur Auftragserteilung. Dabei darf nicht vergessen werden, dass astronomische Geräte im Normalfall keine echten Produktionsmittel sind, mit denen eine materiell in Nutzen berechenbare Wertschöpfung verbunden ist. Zwar wurde der Spruch eines amerikanischen Präsidenten des vorigen Jahrhunderts oft zitiert: „Am Zustand der Sternwarten eines Landes könne man auf den des betreffenden Landes schließen!"

Es kam oft auf eine günstige Konstellation an: Ansehen des Antragstellers, einflussreiche Befürworter und flüssige Finanzmittel.

Von der ersten Idee beim Kunden bis zur Bestellung dauerte es oft Jahre, manchmal Jahrzehnte. Die Erfolgsrate der Angebote war nicht nur gering, weil nicht jeder Wunsch des Astronomen bewilligt wurde, sondern weil auch oft mehrere Konkurrenten um den Auftrag bemüht waren.

Manchmal war diese Zeitverzögerung ein Vorteil, weil die Geräte ausreifen konnten, denn nicht jede neue Idee, die in den fortschrittlichen Sternwarten ausgedacht und erprobt wurde, brachte sofort den gewünschten Erfolg.

Zu den wichtigen Geräten der Nachkriegsfertigung gehörte auch das von Franz Meyer um 1930 konstruierte Koordinatenmessgerät, Komess genannt. Die Konzeption dieses Gerätes war damals seiner Zeit weit voraus, aber es wurden zunächst nur wenige Exemplare gebaut.

Bei seiner Rekonstruktion Anfang der 50er Jahre wurden die neuen Prinzipien der Konstruktionssystematik angewandt, und es war hinsichtlich der Fertigungstechnik und seiner Messgenauigkeit up-to-date. Eine systematische Untersuchung seiner Leistungsfähigkeit war das Thema seiner Diplomarbeit und führte den Verfasser 1954 zu Zeiss als Industrieastronomen. Das auch ergonomisch sehr günstige Gerät fand sehr guten Absatz in Ost und West.

Anfang der 60er Jahre wurde das nunmehr ASCORECORD genannte Gerät als erstes Zeiss-Gerät in Jena mit elektronischen Ablese- und Registriereinrichtungen versehen, unter völliger Beibehaltung des Grundprinzips. Auf internationalen Konferenzen in Lissabon und Hamburg bestimmte es 1964 den Weltstand.

Um 1970 entstand in der Mikroelektronik-Industrie des RGW ein großer Bedarf an einem hochproduktiven Präzisionsgerät zur Vermessung von Strukturen im Prozess der Herstellung integrierter Schaltkreise. Zuletzt mit Rechnerkopplung wurde das Gerät zunehmend in größeren Serien gefertigt, die für Astrogeräte ungewöhnlich waren. Es wurden mehr als 700 Geräte verkauft.

An diesem Beispiel soll gezeigt werden, dass es uns in der Folge darauf ankam, eine Serienhaftigkeit bei gleichzeitiger Beachtung der wissenschaftlich-technischen Dynamik zu erzielen. Das geschah teilweise durch einen hohen Wiederholteilgrad, z.B. bei den Schul- und Amateurfernrohren. Ausgeprägt war auch die Einbeziehung anderer Zeiss-Entwicklungen, denn es hätte sich nicht gelohnt, Sonderentwicklungen für Astro durchzuführen. Oft wurden auch anderweitig nicht aufgegriffene Lösungswege aufgenommen. Und es gab auch echte Innovationen, wie den Kugelschraubtrieb, den Alfred Jensch als spielfreien Antriebsmechanismus in die Tautenburger Beobachtungsbühne einbaute, bevor er in der Industrie eingeführt wurde und später eine weite Verbreitung fand.

Wie riskant und schließlich erfolgreich war die Entwicklung der neuartigen Stützmontierung für die 2-m-Teleskope Ondrejov und Schemacha Anfang der 60er Jahre. Die sich entwickelnde Automatisierung der Teleskope verlangte eine andere Lösung als die vorgesehene Englische Montierung. Mitten im laufenden Entwicklungsprozess wurde sozusagen das Ruder herumgerissen und ein neuer Kurs gefahren. Wie Franz Meyer mit seiner Entlastungsmontierung beim Großen Treptower Refraktor schuf Alfred Jensch ein neues Gerät gleich im Originalmaßstab, ohne Versuchsmuster.

Die Kostenseite verbesserte sich durch die Kleinserien- oder Folgegeräte-Produktion.

Ein Bispiel dafür sind die 1-m-Teleskope, von denen 13 Geräte in einem Zeitraum von etwa 20 Jahren gefertigt wurden. Die ersten Verhandlungen mit indischen Astronomen begannen anlässlich der Astro-Ausstellung während der Konferenz der Internationalen Astronomischen Union 1964 in Hamburg, wo übrigens auch das ASCORECORD erstmalig vorgestellt wurde. Wegen der niedrigen geographischen Breite in Indien wurde eine sogenannte Englische Montierung gewählt, die in einem breiten Polhöhenbereich ohne erhebliche Anpassungsprobleme eingesetzt werden kann. Schließlich wurden zwei nahezu identische 1-m-Teleskope nach Indien geliefert (Kavalur und Nainital). Das nächste Teleskop kam nach Ungarn, wo Zeiss eine leistungsfähige Elektronikfirma VILATI in Budapest als Partner für eine moderne Steueranlage gewinnen konnte. So war der weitere Absatz mit dem Weltstand entsprechenden Teleskopen gesichert, nicht zuletzt wegen der hervorragenden optischen Qualität der neuartigen Ritchey-Chretien-Optik. Besonderes Interesse fanden diese Teleskope in der damaligen UdSSR, wo sie unter hervorragenden astroklimatischen Bedingungen in Mittelasien konzentriert wurden. Wie erwähnt, arbeitet das letzte Teleskop dieser Serie im Rahmen des SILEX-Programm auf den Kanaren.

Dank des relativ hohen Exportanteils ins westliche Ausland, besonders bei den Planetarien und bei einer ebenfalls relativ guten Devisenertragslage wurde kein ernsthafter Versuch unternommen, die Astroentwicklung wegen geringer Erträge zurückzufahren oder gar einzustellen.

Eine kritische Phase bestand Anfang der 70er Jahre, als zugunsten des anwachsenden Programms für die Elektronikindustrie der UdSSR der Fortbestand der Astroabteilung in Frage stand. Glücklicherweise retteten eine Großserie des ASCORECORD von 95 Geräten, der Auftrag für das 2-m-Teleskop Bulgarien und dann der obligatorische Astronomieunterricht in der DDR mit dem großen Bedarf an Schulfernrohren die Situation.

Wodurch war der internationale Erfolg begründet?

Die damals verantwortlichen Astronomen in Ost und West waren mit der Astroabteilung von Carl Zeiss Jena seit langem vertraut, entweder durch Besuche in Jena oder aus Kontakten bei nationalen und internationalen Kongressen. Es war selbstverständlich, dass man nicht warten konnte, ob und wann die Kunden zu uns kommen.

In der ersten Zeit nach dem Krieg wurden auch kleine Aufträge zur Komplettierung bestehender Teleskope oder Reparaturen übernommen, wobei unsere Spezialisten ihre Kompetenz beweisen konnten. Z.B. öffnete die Reparatur des 600-mm-Spiegelteleskops in Nanking den chinesischen Markt für umfangreiche Lieferungen. Andererseits war die deutsche Konkurrenz nicht sehr stark entwickelt. Der Nachfolger der Firma Bamberg, die ASKANIA-Werke in Westberlin, konnte sich zwar an einem Großauftrag für Venezuela beteiligen, zu dem das Werk in Oberkochen einen großen 650-mm-Refraktor und ein 1-m-Spiegelteleskop beisteuerte. Später aber „fusionierten" beide Astroabteilungen.

Eine große Rolle spielte das Tautenburger 2-m-Teleskop-Projekt, das in der Aufbauzeit von einen Direktorium führender deutscher Astronomen betreut wurde, das aus den Professoren Kienle, Wempe, Heckmann, Hoffmeister, Wellmann und Prof. Görlich bestand. Durch diese international bekannten Forscher wurden die Verbindungen zu anderen Astronomen geknüpft, Dafür sorgten z.B. auch die Astronomen der ČSSR in Verbindung mit dem Aufbau des Observatoriums Ondrejov.

Diese intensive Hinwendung zum Kunden entsprach der Tradition des Zeisswerks in Jena, und es wurden auch größere Aufwendungen nicht gescheut, um für die Astrogeräte von Carl Zeiss Jena zu werben.

Ein internationaler Höhepunkt war der Kongress der Internationalen Astronomischen Union 1967 in Prag aus Anlass der Übergabe der 2-m-Spiegelteleskop-Anlage in Ondrejov bei Prag. Damit verbunden war eine große Astro-Ausstellung mit zahlreichen Neuentwicklungen, wie dem Raumflug-Planetarium SPACEMASTER, dem Satellitenbeobachtungsgerät, dem photographischen Zenittelkeskop, dem weiterentwickelten ASCO-RECORD und anderen Zubehörgeräten.

Nicht unerwähnt sollen die Aktivitäten der Astrovertriebsabteilung bleiben, deren langjährige Leiterin Anita Pieritz in dieser Abteilung von der Pike auf gelernt hatte und ebenso risiko- wie entscheideungsfreudig war, was die Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit aller beteiligter Teilbereiche der Astroabteilung war.

Die Neuentwicklung des 2-m-Teleskops auf der Stützmontierung und auch Weiterentwicklungen der 20-m-Kuppel und Beobachtungsbühnen, sowie die oben erwähnten neuen Geräte wurden in Verbindung mit einem Dresdener Konstruktionsbüro realisiert, das nach dem Abbruch der dortigen Flugzeugentwicklung als Außenstelle von Carl Zeiss Jena tätig war. Trotz dieser Umstellung leisteten die ehemaligen Flugzeugkonstrukteure unter der Leitung von Stefan Hartung hervorragende Arbeit, später auch auf einem Arbeitsgebiet, das auch die gelernten Astrokonstrukteure in Anspruch nahm.

Nicht vergessen sei die wichtige Rolle der Werkzeitschrift „Jenaer Rundschau/Jena Review" unter deren langjährigem Chefredakteur Dr. Rudolf Jobst. Zahllose Beiträge über neue Geräteentwicklungen, z.B. die Sonderbeilage zum 2-m-Teleskop Tautenburg oder das Sonderheft zur IAU-Tagung 1967 in Prag mit dem schon erwähnten umfangreichen Programm, hatten eine große Werbewirksamkeit. Ebenso waren zahlreiche international bekannte Astronomen als Autoren zu aktuellen astronomischen Themen vertreten. In der schwierigen Zeit um 1970 verstand es Jobst, die Astroentwicklung bei Zeiss präsent zu halten, auch wenn sie vorübergehend auf „Sparflamme" weiter lief. Diese Politik der starken Werbung für Astrogeräte und Planetarien wurde von Dr. Josef Wustelt, dem Nachfolge von Jobst, erfolgreich weiterverfolgt.

Parallel zur Weiterentwicklung des 2-m-Teleskops für Bulgarien, das ebenfalls wie die 1-m-Teleskope mit einer leistungsfähigeren Ritchey-Chretien-Optik ausgestattet werden sollte, wurden durch Konstrukteure der Astroabteilung Produktions- und Messgeräte für die Mikroelektronik-Industrie mit entwickelt. Es ging um die Herstellung und Vermessung von Mikron- und Submikronstrukturen, um den Wettlauf mit der amerikanischen Konkurrenz aufzunehmen, letztlich um eine hochrangige militärstrategische Aufgabe.

Hier entwickelte Walter Pfaff eine Technologie zur Präzisionsbearbeitung von Metall für die Repeaterfertigung. Er übertrug die Erfahrungen aus der Optikfertigung, und es wurde mit großen Optikmaschinen eine Metall-Läpperei aufgebaut, in der die geforderte hohe Führungsgenauigkeit der Koordinatentische realisiert wurde.

Eine besondere Spitzenleistung erreichte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Manfred Steinbach, einem Schüler von Prof. Bischoff. B. , ehemals führender Konstrukteur in der Astroabteilung, hatte eine Ilmenauer Schule der modernen Feinmechanik-Optik-Konstruktion mit anderen ehemaligen Zeissianern (Hasselmeier, Hansen, Grünewald) begründet, aus der zahlreiche junge, später sehr erfolgreiche „Kader" für das wachsende technisch-wissenschaftliche Potential des Zeisswerkes hervorgingen.

Das Gerät hieß schlicht M 100 und wurde in zwei Exemplaren für die Qualitätskontrolle der verschiedenen Repeatertypen gefertigt. In einem Messbereich von 100 x 100 mm² wurde eine absolute Messgenauigkeit von der Größenordnung von 10 Nanometern erreicht.

Lassen Sie mich zusammenfassen:

Insgesamt liegt die Bedeutung der Astro-Entwicklung und -Fertigung im wissenschaftlichen und technologischen Schub, den die Anforderungen an die Astrogerätetechnik im Werk erzeugten.

Große technische Präzisionsgeräte, die in der freien Natur Grenzleistungen der Optik bringen müssen, Zubehörgeräte aus allen Bereichen der physikalischen Messtechnik, komplette Teleskop- und Planetariums-Anlagen verlangten ein hohes Maß an Zusammenarbeit mit wechselseitiger Befruchtung.

Diese Zusammenarbeit erfüllte die Abbeschen Forderungen, die Prof. Harting 1951 in seiner Darlegung des künftigen Programm des Zeisswerks aus eigener Erinnerung zitierte: „Neuerungen auf optischem Gebiet dürfen nur von Carl Zeiss Jena kommen!", und es gab dafür einen unverrückbaren Grundsatz „Erreichung der höchsten Güte an Leistung und Beschaffenheit".

Meine Erinnerungen an Alfred Jensch
und unsere gemeinsame Zeit

Über Alfred Jensch habe ich bisher drei Beiträge verfasst. Einen anlässlich seines 70. Geburtstags im Jahre 1982 in der Jenaer Rundschau, einen weiteren zu seinem 80. Geburtstag mit dem Titel „Alfred-Jensch-Teleskop" in der Zeitschrift „Die Sterne" im Jahre 1992, der auf der Homepage der Thüringer Landes-Sternwarte Tautenburg (www.tls-tautenburg.de/history/) wiedergegeben ist. Der dritte ist ein Nachruf in den Mitteilungen der Astronomischen Gesellschaft 2001. Alfred Jensch verstarb am 6.Oktober 2001 im 90. Lebensjahr.

Dieser Beitrag folgt der Methodik der „Oral History", der mündlichen Überlieferung aus der Erinnerung, und verzichtet bewusst auf eine Anhäufung von Quellenzitaten, deren Auswahl und Bewertung ebenso subjektiv ist, wie die von mir gewählte „Erzählweise". Ein Vergleich mit anderen Beiträgen in schulmäßig korrekter historischer Darstellung überlasse ich dem interessierten Leser. Mein Gedächtnis wird von Fall zu Fall durch Alfred Jenschs Lebenserinnerungen aufgefrischt. Ich werde mich auch bemühen, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen.

Auf die oben erwähnten Beiträge werde ich nur insofern eingehen, wie es notwendig ist, den Zusammenhang der Tätigkeit und der Leistungen von Alfred Jensch mit dem Zeitgeschehen aufzuzeichnen. Die Zusammenhänge erscheinen mir auch wichtiger als eine Aufzählung von Fakten oder gar Mutmaßungen. Die Formulierung „Erinnerung an die gemeinsame Zeit" wäre an sich besser für einen gemeinsamen Rückblick geeignet. Ich bin aber ziemlich sicher, dass mir Alfred Jensch es zugestanden hätte, auch für ihn und von uns zu sprechen und zu schreiben. Bis in seine letzten Lebenstage waren wir freundschaftlich verbunden, und da meine Erinnerungen über das bisher publizierte hinausgehen, will ich Alfred Jensch in die Geschichte der Astroabteilung von Carl Zeiss Jena einordnen.

Von Alfred Jensch hörte ich zum ersten Mal im Winter 1948/49, als ich nach meinem Abitur als Praktikant an der Sternwarte Sonneberg tätig war. Ich hatte deren Direktor Dr. Cuno Hoffmeister einige Zeit vorher kennengelernt, als er in meiner Heimatstadt Saalfeld einen öffentlichen Vortrag hielt. An sich bedeutete mir damals die Astronomie gar nichts. Ich kannte mich weder am Himmel aus, noch hatte ich ein Fernrohr. In der Schule hatte uns aber ein Physiklehrer von der sogenannten „Welteislehre" des Physikers Hörbiger berichtet, nach der der Mond und andere astronomische Himmelskörper aus Eis seien. Das kam uns auch sonst aufmüpfigen Schülern der Nachkriegszeit merkwürdig vor. Nach Hoffmeisters Vortrag konnten Fragen gestellt werden, und ich wagte es, den „Gelehrten" anzusprechen.

Er bestätigte unseren Zweifel, und ich schien eine oft gestellte Frage gehabt zu haben, die er ausführlich beantwortete. Das blieb mir in der Erinnerung, und als ich 1948 keine Zulassung zum Studium erhielt, schrieb ich ihm, ob er eine Anstellung für mich habe. Nach drei Tagen kam die positive Antwort, und ich wurde einer der vielen Praktikanten der Sternwarte, zu denen z.B. auch Prof. Kippenhahn gehörte. Zu ihnen gehörte auch Alfred Jensch, der mehrere Jahre an der Sternwarte tätig war, bevor er nach Jena zu Zeiss ging und dort Astrokonstrukteur wurde. Mein Mit-Praktikant Wolfgang Wenzel kannte ihn gut, denn W. war astronomisch vorbelastet und beobachtete veränderliche Sterne. Diese waren das Hauptarbeitsgebiet Hoffmeisters und seiner Sternwarte.

Jensch war in der Sternwarte Sonneberg eine Art Berühmtheit, denn er hatte durch sorgfältige Beobachtungen den veränderlichen Stern mit dem kürzesten Lichtwechsel CY Aquarii als RR Lyrae-Stern bestimmt. Es gab auch einige Geräte, die Jensch konstruiert hatte.

Was Jensch bei Zeiss machte, was aus ihm geworden war, wusste ich nicht. Durch Zufall lernte ich Prof. Kienle auf der Sternwarte kennen, als ich mich dort vorgestellt hatte. Er nahm mich sogar in seinem Dienstwagen mit nach Saalfeld, aber von einer Verbindung Kienle–Jensch wusste ich nichts, es wäre wohl auch kein Thema für ein Gespräch des Direktors des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam mit einem astronomisch unbedarften Abiturienten gewesen.

Während meines Astronomiestudiums machte ich ein Industriepraktikum bei Zeiss und dann meine Diplomarbeit, die ich 1953 abschließen konnte. Mein Partner im Konstruktionsbüro war Hugo Ratz, der das Gerät rekonstruiert hatte, das ich untersuchte. Was die anderen Konstrukteure machten, ging mich Diplomanden ja nichts an.

Von Alfred Jensch hörte ich damals von einer ganz anderen Seite. Meine Verlobte (und spätere Frau) war Leiterin des Universitäts-Kindergartens in der Knebelstraße, und zu ihren Mitarbeitern gehörte eine Frau Streibhardt als Reinigungkraft. Die erzählte eines Tages von einem Verwandten, einem Herrn Jensch, der bei Zeiss Konstrukteur sei. Er habe eine kleine Tochter, und für die habe er Trickfilme mit der 9,5-mm-Kamera hergestellt. J. schien ein vielseitig befähigter Mensch zu sein.

Am 18. Januar 1954 begann ich meine Tätigkeit in einem noch nicht existierenden Astrolabor, ohne direkten Leiter. Die Stelle war unbesetzt, weil sich der bisherige „Werks-Astronom" Dr. Georg Hartwig im Frühjahr 1953 nach dem Westen abgesetzt hatte. H. hatte übrigens an der Atomforschung des 3. Reiches teilgenommen, aber irgendwie seine Spuren verwischt. Ob er deswegen die DDR verließ, ist eine Mutmaßung, ansonsten hätte er bei Zeiss eine sichere Perspektive gehabt. Hartwig erwähne ich deshalb, weil er ein Tagebuch zum 2-m-Teleskop-Projekt (1948-1953) hinterließ, aus dem ich Wichtiges über den Ablauf des Projektes entnehmen konnte, insbesondere hinsichtlich der erwähnten Zusammenhänge. Eine Geschichte des Karl-Schwarzschild-Observatoriums ist erst seit etwa einem Jahr auf der Homepage der TLS veröffentlicht.

Nach der Zeiss-Struktur gehörten jeweils ein Labor und ein Konstruktionsbüro zu einer „Warengruppe", später Erzeugnisgruppe genannt. Das traf für alle Warengruppen außer Astro zu. Hier dominierte das Konstruktionsbüro, das im Wesentlichen auf Kundenaufträge arbeitete. Im Lauf der Zeit war eine sogenannte Grundlast von typisierten Geräten entstanden, die in Kleinserien aber auch in Einzelstückzahlen gefertigt wurden. „Im Zwölftel Dutzend!" wie der bekannte Astro-Fertigungsleiter Helmut Kittler oft kolportierte. Der Werksastronom war eine Art Mittler zwischen den Kundenwünschen und den Möglichkeiten des Konstruktionsbüros, aber auch eine Art Gütekontrolleur, denn die Qualität eines astronomischen Gerätes oder einer astronomischen Optik wurde von Astronomen beurteilt. Oft waren es auch Astronomen, die die Optik fertigten, und selbstverständlich kamen auch von ihnen die Aufgabenstellungen.

Als frisch gebackener Diplom-Astronom hatte ich bei meinem Dienstantritt zwar den Vorteil, schon echte Praxisluft an der Sonneberger Sternwarte geschnuppert zu haben, auch bei Zeiss wusste ich ein wenig Bescheid, aber ich hatte keinen Mentor. Einige meiner Studienkollegen hatten in anderen Zeiss-Labors Anstellung gefunden und wurden einem erfahrenen Zeissianer quasi als Assistenten zugeteilt. Bei mir gab es nur zwei freie Mitarbeiter, die Prof. Görlich, der Wissenschaftliche Hauptleiter, verpflichtet hatte: Prof. Hermann Lambrecht, der Direktor der Universitäts-Sternwarte Jena, gab lediglich seinen Namen und trug nach außen die Verantwortung, sein Assistent Dr. Klaus Güssow wurde quasi mein Nicht-Zeiss-Mentor. Er war technisch begabt und hatte den Wiederaufbau der Sternwarte Jena nach dem Krieg organisiert. Als ich ihn nach meinem Arbeitsbeginn fragte, was nun eigentlich meine Aufgabe in der Astro-Abteilung sei, gab er eine lakonische Antwort. Ich solle so etwas wie ein Filter für ihn sein. Sofort fragte ich ihn, welche Art von Filter? Eines, das das Gute durchlässt, oder eines, das das Gute zurückhält? Ich erhielt darauf eine delphische Antwort „Beides!", und ich wusste genau, was meine Aufgabe war.

Das waren meine Anfangsbedingungen: Wann immer es im Konstruktionsbüro eine astronomische oder verwandte Frage gab, so wurde ich in die Spur geschickt. Es gab alle möglichen Probleme, deren Lösung ich entweder durch Literaturstudium oder durch Konsultation anderer Zeiss-Spezialisten näherkam. So lernte ich allmählich alle Konstrukteure kennen, die im 3. Stock des Gebäudes in der Carl-Zeiss-Straße nahe der Krautgasse untergebracht waren. Es waren große Zeichensäle, die man entweder über die direkten Treppenhäuser erreichte, oder die man längs der Carl-Zeiss-Straße durchquerte, um den betreffenden Kollegen an seinem Zeichenbrett zu finden. Die Astro-Konstrukteure waren in drei Gruppen organisiert, die auf vier Räume verteilt waren. In der Mitte des Areals war das Arbeitszimmer des Konstruktionsleiters Georg Günzerodt. In den zwei Räumen davor hatten die Mitglieder der Gruppe um Walter Richter ihre Plätze, u.a. Paul Luthardt, Willy Gerlach, Anton Gierdal, Georg Mann. Auch Frau Klemm, die Sekretärin, hatte dort ihren Arbeitsplatz. Im Raum nach dem Chefzimmer hatte die Gruppe um Karl Röschke ihre Plätze mit Gerhard Vogel, Helmut Kremling und Hugo Ratz. Im hintersten Raum war die Gruppe um Ernst Seifert mit Alfred Jensch, Bodo Hermann, Herbert Frank, Herbert Lier u.a. Das war im Jahre 1954, etwa zwei Jahre, nachdem die Astro-Spezialisten aus Leningrad zurückgekehrt waren.

Das Astro-Konstruktionsbüro hatte als großes Vorbild Dr. Ing. e.h. Franz Meyer, den ersten akademisch gebildeten Konstrukteur des Zeisswerks, dessen Leistungen an anderer Stelle gewürdigt werden sollen. Nach seinem Tod übernahm Büchele die Leitung und hatte Bruno Müller und Georg Günzerodt als engste Mitarbeiter. Günzerodt hatte in Leningrad bei GOMS (Staatlicher Optisch-Mechanischer Betrieb), später LOMO (Leningrader Optisch-Mechanische Vereinigung) ein Astro-Konstruktionsbüro mit 70 Mitarbeitern aufgebaut. Bruno Müller war mit den Amerikanern nach Heidenheim gegangen, blieb aber halb dienstlich, halb privat in Kontakt mit seinen früheren Kollegen, wie manch anderer auch, der den Aufenthalt in Oberkochen als zeitweilig ansah. So lernte ich Bruno Müller im Jahre 1959 kennen, als er an der Gesamtdeutschen Tagung der Vereinigung der Sternfreunde (VdS) in Jena teilnahm. Diese fand aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Urania-Volkssternwarte statt, deren langjähriger Vorsitzender Bruno Müller war. Ich wusste auch, dass er von Oberkochen aus Informationen über die Parameter der Serienmontierungen an Walter Richter gegeben hatte.

Während des Krieges lief die Fertigung des sogenannten Mussolini-Auftrags in vollem Umfang weiter. Hitler wollte M. ein großes Observatorium schenken, das im Gran Sasso-Gebirge in der Nähe Roms errichtet werden sollte. Als die Rote Armee das Zeisswerk übernahm, wurden die Geräte, u.a. ein 650-mm-Refraktor, ein 400-mm-Doppelastrograph und ein großes Schmidt-Teleskop, fertiggestellt und mit den Demontagegütern als Reparationsleistungen in die UdSSR geliefert. Der Refraktor kam nach Pulkowo, die anderen Geräte auf die Krim, wo sie von den Jenaer Astro-Spezialisten aus Leningrad montiert wurden.

Nach der Demontage verblieb nur eine kleine Gruppe von Astrokonstrukteuren in Jena, die unter der Leitung von Walter Richter zunächst mit der Rekonstruktion bewährter Astrogeräte beschäftigt waren. Dann kamen aber auch erfahrene Konstrukteure aus anderen Industriebereichen hinzu wie Paul Luthardt, der bei Rheinmetall in Düsseldorf Geschütze konstruiert hatte, oder Helmut Böhme, der bei Junkers als Statiker tätig war. Eine große Stütze auf dem Planetariumsgebiet war Fritz Pfau, der von Anfang an in der Planetariumskonstruktion tätig war. Schließlich kam Alfred Jensch 1948 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück.

Um diese Zeit begannen die ersten Verhandlungen mit Zeiss und Schott wegen der Entwicklung und des Baus eines 2-m-Teleskops durch Prof. Kienle, dem Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam. Ähnlich wie nach dem 1. Weltkrieg sah Kienle eine Chance für ein solches Projekt im Rahmen der Umstellung der Rüstungsproduktion und des Wiederaufbaus der Industrie. Damals war der Einstein-Turm mit einem großen Sonnenbeobachtungsgerät ausgerüstet worden, einem Vertikalcoelostaten, der dann später auch nach Belgrad und nach Tokio geliefert worden war. Kienle griff einerseits seine Pläne aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg auf, die ein großes Observatorium entweder im ehemaligen Deutsch-Südwest-Afrika oder im Mittelmeerraum zum Ziel hatten, machte daraus aber ein Gesamtdeutsches Projekt. Das Astrophysikalische Observatorium Potsdam hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle auf dem Gebiet der Astrospektroskopie, bevor die Amerikaner mit den großen Teleskopen in Kalifornien neue Maßstäbe setzten. Auf diese Tradition setzte Kienle und benutzte das zusätzliche Argument, dass der Babelsberger Sternwarte der 1,25-m-Spiegel als Reparationsleistung verloren gegangen sei.

Hier möchte ich erstmals auf die Zusammenhänge zu sprechen kommen, die die Voraussetzung für die weitere Entwicklung Alfred Jenschs sicherten.

Zu keiner Zeit vorher waren die Astrogeräte das „Steckenpferd" eines der führenden Kräfte im Zeisswerk oder in den Regierungsstellen. Am ehesten hätte man das noch von den Planetarien sagen können, die aber abgesehen vom ökonomischen Wert einer Serienfertigung von 25 Geräten einen außerordentlich hohen Werbeeffekt hatten. Am ehesten ist der Einfluss von Franz Meyer als Antriebskraft für die Astrogeräteentwicklung und Fertigung anzusehen. Meyers Konstruktionen waren einerseits innovativ und entsprachen damit der Abbeschen Zielstellung, dass nur Spitzenleistung von Zeiss kommen dürfen. Andererseits brachten die hohen Anforderungen an die Astrotechnik auch einen technologischen Schub für das gesamte Werk. Ob es die Astrooptik war oder die astronomische Getriebetechnik, immer konnten die dort gewonnenen Erfahrungen nutzbringend bei anderen Geräten angewandt werden. Ökonomisch spielte die Astrofertigung nur eine geringe Rolle. Es sei oft zu heftigen Auseinandersetzungen in der Geschäftsleitung gekommen, weil Astro nicht den gleichen Gewinn wie andere Gerätegruppen brachte, berichtet Fritz Pfau in seinen Lebenserinnerungen.

Könnte sich das im Wiederaufbau begriffene Zeisswerk eine solche Entwicklung leisten? Wie weit reichte der Einfluss der Akademie der Wissenschaften? Wie weit konnte man mit einer Unterstützung durch die oberen Wirtschaftsorgane der gerade gegründeten DDR rechnen? Kienle genoss zwar Ansehen in der Akademie, war aber gleichzeitig ein eigenwilliger Wissenschaftler. Das Projekt wurde durch seinen Weggang nach Heidelberg nicht gerade gefördert, aber es war in die Wirtschaftspläne aufgenommen worden, wenn auch nicht mit einer Generalvollmacht für sämtliche Kosten. Den Plänen standen die Bilanzen gegenüber, und nur wer sich die damalige Zeit nicht vergegenwärtigt, wird eine Aufstellung des Materialbedarfs für eine absurde Forderung halten. Ein grob geschätzter Bedarf ist immerhin eine Plangröße, die man bilanzieren und später präzisieren kann. So ist man z.B. auch bei Kalkulationen vorgegangen. Es gab Erfahrungswerte, wieviel eine Tonne Stahlbau kostet, ebenso ließ sich der Aufwand für eine Optikfertigung abschätzen.

Es ging ja auch nicht nur um die Entwicklung und den Bau eines Teleskops. Es war für die Akademie der Wissenschaften eine gesamte Sternwartenanlage, also gehörte eine Bauplanung für Gebäude, Umfeld und Straßenbau dazu. Bei der Konstruktion arbeitete der Astrokonstrukteur wie jeder andere Konstrukteur am Reißbrett. Es entstanden aber große und sehr komplizierte Teile, die fertigungsgerecht entsprechend den vorhandenen Maschinen und Technologien konstruiert werden mussten. Es mussten aber gleichzeitig neue Maschinen konstruiert und gebaut und neue Technologien ersonnen und erprobt werden. Nicht alles konnte bei Zeiss gefertigt werden. So kamen Kooperationen mit dem Zementanlagenbau Dessau, dem Schwermaschinenbau SKET in Magdeburg und dem Sächsischen Brücken- und Stahlhochbau (SBS) in Dresden in Gang.

Im Zentrum des Geschehens befand sich Alfred Jensch, der die notwendigen Zuarbeiten für die Kienlesche Denkschrift des Jahres 1949 verfasst hatte. Für Alfred Jensch war es damals nicht nur eine Sternstunde seines Lebens, eine ganze Sternzeit begann. Wahrscheinlich begann sie sogar undramatisch. Es gab niemanden außer ihm, und er hatte noch keine konkrete Aufgabe nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft. Er hatte noch nie eine solche Aufgabe erledigt, und es gab auch keine Konstruktionsunterlagen, auf die er hätte aufbauen können. In dem Buch von Rolf Riekher „Fernrohre und ihre Meister" kann man verfolgen, wie langsam sich die Astrogerätetechnik entwickelt hatte. Neuerungen brauchten lange Zeit, bis sie als bewährte Technik für neue Geräte übernommen wurden. Insbesondere in der Industrie mussten aus Kostengründen Risiken vermieden werden. Darüber klagte in einer Veröffentlichung über das Isaac-Newton-Teleskop der Chef der Astroabteilung von Grubb Parsons G.M.Sisson. Da die Kosten und Termine aber auch die Qualität vorgegeben seien, dürfe man kein Risiko eingehen und sei zu konservativen Lösungen gezwungen. Dabei spielt auch mit eine Rolle, dass erst nach einer Zeit von etwas 5 Jahren echte Erfahrungen mit den neuen Techniken vorliegen. Während dieser Zeit wird meist schon wieder an einem anderen Projekt gearbeitet. Als ich vor langer Zeit über diese Problematik nachdachte, die man ein Trilemma nennen könnte, kam ich zu folgendem, wohl allgemeingültigen Schluss: Man kann nur dann eine Aufgabe vollenden, wenn einer der drei Parameter freigegeben wird. Sind Kosten und Zeit fixiert, dann wird man Abstriche bei der Qualität machen müssen, sind es Qualität und Kosten, dann wird man mehr Zeit brauchen, und schließlich, sind Zeit und Qualität fixiert, wird man die Kosten überschreiten.

Wir können das aus den Entwürfen ablesen, die unter der Mitarbeit von Georg Günzerodt und Georg Mann um 1937 erarbeitet worden waren. Die Ähnlichkeit mit den 1,88-m-Teleskopen von Grubb Parsons war offensichtlich, und die Hauptanforderungen kamen von der Antriebstechnik. Kienle aber wollte mehr als ein solches Teleskop, wenngleich er selbst keine konkreten konstruktiven Vorstellungen hatte. Es sollte eine Doppelfunktion haben: Ein großes Himmelsareal gleichzeitig erfassen und die Möglichkeit der Beobachtung daraus ausgewählter Einzelobjekte bieten. Zwei Teleskope wie auf dem Palomar Mountain würde niemand finanzieren. Er wusste damals nicht genau, und er war dabei nicht allein, welche Objekte die größte Bedeutung für den Fortschritt der Astronomie haben würden. Alles sollte offen bleiben bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Teleskop fertig war. Und als es nach 10 Jahren fertig war, rechtfertigte er seine Unentschlossenheit auf dem Empfang der Akademie im Hotel „Elefant" in Weimar: „Der Wissenschaftler müsse ein Spielzeug haben, auch wenn er nicht genau wüsste, welches Spiel am erfolgreichsten ist!"

Alfred Jensch nahm ihn beim Wort, und er entwarf ein einziges Teleskop, das beides konnte. Der Vorwurf, dass ein Kombinationsgerät meist mit Kompromissen an die Qualität oder die Handhabung verbunden sei, störte ihn nicht. Er gestaltete die Varianten so, dass sie optimal funktionierten. Natürlich stimmt es nicht, dass man keine Kompromisse eingehen musste. Für das optische System bestimmte das Hauptelement, der sphärische Spiegel von 2 m Durchmesser, die weitere Optikkonzeption, weil dieser für das gewünschte Weitwinkelteleskop, das Schmidt-Teleskop, zwingend war. Dadurch war auch die Rohrlänge und damit die Kuppelgröße bestimmt.

Bei einem Schmidtspiegelteleskop befindet sich die sogenannte Korrektionsplatte in der Nähe des Krümmungsmittelpunkts des Hauptspiegels, also doppelt so weit wie der Fokus. Daher wählte man für das Öffnungsverhältnis des Hauptspiegels den Wert F/2. Ursprünglich, nach Hartwigs Skizzen aus dem Jahre 1948, sollte es ein klassisches Parabolspiegelteleskop werden, bei dem man seinerzeit ein Öffnungsverhältnis von F/5 wählte. Das wären also etwa gleichlange Rohrkörper geworden. Für die Einzelbeobachtung kamen Cassegrain- bzw. Coudé-Systeme in Frage.

Hier kam das erste Problem: Während der sphärische Hauptspiegel zwar relativ einfach zu prüfen und somit zu fertigen war, stellten die entsprechenden Cassegrain- und Coudé-Gegenspiegel extreme Forderungen an die Kunst des Optikers. Die 400-mm-Gegenspiegel waren extrem asphärisch. Die Abweichung von der Asphäre betrug maximal 50 Mikrometer, während es sonst nur etwa --- Mikrometer waren. Die Astrooptiker um Horst Schwinge und später um Walter Pfaff stellten sich der Aufgabe. Es gab aber ein weiteres Problem: Die Kombination sphärischer Hauptspiegel und extrem asphärischer Gegenspiegel erbrachte nur ein kleines Gesichtsfeld. Das hätte auf jeden Fall für die Einzelbeobachtung ausgereicht, aber jede Dejustierung hätte die Bildqualität verschlechtert.

Alfred Jensch wusste also, dass die Mechanik den Forderungen der Optik folgen musste, und er entwickelte geeignete Kompensationssysteme sowohl gegen Biegungen als auch gegen thermische Einflüsse.

Wir sind immer noch in der Entwurfsphase, aber die wesentliche Konzeption ist den Abbildungen der Kienleschen Denkschrift zu entnehmen. Nur die Beobachtungsbühne wurde durch eine zweckmäßigere Variante ersetzt, die ebenfalls Alfred Jensch entwarf.

Als das Projekt dann richtig anlief, vergrößerte sich natürlich allmählich der Kreis der Mitarbeiter und der Zuarbeiter. Bemerkenswert ist dabei, dass die große Linie von Alfred Jensch vorgegeben wurde, der aber auch die wesentlichsten Eckpunkte setzte. So war das sogenannte EboTh unter Hasselmeier die Stelle, die die mathematische Durchdringung und Absicherung der gewählten Lösungswege zur Aufgabe hatte. Heute ist das ganz selbstverständlich und die Modellierung mittels umfangreicher Computerberechnungen kein Problem mehr. Ebenso ist es mit der Wahl der Werkstoffe oder der Zuliefereinheiten.

Alfred Jensch hatte damals keinen besonderen Status, er war noch nicht einmal Gruppenleiter, und das blieb auch für lange Zeit so. In der Aufbauphase kam es darauf an, dass etwas geleistet wurde, nicht auf die Struktur oder Hierarchien. Werner Bischoff, später nach 1953 Professor an der TH Ilmenau, war der oberste Entwicklungs-Chef. Jensch beklagte sich nie, dass er in seiner Arbeit am 2-m-Teleskop reglementiert wurde. Er war sogar froh, dass er lange Zeit ungestört von sozialistischer Leitungstätigkeit sich voll der konkreten Arbeit widmen konnte.

Wenn ich über die eben geäußerte Meinung nachdenke, dann glaube ich sogar, dass im Zeisswerk nur wenige den vollen Umfang der Aufgabe übersahen. Ein 2-m-Teleskop-Projekt war das größte Projekt, das bei Zeiss je bearbeitet worden war. Auf einer Zeichnung erkennt nur der Fachmann, um welche Dimensionen es geht. Eine Gesamtansicht des Teleskops ist auf der Zeichnung auch nicht viel größer als der eines anderen großen Zeiss-Geräts, abgesehen vom Zeichnungsmaßstab. Das war wohl auch bei Jenschs unmittelbaren Mitarbeitern so, bis sie sich den sogenannten Gabelfuß im Maßstab 1:1 mit Kreide an die Wand malten!

Eine weitere besondere Leistung von Alfred Jensch war die Ordnung der Übergabe der Zeichnungsunterlagen in die Fertigung. Es war üblich, erst nach vollständiger Konstruktion einschließlich der Einarbeitung der Forderungen der Technologie den Zeichnungssatz für die Fertigung freizugeben. Das hätte bedeutet, dass erst einmal vier bis fünf Jahre lang konstruiert wird, ehe die erste Bestellung ausgelöst wird. Es gab zwar keinen zwingenden Fertigstellungstermin, aber dieses Verfahren war sicherlich unökonomisch. Jensch teilte das Teleskop in Gruppen auf, deren Schnittstellen definiert waren. Vorrangig wurden die sogenannten Langläufer bearbeitet, z.B. große Gussteile und große Schweißteile. Das war auch notwendig, denn oft wurden die echten Fertigungsprobleme erst an Hand der fertigen Zeichnungen erkannt. Wie mir einmal Alfred Jensch erzählte, war einer der Fundamentkörper zuerst als Gusskörper konstruiert worden. Als es damit Schwierigkeiten gab, wurde auf einen Schweißkörper umgestellt, der sich aber ebenfalls nicht so fertigen ließ. Zum Schluss wurde es eine Kombination eines Gusskörpers mit einem Schweißkörper.

So war es dann, dass der Entwurf des Teleskops schon „rund" war, als 1952 die „Leningrader" zurückkehrten. Die Konstrukteure waren eine willkommene Verstärkung für die eigentlichen Konstruktionsarbeiten. Jetzt kam Ordnung in die Struktur, und Georg Günzerodt übernahm die Leitung des Astro-Konstruktionsbüros. Er wurde Niemandem vor die Nase gesetzt, seine Erfahrungen als Leiter eines großen Konstruktionsbüros gaben den Ausschlag. Ernst Seifert wurde Gruppenleiter und damit Vorgesetzter von Alfred Jensch. Alle „Leningrader" ordneten sich wie selbstverständlich in den Konstruktionsprozess ein.

Eigentlich hätte man eine Diskussion erwarten können. Der Jensch´sche Entwurf unterschied sich grundlegend von den Entwürfen Günzerodts aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Jeder setzte seine Fähigkeiten entsprechend ein, z.B. widmete sich Ernst Seifert der Getriebetechnik. Seinem Ideenreichtum kann man in Tautenburg nachspüren. Die Gabelmontierung ist nicht ganz symmetrisch gefertigt, sie wäre auch nicht symmetrisch belastet gewesen: auf der einen Seite zusätzlich durch den mehrere Hundert Kilogramm schweren Cassegrainspektrographen. Seifert verschob einen Holm auf dem Gabelfuß, bis Gleichgewicht erzielt war.

Als ich 1954 meine Tätigkeit aufnahm, war vieles schon konstruktiv gestaltet, und die Gruppe um Alfred Jensch brauchte meine Hilfe nicht. Ob es zu einer förmlichen Vorstellung kam, daran kann ich mich nicht erinnern. Wie er mir später sagte, hätte ihn positiv gestimmt, dass ich ebenso wie er ein Schüler Hoffmeisters war. Jensch hätte mir in jeder Hinsicht etwas vormachen können, er war eben einer der zahllosen Zeiss-Spezialisten, die sich ein junger Mensch zum Vorbild nehmen konnte.

Wollte man aus den Protokollen der Besprechungen zwischen Kienle und den Zeiss-Vertretern feststellen, welche Rolle Alfred Jensch damals spielte, so würde man wenig finden. Kienle hatte das Ziel bestimmt und Jensch hatte das technische Mittel geschaffen, mit dem man am Ziel würde forschen können. Die Verhandlungen mit Kienle und dann später mit den Vertretern der Akademie und des Astrophysikalischen Observatoriums waren primär die Sache Georg Hartwigs, der die Astroabteilung wissenschaftlich nach außen vertrat. In der ersten Phase spielten natürlich Dr. Hugo Schrade und Geheimrat Hans Harting, später Prof. Paul Görlich ihre Rolle gegenüber der Akademie der Wissenschaften, insbesondere gegenüber Prof. Rompe.

Ein wichtiger Kunde, man könnte fast sagen, Partner der Astroabteilung war Prof. Otto Heckmann, der beinahe 1935 Nachfolger von Walter Villiger, dem damaligen „Zeiss-Werksastronomen", geworden wäre. An seiner Stelle kam Arthur König, der mit einer Jüdin verheiratet war. In der „National-Sozialistischen Wissenschaft" hatte er keine Chancen, bei Zeiss konnte er mit einer Tolerierung rechnen.

Es sollte vielleicht an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Astroabteilung von Carl Zeiss Jena damals praktisch konkurrenzlos in Deutschland war. Kienle hatte das indirekt so formuliert: „Nur Zeiss und Schott in Jena sind in der Lage, ein solches 2-m-Teleskop zu entwickeln und zu bauen!" Opton Oberkochen hatte Sorgen, ein tragfähiges Firmenprofil zu realisieren, und Schott Mainz wurde erst 1952 begründet.

Beim Großen Hamburger Spiegelteleskop war es allerdings so, dass bereits vor dem 2. Weltkrieg ein Vertrag zwischen der Hamburger Sternwarte und Carl Zeiss Jena abgeschlossen worden war. Es war also logisch, dass sich Otto Heckmann wieder an die Astroabteilung in Jena wandte, um ebenfalls einen „Traum" aus der Vorkriegszeit zu realisieren. Jochen Schramm schildert in seinem Buch „Sterne über Hamburg" das Hin und Her der Verhandlungen über die Nachfolge von Prof. Schorr, dem Direktor der Hamburger Sterne. Damals wollte Walter Baade ein großes Schmidtspiegelteleskop haben. Das bekam er auch, allerdings in den USA, am Palomar Mountain, den sogenannten „Big Schmidt".

Es war das größte Schmidtspiegelteleskop der Welt mit einer Öffnung von 1,28 m, und es sollte den Himmel nach interessanten Objekten durchsuchen, die dann mit dem 5-m-Teleskop genauer untersucht würden.

Heckmann hatte somit zunächst einmal gute Beziehungen zu den großen Sternwarten der USA, und er reiste Anfang der 50er Jahre dorthin, was wegen der in der BRD noch geltenden Devisenbewirtschaftung nicht so einfach war. So war er beispielsweise froh, als ihn ein befreundeter Astronom mit dem Auto von einer Sternwarte zur anderen mitnahm, und er die Teilstrecke seiner Flugroute in Dollar umwechseln konnte. Er konnte als erster deutscher Astronom die Teleskope genau studieren, besonders den „Big Schmidt" und bekam obendrein großzügiger Weise eine Kopie des gesamten Zeichnungssatzes.

Bei der Realisierung des „Großen Hamburger Schmidt-Teleskops" ging Heckmann taktisch klug vor. Zum ersten wollte er gar kein so großes Schmidt-Teleskop, das Geld hätte eh nicht gereicht. Also erst einmal eine Nummer kleiner mit einer Öffnung von 800 mm, folglich auch eine kleinere Kuppel, und dann sollte ein Teil des Geldes quasi im Hause, in Hamburg bleiben. Es kam so zu einer Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Werkzeugmaschinenfabrik Heidenreich & Harbeck und Carl Zeiss Jena. Da die Zeichnungen des Big Schmidt-Teleskops vorlagen, schien es kein Risiko zu sein, der im Astrogerätebau unerfahrenen Firma einen wichtigen Teil des Teleskops anzuvertrauen. Andererseits war der Rohrkörper bei Zeiss in Jena in den besten Händen, ebenfalls durch die Zeichnungen abgesichert.

Wer sollte aber bei Zeiss diese umfangreiche Konstruktionsarbeit übernehmen? Alfred Jensch war voll beschäftigt mit dem 2-m-Projekt. Zusätzlich hatte er noch den später nach ihm benannten 300-mm-Horizontal-Coelostaten geschaffen. Da gab es doch den Zeiss-Neuling Paul Luthardt, der bei Rheinmetall sogar Oberingenieur war und sich mit „Rohren" auskannte, wenn es auch Geschützrohre waren.

Luthardt und sein Partner in Hamburg, Dr.Ing. W.Strewinski, waren alte Hasen in ihrem Fach und gemeinsam Neulinge, die von Heckmann laufend gefüttert wurden. H. kniete sich richtig in die Aufgabe, später kam noch Hans Haffner dazu. In den regelmäßigen Besprechungen in Jena wurden allmählich bis in die Details Festlegungen getroffen, gelegentlich auch wieder verworfen. Alfred Jensch hatte mit dieser Aufgabe nichts zu tun. Heckmann hatte das Sagen, und das Große Hamburger Spiegelteleskop hat keine konstruktive Ähnlichkeit mit dem Tautenburger Teleskop. Es ähnelt mehr dem Big Schmidt, was auch äußerlich sichtbar wird, z.B. sind die Leitrohre außen angeflanscht und nicht im Rohrkörper integriert.

Es war keineswegs so, dass ein einheitliches System auf die Entwürfe angewandt wurde, und es gab auch keinen „Über"-Konstrukteur, der solche Richtlinien gab. Das kann man als einen Mangel ansehen, aber es gab eigentlich immer auch verschiedene Lösungswege. So gab es im Rahmen der Zusammenarbeit mit der UdSSR Diskussionen über die optimale Gestaltung der Rohrkörper. Das geschah zu einer Zeit, als man die Probleme des sogenannten Kuppelklimas beherrschen wollte.

Der Literatur war zu entnehmen, dass es offene und geschlossene Rohrkörper gab. Bei Zeiss herrschten die geschlossenen Rohrkörper vor. Bei Grubb Parsons in England und den großen Teleskopen in den USA bevorzugte man den offenen Tubus, teils als Gittertubus teils nach dem Serrurier-Prinzip. Beim Tautenburger Tubus wie bei allen Schmidt-Teleskopen war der geschlossene Tubus zwingend. Andererseits waren die Rohrkörper nach dem Serrurier-Prinzip einfacher aufgebaut. Mit diesem Prinzip war die Aufrechterhaltung des Justierzustands des Optiksystems gesichert.

Paul Luthardt entwarf für die neuen 2-m-Teleskope ein doppelwandiges Rohr, das ebenso wie das Tautenburger Rohr aus Teilstücken zusammengesetzt war. Nach den Modellberechnungen durch Dr. Ing. Karl-Heinz Weßlau war das Rohr so steif, dass die Justierung auf diese Weise erhalten blieb.  

Hinsichtlich des Kuppelklimas gab es zwei Erkenntnisse: ein offenes Rohr erlaubte eine Durchmischung der Luft, und ein geschlossenes Rohr schloss den Strahlengang im Rohr gegen Störungen im Kuppelraum ab. Die Entscheidung zum geschlossenen Tubus wurde von außen erzwungen. Nach dem 13. August 1961 lief die Aktion der sogenannten Störfreimachung. Die Rohre für ein Serrurier-Prinzip waren strategisches Material für den Westen und als Westimport auch von Seiten der DDR nicht genehmigt. Die Entscheidung über Vor- und Nachteile der beiden Tubusarten gab Dr. N. N. Michelson von der Hauptsternwarte Pulkowo, der maßgeblich an der Entwicklung des 6-m-Teleskops der UdSSR beteiligt war. Aus Versuchen mit kleineren Teleskopen war eindeutig herausgekommen, dass ein geschlossener Tubus bessere Ergebnisse brachte. Allerdings verbot sich ein solcher Tubus für Teleskope ab 3 m Durchmesser schon wegen der Transportprobleme. Es gab in den 60er Jahren z.B. ein Projekt für ein 2-m-Teleskop für die Schweiz auf dem Gornergrat bei Zermatt, bei dem die Abmessungen der Teleskopteile durch das Tunnelprofil bestimmt waren.

Die Verantwortungen für die Teilleistungen am Hamburger Schmidt-Spiegelteleskop waren getrennt, Schnittstellen waren die Achslager auf den Gabelholmen. An dieser Stelle ergaben sich dann später Probleme mit der Deklinationsfeinbewegung, die eine zu große Lose hatte. Ein weiteres Problem ist fast anekdotisch amüsant: Die Werkzeugmaschinen, die bei Heidenreich & Harbeck gebaut wurden, arbeiteten unter einigermaßen kontrollierten Klimabedingungen, das Teleskop dagegen praktisch im Freien in einem großen Temperaturbereich. Der Glattlack der Werkzeugmaschinen hielt einfach nicht auf der Gabelmontierung, vielleicht kamen auch mechanische Spannungen dazu. Bei Zeiss wurde der sogenannte Tupflack aufgebracht, der aus mehreren Schichten bestand und eine gewisse Elastizität hatte. So wurden zwei Maler aus der Astrowerkstatt nach Hamburg-Bergedorf geschickt, um die Gabelmontierung zu verschönen. Der Zeiss-Lack hielt.

Mit der Öldrucklagerung gab es anfangs keine Probleme, wie mir der langjährige Leiter der Institutswerkstatt, Werner Rößner, versicherte. Das Teleskoprohr war ja auch wesentlich leichter als das des 2-m-Teleskops. Probleme traten viel später auf, als der Schmidt-Tubus gegen einen Cassegrain-Tubus durch die englische Firma Grubb Parsons ausgetauscht wurde, der noch einmal um einiges leichter war. Durch Änderung der Druckverhältnisse konnte auch dieses Problem gelöst werden.

Bei der Optik hatte Heckmann gefordert, dass der wesentliche Teil des Lichts auf einer Fläche von einer Bogensekunde Durchmesser konzentriert sein sollte. Das wurde damals noch mit einem Okularmikrometer beurteilt, wobei der gemessene Wert wegen der Autokollimation halbiert wurde. Heckmann und Haffner maßen selbst, schließlich führte Haffner noch eine Planplatte in den Strahlengang, die eine zusätzliche sphärische Aberration brachte. Die damit verbundene Bildverschlechterung setzte er in Beziehung zu dem ursprünglichen Messwert. Das einhellige Urteil von Heckmann und Haffner war: Anstelle einer Bogensekunde ergab sich der Wert 0,5 Bogensekunden. Das würde bedeuten, dass das Bild auf der photographischen Platte einen Durchmeser von wesentlich weniger als 10 Mikrometer haben könnte, wenn es die Szintillation nicht gäbe, die das Licht über eine größere Fläche verschmiert.

Das Rohr für Hamburg wurde in einem abgeteilten Raum an der Nordseite der Halle 3 montiert. Anstelle der Gabelholme wurden gemauerte Pfeiler verwendet. Wenn das Rohr horizontal lag, sah es fast unscheinbar klein aus, wenn es aber in die Höhe geschwenkt wurde, dann wurde es richtig imposant. Das war in Jahre 1955. Im nächsten Jahr wurde es in Betrieb genommen.

Das 2-m-Projekt kam nur langsam voran. Alfred Jensch und das immer größer werdende Arbeitspotential hatte nicht etwa 10 Jahre Zeit für ihre Aufgabe, wie andernorts bemerkt wurde, sondern es dauerte einfach so lange, weil zu viele Stolpersteine im Weg lagen.

In dieser Zeit entwarf und konstruierte Alfred Jensch viele technische Detaillösungen, die man aus heutiger Sicht für selbstverständlich halten würde. Herausgehoben sei die Kugelspindeleinrichtung für den Hub des „Beobachtungshauses". Dann führte er die Verdrehungskabel ein, damit die beweglichen Teile des Teleskops mit Strom und elektrischer Information versorgt werden konnten. Bei früheren Teleskopen existierte nur eine minimale Stromversorgung im Niederspannungsbereich, um die Teilkreise zu beleuchten oder die Strichkreuze der Pointierfernrohre. Sogar die Antriebe waren lange Zeit ohne Elektroantrieb. „Die Schwerkraft hat noch nie versagt!" meinte Prof. Wempe noch in den 50er Jahren, als es einmal einige Problemchen mit dem „Uhrgan" gab.

Bei jeder der wichtigen Baugruppen sollte man den seinerzeitigen Stand vor den Entwürfen von Alfred Jensch mit den neuen Lösungen vergleichen. Das tat Alfred Jensch auch, aber wie er selbst berichtet, bereits seit seinen Anfängen erst, nachdem er seine Konstruktion fertig hatte. Immer sind seine Lösungen optimal hinsichtlich des technischen Aufwands. Wozu eine sehr stabile Konstruktion schaffen, wenn man durch Kompensation der Biegungsfehler dasselbe Ergebnis erhält. Alfred Jensch folgte dabei den Abbeschen Prinzipien, wie sie z.B. beim Komparatorprinzip von Abbe wirken: Ohne hohen Anforderungen an die Führungsgenauigkeit wird höchste Messgenauigkeit erzielt. Diese „sparsame" Arbeitsweise hat Alfred Jensch nach Meinung seiner Tochter Gisela in der Zusammenarbeit mit seinem Vater gelernt, der auch mit den Resourcen auskommen musste, die er hatte. Die begrenzten Resourcen und das Besinnen auf die eigene Kraft war ein kategorischer Imperativ in der DDR. „Man solle die Axt benutzen, die man besitzt!", meinte Prof. Schiller, der Stellvertreter von Manfred v. Ardenne in dessen Institut in Dresden.

Da gab es die Standortfrage: Kienle hatte an einen Standort auf der Schwäbischen Alb gedacht, noch als Gesamtdeutsches Teleskop. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde diese Idee aufgegeben. Dann war es der Ravensberg bei Potsdam, allerdings störte die Sputniktrasse der Reichsbahn, mit der Westberlin umgangen wurde. Prof. Wempe berichtete einmal, dass er am Okular eines Fernrohrs des Observatoriums auf dem Telegraphenberg den Fahrplan der Reichsbahn kontrollieren konnte. Dann schien der Fleming südlich von Potsdam geeignet, bis man merkte, dass zahlreiche Militärflugplätze in der Umgebung die Sicht durch Kondensstreifen stören würden.

Schließlich schien ein Standort im Tautenburger Forst fast wie eine Verlegenheitslösung. Bei der Exkursion zur Erforschung und Bestimmung des potentiellen Standorts durfte ich Prof. Görlich begleiten. Von der Terrasse der Dornburger Schlösser aus hatten wir einen schönen Blick auf das dichte Waldgebiet. Laubwald war günstig für die Luftruhe, und der Forst hatte einen dichten Buchenbestand. Dann fuhren wir im Wald hin und her, bis wir eine anscheinend günstig Stelle fanden. Dort steckte ich einen Ast in die Erde und der Standort für das Kuppelgebäude war markiert.

Alles lief mehr oder weniger parallel ab, und Alfred Jensch war wohl der einzige, der den vollen Durchblick hatte, was die Entwicklung betraf. Aber es mussten auch die Gebäude realisiert werden, z.B. der Optik-Mechanik-Komplex der Halle. Hinzu kamen die Großmaschinen, wie die Große Schneckenradschneidmaschine, die 2-m-Optikmaschine ASPIMA, die 4-m-Karussell-Drehmaschine und die Ausrüstungen der Optikfertigung: Jeder musste ran. Als es um die Entscheidung ging, welche Art von Aufbau die Karusseldrehmaschine haben sollte, Einständer- oder Zweiständermaschine, wurde sogar ich in die Besprechung bei Dr. Trostmann einbezogen. Ich hütete mich aber, mein Unwissen zur Kenntnis zu geben.

Apropos Unwissen! Ich war Astronom mit etwas Praxiserfahrung. Das Komess, mein Diplomthema, kannte ich in- und auswendig. Zu allen anderen Fragen gab es genügend Experten im eigenen Bereich und im gesamten Zeisswerk. Wie ich bald feststellte, ging die Informationsübergabe recht informell vor sich. Man traf sich beim Mittagessen und blieb anschließend eine halbe Stunde beisammen. Dann wusste man, ob es zu einer Zusammenarbeit kommen würde, oder man erhielt den Hinweis, wen man sonst fragen sollte. Ich hatte keine Ingenieursausbildung und somit auch nicht den Ehrgeiz, in die Konstruktion einzugreifen. Gelegentlich tat ich es doch, wenn ich aus dem Literaturstudium oder nach dem Besuch von Observatorien neue Ideen mitbrachte. Paul Luthardt klagte einmal meiner Frau sein Leid. Jedesmal, wenn ich von einer Reise zurückkäme, nervte ich ihn mit neuen Anregungen.

Mit Alfred Jensch hatte ich keine Probleme in dieser Hinsicht. Er respektierte erst einmal, dass es mir nicht um die Realisierung eigener unausgegorener Ideen ging. Ich hatte eben die Chance, in zahlreichen Observatorien direkt vor Ort Informationen aufzunehmen und sie zu nutzen. Gelegentlich waren es fast fertige Lösungen, an denen anscheinend niemand interessiert war. Auch innerhalb des Zeisswerks konnte man fündig werden. Mit der Zeit entwickelte ich etwas, das ich passive Konstruktionserfahrung nannte, was sogar von meinen Konstrukteuren anerkannt wurde. Ich hätte nie gewusst, wie man ordentlich konstruiert, penibel und klar, aber ich hatte ein Gespür dafür, was richtig und was falsch konstruiert war.

Hatte ich nun wieder einmal einen Einfall, dann wusste ich von Alfred Jensch, dass er sich mit dieser Idee auseinander setzen, vielleicht sogar auf seine Weise realisieren würde. Darüber später mehr.

Während ich nach meinem Dienstantritt bei Zeiss keine Zuarbeiten zum 2-m-Projekt leistete, änderte sich das in der Bau- und Fertigungsphase, wo ich immer an den Beratungen teilnahm. So übernahm ich die Fragen der Zusammenarbeit mit Schott, wie Glasbeschaffung für die Optiksysteme, aber auch für die Astrofilter. Dann ging es um die Beschaffung geeigneter Photoplatten-Glasrohlinge und die erforderlichen Versuche, da für die Schmidt-Teleskope die Photoplatten sphärisch verformt werden mussten. Schließlich stieg ich bei der Optikprüfung in den Aufgabenkreis, aber das ist eine Geschichte für sich.

Die Phasen der Teleskopmontage erlebte ich mehr als Zuschauer, und ich erlebte immer wieder bei Führungen von Kunden oder ausländischen Gästen, wie imponierend das Teleskop wirkte. Die Monteure in der Werkstatt, allen voran Fritz Westphal, waren zuverlässige Partner der Konstrukteure. Nur manchmal kam es zu kleinen Reibereien, z.B. bei der Montage großer entscheidender Baugruppen. Die Konstrukteure vereinbarten den Termin, wann das wichtige Ereignis ablaufen sollte, und mussten bei ihrem Erscheinen feststellen, dass alles schon gelaufen war, ohne Probleme. Die Monteure wollten sicher sein, dass sie sich nicht blamierten, und hatten eben schon eine erfolgreiche Generalprobe hinter sich. Wenn ich mich recht erinnere, war das beim Aufsetzen des Rohrkörpers auf die Gabelholme so. Natürlich blieben die Baugruppen montiert!

Die geplante Erprobung des Teleskops in der Großen Montagehalle fand dann doch nicht statt. Zwar hatte das Teleskop ein in Nord-Süd-Richtung angeordnetes Fundament (von mir vermessen), bei dem auch die Ortspolhöhe berücksichtigt war, aber die thermischen Störungen waren zu groß. Die Frage der Polhöhe für eine Gabelmontierung brachte einige Probleme, als der endgültige Standort noch nicht festgelegt war. Jensch wählte daher einen größeren Verstellbereich. Größere Änderungen der Polhöhe hätten umfangreiche konstruktive Änderungen nach sich gezogen. Dieses Argument nutzten wir Jahre zuvor, als die Akademie wegen der noch ungeklärten Standortfrage mehr oder weniger ernsthaft an eine Aufstellung des Teleskops außerhalb Deutschlands dachte. Wir blufften, dass es keinen geeigneten Aufstellungsort auf der bisher gewählten geographischen Breite gäbe. In der Mongolei hatte ich eigentlich 1958 relativ günstige Bedingungen vorgefunden, als ich in der Nähe von Ulan Bator den geplanten Standort der neuen Sternwarte besichtigte. Das war bei einer Polhöhe von rund 48°. Die spätere intensive Standortsuche mit Seeing-Tests ergaben ideale Bedingungen in Mittelasien (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan), wohin auch eine Reihe von 1-m-Teleskopen von Carl Zeiss Jena geliefert wurden. Also stimmte unser Bluff mit der noch nicht bekannten Wahrheit überein.

Als dann schließlich im Oktober 1960 das 2-m-Teleskop im Karl-Schwarzschild-Observatorium in Betrieb genommen wurde, war Zeit für eine Abrechnung der Leistungen. Kienle war seit 1950 Direktor der Landes-Sternwarte Heidelberg auf dem Königstuhl. Seine Initiative war von einem immer noch gesamtdeutschen Gremium aufgenommen worden, dem maßgebliche Astronomen jener Zeit angehörten: es waren die Professoren Johannes Wempe (Potsdam), Paul Görlich (Carl Zeiss Jena), Hermann Lambrecht (Jena), Cuno Hoffmeister (Sonneberg), Otto Heckmann (Hamburg-Bergedorf) und Peter Wellmann (Hamburg-Bergedorf). Wempe fungierte als eine Art Geschäftsführer, und es fanden später intensive Beratungen über die Ausrüstung mit Spektrographen statt. Das Ziel des Gremiums, einen Direktor möglichst mit internationalem Rang und Erfahrungen mit großen Teleskopen zu finden, hatte nicht zum Erfolg geführt. So wurde schließlich Dr. Nikolaus Benjamin Richter aus Sonnberg gewonnen, der zum Leiter des Observatoriums ernannt wurde - nicht zum Direktor, denn das Gremium, das bisher als 2-m-Kommission fungiert hatte, wurde zum 2-m-Direktorium. Da wäre Zeit für einige Auszeichnungen seitens der Regierung der DDR gewesen, vor allem für die bedeutendsten Mitarbeiter an dem großen Unternehmen. Es wurden auch Erhebungen angestellt, wer wie lange mit welcher Aufgabe betraut war auf der Basis der abgerechneten Stunden. Das führte zu eigenartigen Ergebnissen. Nicht etwa Alfred Jensch stand an der Spitze der Liste, weil er zwischendurch noch andere Aufgaben erledigt hatte, wie z.B. die Entwicklung des Horizontal-Coelostaten oder des sogenannten Differential-Uhrgans (uhrgesteuerter Antrieb). Es schien auch niemand daran gedacht zu haben, seine Leistung als solche zu bewerten. Das Kollektiv schien wichtiger zu sein, und so erhielt eine große Gruppe von Mitarbeitern gemeinsam den Orden „Banner der Arbeit" und differenzierte Geldprämien in mäßiger Höhe. Das sei so, weil ja noch nicht der Erfolg der langjährigen Arbeit durch astronomische Forschungsergebnisse erwiesen sei. Bei der Übergabe des Teleskops war Alfred Jensch auch nicht an der Spitze der Belobigten. Es wurden, man könnte sagen, anstandshalber jene besonders erwähnt, die bereits in Pension gegangen waren, u.a. Georg Günzerodt und Ernst Seifert. Die richtige Auszeichnung käme noch.

Damals fungierte ich noch im Hintergrund, was man auch auf einer Aufnahme der Festversammlung im Kuppelraum sieht. Ich war schließlich erst zu Zeiss gekommen, als die Entwicklung praktisch abgeschlossen war, und war noch nicht lange genug bei Zeiss, um irgendwelchen größeren Einfluß zu haben. Alfred Jensch kam dann doch noch zu einer Auszeichnung auf eine andere Art. Rumü, der technische Direktor des Zeisswerks, hatte sich für ihn eingesetzt, dass er eine Zuteilung für einen „Wartburg" bekam, und das war fast soviel wert wie ein Nationalpreis, auch wenn man das begehrte Fahrzeug selbst bezahlen musste.

In der Zwischenzeit (1956) war das Große Hamburger Schmidt-Spiegelteleskop in Betrieb genommen worden, und Paul Luthardt konnte eine neue Aufgabe übernehmen, mit größerer Selbständigkeit. Es war wieder ein Schmidt-Spiegelteleskop, zwar noch eine Nummer kleiner als der Hamburger Schmidt, dafür aber kamen gleich vier Teleskope zusammen, die nach Jena, Budapest, Torun und Peking geliefert werden sollten. Das war ein lukrativer Auftrag, zwar nur eine Kleinserie, es würde sich aber lohnen. Helmut Kittler hatte einen Erfahrungswert: Wenn man drei Astrogeräte fertigte, dann kosteten sie nur soviel wie zwei von ihnen. Das lag an den hohen Kosten für die Arbeitsvorbereitung und an der Chance, von den Erfahrungen beim zweiten und dritten Gerät einen Nutzen zu erzielen.

Ein starker Impuls ging vom Beginn der Raumfahrt mit dem Start des Sputniks 1957 aus. Die Astronomie nahm an Bedeutung zu, vor allem auf dem Gebiet der RGW-Staaten. Obwohl die direkte Teilnahme der Astronomen an der Raumfahrt noch lange auf sich warten ließ, nutzten die Astronomen ihre Chance, größere Observatorien aufzubauen oder Bestehende zu erweitern. Außer mit den schon erwähnten Sternwarten gab es Verhandlungen mit Astronomen in Bulgarien, Rumänien, der ČSSR oder der Mongolei. Hinzu kamen steigende Nachfragen nach den Standardgeräten, die inzwischen rekonstruiert waren. Neben dem Koordinatenmessgerät, dem Passagegerät, dem Zenitteleskop und dem Blinkkomparator wurden Koronographen entwickelt und schließlich auch der spätere „Dauerbrenner", der 150-mm-Coudé-Refraktor, bei dem das erste Gerät im Rahmen der Aktivitäten zum Geophysikalischen Jahr 1957 nach Karachi geliefert worden war.

Die besten Chancen schien Dr. Luvos Perek zu haben, damals noch Direktor der Sternwarte in Brno. Er fing bescheiden an und wollte ein 1-m-Teleskop. Als er schließlich in Ondrejov bei Prag war, konnte er ein großes Teleskop planen, ein 2-m-Teleskop. Anfang 1958 begannen die Entwicklungsarbeiten bei Zeiss nach einer Aufgabenstellung, die Perek später mit bedeutenden amerikanischen Astronomen abstimmte. Es sollte erst ein reines Cassegrain-Coudé-Teleskop werden, also eine konservative Optik-Konzeption haben. Was sollten wir machen? Der Kunde war König! Dass genügend prinzipielle Erfahrungen vorlagen, stand außer Frage, aber wieviel würden wir als fertige Konstruktion vom Tautenburger Teleskop übernehmen können? Warum nicht das Teleskop so nehmen, wie es ist?

Zwei Argumente gab es gegen die letztere Frage: Das Tautenburger Teleskop war überhaupt noch nicht erprobt, um zu überzeugen, dass es die nahezu ideale Kombination war. Außerdem schien der Bedarf an Schmidt-Teleskopen auf der Nordhalbkugel gedeckt zu sein. Mit den Aufnahmen des Palomar Sky Surveys stand genügend Material für detaillierte Untersuchungen zur Verfügung.

Wenn schon ein neues Teleskop, dann sollte es auch Vorteile für spätere Anfragen und Aufträge bringen, insbesondere bei der Anpassung an andere, niedrigere Polhöhen. Wie schon erwähnt, hatte die Gabelmontierung entsprechende Nachteile. Eine Englische Montierung machte in dieser Hinsicht keine Probleme, außerdem kam mehr Licht zum Coudé-Fokus, weil nur zwei Planablenkspiegel anstelle der vier bei der Gabelmontierung verwendet wurden. So entstand der Entwurf des 2-m-Cassegrain-Coudé-Teleskops auf der Englischen Montierung EM 4. Ein Modell wurde auf der Astroausstellung im Jahre 1958 anlässlich der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in Moskau demonstriert. Eine Abbildung wurde in den Zeiss-Katalog Astro 60 übernommen.

Die Verhandlungen dauerten lange Zeit. Nach den Beratungen mit den amerikanischen Astronomen in Moskau war noch eine Primärfokus-Ausrüstung hinzugekommen und eine Vielzahl von Zusatzausrüstungen, auch die Cassegrain- und Coudé-Spektrographen, die parallel zu den entsprechenden Ausrüstungen für Tautenburg entstanden.

Parallel zu den Verhandlungen mussten natürlich die erforderlichen F/E-Kosten und der Arbeitskräfteeinsatz geplant werden. Es war unseren Vorgesetzten offenbar klar, dass wir nicht einfach das Tautenburger Teleskop ein zweites Mal bauen könnten, wir würden aber sicher auch nicht das Fahrrad ein zweites Mal erfinden. Im neuen F/E-Thema wurden zunächst die Kosten für die Umkonstruktion des eigentlichen Teleskops aufgenommen, die bestätigt wurden. Dann kamen die anteiligen F/E-Kosten für die Entwicklung der Spektrographen, die auch bestätigt wurden. Dann musste die 20-m-Kuppel an die Verwendung einer Beobachtungsbühne für den Primärfokus angepasst werden, was auch bestätigt wurde. Dann musste eine neue Beobachtungsbühne für den Cassegrainfokus entwickelt werden, auch bestätigt. Dann kam uns ein Glücksumstand zu Gute. Es gab noch einen zweiten Interessenten: Die Akademie der Wissenschaften in Baku in der Person des Akademiemitglieds Prof. Sultanow. Aserbeidshan war reich an Ölquellen und ist auch heute noch ein Objekt internationaler Begierde. So konnte in Baku entschieden werden, was mit den Überschüssen gekauft würde. Nun verteilten sich die Entwicklungskosten auf zwei Geräte, die der Spektrographen sogar auf drei. Bestätigt! Bei den Fertigungskosten wirkte auch schon der „Kittler-Effekt". Die F/E-Mittel waren in Geldform nicht so sehr das Problem, sie konnten anteilig auf mehrere Geräte verteilt werden. Wichtiger waren die sogenannten VbE, die Vollbeschäftigten-Einheiten, die Menschen.

Wir setzten eine Entwicklungszeit von rund drei Jahren bis zur Auslieferung der letzten Fertigungsunterlagen an und eine Gesamtlaufzeit von etwa fünf Jahren, Übergabe im sechsten Jahr. Aserbeidshan sollte als erstes Land beliefert werden, für die ČSSR ergab sich ein Zieltermin mit Lieferung 1966, Inbetriebnahme 1967 anlässlich der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union.

Zu den Besprechungen mit Prof. Sultanow kam als Berater der schon erwähnte Dr. N. N. Michelson, den wir schon von einem Erfahrungsaustausch mit den Astro-Kollegen von LOMO kannten. Er hatte u.a. die mathematischen Probleme der Nachführung des azimutal montierten 6-m-Teleskops bearbeitet und kannte sich auch auf dem Gebiet der Astro-Optik gut aus. Die Zusammenarbeit war reibungslos auf der Basis gegenseitiger Achtung, wie überhaupt die Kontakte mit den Astronomen der UdSSR fast auf freundschaftlicher Basis stattfanden, ebenso wie die mit den Kollegen bei LOMO. Hier sei besonders der führende Konstrukteur Joanissiani zu erwähnen, der etwa zeitgleich zum Tautenburger Teleskop ein 2,6-m-Teleskop für die Krim und dann später das 6-m-Teleskop schuf.

Ein zweiter Glücksumstand hatte eine tragische Wurzel. Nach dem Absturz des ersten deutschen Düsenpassagierflugzeugs, der B 152, wurde die Flugzeugentwicklung in Dresden aufgegeben und etwa 150 hochqualifizierte F/E-Kräfte bildeten eine Außenstelle in Dresden-Klotzsche für die Erzeugnisgruppen Astro und Bildmess, deren Arbeitskräftebedarf besonders hoch war und von denen sofort Aufgabenstellungen zur Verfügung standen. Hier bekam Manfred Steinbach die Chance der Realisierung seines Satellitenbeobachtungsgerätes ebenso wie Gerhard Vogel für das Raumflug-Planetarium.

Inzwischen hatte es Strukturänderungen im F/E-Bereich gegeben. Anstelle mehrerer unabhängiger Säulen von Labors und Konstruktionsbüros wurden beide Bereiche jeweils in F/E-Abschnitten zusammengefasst. Während ich seit 1958 Leiter des Astrolabors war, wurde mir 1961 zusätzlich die Leitung des Abschnitts übertragen, und ich hatte nun auch die Verantwortung für das Astro-Konstruktionsbüro, an dessen Spitze inzwischen Alfred Jensch aufgerückt war. Damit übernahm ich auch mit Verantwortung für die Konzeptionen, denn es begann die Zeit der Perspektivpläne.

Grundsätzlich gab es einen Unterschied zwischen dem Astroprogramm und dem der anderen Erzeugnisgruppen, der gelegentlich zu Auseinandersetzungen in der vorgesetzten Ebene führte. Es gab lange Zeit keine sogenannten Staatsplanaufgaben, die von weit oben festgelegt wurden, weil sie von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung waren. Ein Feinmess- oder Messgerät konnte als Produktionsmittel angesehen werden, dessen volkswirtschaftlicher Nutzen sich über die Steigerung der Ausbeute im Produktionsprozess berechnen ließ. Dahingegen galt das nur über den Umweg der Verbesserung der Forschungsergebnisse bei den Astrogeräten.

Ein weiteres Merkmal war die Einzel- oder Kleinserienfertigung verschärft durch individuelle Forderungen. Wenn man einen der früheren Astro-Kataloge analysiert, z.B. den Astro 516, dann findet man eine Vielzahl von „maßgeschneiderten" Einzelgeräten, hervorragend an die jeweilige Aufgabe angepasst, aber nicht für eine andere Aufgabe brauchbar. Das gleiche habe ich übrigens in noch verstärkter Weise beim Fertigungsprogramm von LOMO gefunden. Während bei den Zeiss-Teleskopen die Öffnungen in groben Schritten anstiegen, z.B. 150, 300, 450, 600, 800, 1000, 1200, 1500 und 2000, gab es bei LOMO Teleskope mit 50-mm-Schritten. Die Konstrukteure von Zeiss waren sich der Problematik bewusst. Wie gut hätte es Henry Ford gehabt, bemerkte eines Tages Georg Günzerodt. Wenn seine Kunden zu fragen wagten, in welcher Farbe die Tin-Lizzy das Standard-Modell Ford T ausgeführt sei, dann bekamen sie eine klare Antwort: „Meine Kunden bekommen ihr Auto in jeder beliebigen Farbe, vorausgesetzt diese ist Schwarz!"

In welcher Position meine Vorgänger waren, als sie die Aufträge für die Maßanzüge entgegennehmen mussten, weiß ich nicht. Eine Erfahrung hatte ich auch noch zu Beginn meiner Zeit gemacht: Die Besteller erhielten erst gegen Ende ihrer Dienstzeit die Bewilligung für eine größere Beschaffung, und sie bestellten ihr Wunsch-Teleskop, wie sie es selbst gern schon vor Jahren gehabt hätten, in der Hoffnung, ihren Nachfolgern etwas Gutes zu tun. Das waren dann Autoritäten, und kein Werks-Astronom von Zeiss hätte sich getraut, aus dem Maßanzug einen Konfektionsanzug zu machen.

Aus der Analyse des F/E-Aufwandes bezogen auf den Preis der Gerätes merkte ich, dass wir zu einer Standardisierung kommen müssten. Ein Grundgerät müsse die wesentlichsten Funktionen haben und könnte dann den speziellen Forderungen angepasst werden. Das war eigentlich gegen die Würde eines fähigen Konstrukteurs, wenn er immerfort nur Änderungen und Anpassungen machen musste. Dietrich Gutcke hätte viel lieber immer wieder ein neues Gerät konstruiert, als der Reihe nach vierzehn 1-m-Teleskope zu modifizieren. Sein Universal-Astro-Gitterspektrograph wurde dagegen fast 50 Mal gefertigt, weil wir das entsprechende Beobachtungsgerät, ein 600-mm-Spiegelteleskop, ebenso oft gefertigt hatten. Nunmehr schon Maßkonfektion!

Mit Alfred Jensch solche Fragen zu erörtern, war unproblematisch. Es war klar, dass die Erzeugnisgruppe Astro sich selbst behaupten und in die Zielvorstellungen der Planwirtschaft einordnen musste. Wir mussten uns auch bemühen, das häufig zitierte Weltniveau mitzubestimmen. Es gab verschiedene Wege, darüber Informationen zu bekommen. Eine zuverlässige Quelle war die Zeitschrift Sky & Telescope, die über Zeiss-Vertretungen in den USA und Kanada in die Zeiss-Bibliothek gelangte. Es wurde zwar meist über fertiggestellte Teleskope berichtet, in vielen Fällen waren es Instituts-Entwicklungen, die den modernen Trend erkennen ließen. Die Konkurrenz machte sich durch Inserate bekannt. Dann gab es gute Kontakte zu deutschen und europäischen Astronomen, die ich entweder in den Sternwarten besuchte oder die ich auf Tagungen traf. Ich war meist in Doppelfunktion tätig, teils als Wissenschaftler, teils als Exportkaufmann, lange Zeit quasi als Solist. Als dann das Tautenburger Teleskop in Betrieb war, kamen viele Astronomen als Besucher oder als Gastbeobachter. Von großer Bedeutung waren die Generalversammlungen der Internationalen Astronomischen Union, 1958 in Dublin, 1961 in Berkeley, 1964 im Hamburg, 1967 in Prag.

Die Astronomie gewann international an Bedeutung, und größere Observatorien wurden mit größeren Teleskopen ausgerüstet, Die Klasse der 3- bis 4-m-Teleskope entstand. In Europa entwickelte sich die Europäische Südsternwarte unter ihrem Generaldirektor Otto Heckmann, der das ESO 3,5-m-Teleskop als europäisches Gemeinschaftsprojekt auf den Weg brachte. Wo hatten da 2-m-Teleskope ihren Platz? In einer neuen Denkschrift der westdeutschen Astronomen gehörten sie mit zur Grundausrüstung eines Max-Planck-Instituts für Astronomie, das unter Prof. Hans Elsässer aufgebaut wurde. Diesmal sollte sie von Zeiss Oberkochen und Schott Mainz kommen, wo mit erheblicher staatlicher Förderung die Fertigungsmöglichkeiten aufgebaut wurden. Die Entwicklung sollte durch ehemalige Mitarbeiter der Berliner Firma ASKANIA, dem Nachfolger der Firma Carl Bamberg, erfolgen. Die Leitung übernahm Christian Kühne.

Bei der Entwicklung der Astrogerätetechnik in Oberkochen waren Großbetriebe des Maschinenbaus integriert, ähnlich dem Verfahren in den USA und bei der ESO. Von großer Bedeutung war die Entwicklung des Zerodurs bei Schott Mainz, durch das die Spiegeloptik wesentlich unempfindlicher als bei dem bisher verwendeten Pyrex oder ähnlichen Glasarten war. Weil es beim 5-m-Teleskop große Probleme mit dem thermischen Verhalten des Hauptspiegels gab, schien die beste Lösung bei Quarzspiegeln zu liegen, immerhin um den Faktor 4 unempfindlicher als das Pyrex. In Tautenburg stand kein Pyrex-ähnliches Glas zur Verfügung. Das verwendete Glas ZK 7 war etwa um 30% empfindlicher. Alfred Jensch hatte bei EboTh berechnen lassen, was das in Bezug auf die Bildqualität bedeuten würde. Das Ergebnis war nicht sehr beruhigend. Wenn zwischen Vorder- und Rückseite des Spiegels eine Temperaturdifferenz von 1° K bestand, hatte das einen negativen Einfluss auf die Bildqualität. Die nachfolgenden Maßnahmen waren die maximale Isolierung des Spiegels gegenüber Temperatureinflüssen und der 20-m-Sternwartenkuppel. Ausführliche Messungen durch Dr. Richter ergaben, dass eine größere Temperaturdifferenz im Schmidtfokus toleriert werden konnte. Allerdings ergab sich eine Fokusverschiebung, die nachgestellt werden musste.

Unsere gemeinsame Einschätzung zur Frage der 2-m-Teleskope war, dass sozusagen im Windschatten der größeren Teleskope genügend Probleme für die 2-m-Teleskope übrig blieben. Dabei spielt auch noch eine Rolle, dass bei der Arbeit mit den leistungsfähigen Coudé-Spektrographen nicht die Fläche des Spiegels sondern nur der Durchmesser die Leistung bestimmen. Also gab es sogar noch Chancen für die 1-m-Teleskope!

Die 2-m-Teleskope für die ČSSR und Aserbeidshan entstanden in einer Umbruchzeit. Zu den Säulen Feimechanik und Optik kam die Elektronik, allerdings zuerst in den westlichen Ländern, vor allem in den USA. Aber es war auch die Zeit der Störfreimachung nach 1961. Die ursprünglich gewählte Englische Montierung schien auf einmal der Entwicklung im Wege zu stehen. In den USA hatte die Firma Boller & Chivens ein 1-m-Teleskop mit einer elektronischen Steuerung ausgerüstet, um die sogenannte Koordinatenvorwahl zu automatisieren. Die erste Frage wäre die nach dem Nutzeffekt gewesen. In Tautenburg gab es so etwas nicht. Man beobachtete die Koordinatenanzeige und näherte sich, stufenweise die Geschwindigkeit vermindernd, dem Zielobjekt. Das dauerte einige Minuten. In dieser Zeit gab es noch andere Vorbereitungsarbeiten, also kein absoluter Zeitverlust. Aber, wenn einmal eine Bequemlichkeit angeboten wird, dann gehört es bald zum Standard.

Was war das Problem bei der Englischen Montierung? Je nachdem, wo das Zielobjekt am Himmel lag und wie lange man dieses beobachten wollte, wählte man die Ausgangsstellung des Teleskops. Es gab zwei Fernrohrlagen, Ost und West, d.h., das Rohr lag entweder östlich oder westlich der Stundenachse. Wir sahen bei einer automatischen Vorwahl mit den Mitteln der damaligen Zeit eine zu große Gefahr, dass das Rohr an den Pfeiler der Stundenachse stößt, weil es zwei Wege zum Ziel gibt.

Nun, dann nimmt man eben einen Computer, würde heute jedes Kind sagen. Bei Zeiss gab es sogar einen Computer ZRA1, aber der kostete rund 1 Million Mark. Wie sollte man es verantworten, nur wegen der Bequemlichkeit 50% mehr Geld zu verlangen, denn ein 2-m-Teleskop kostete damals rund 2 Millionen Mark. Wie einfach war doch dagegen eine Gabelmontierung, wenn doch nicht die vier Planablenkspiegel wären.

Alfred Jensch wurmte das wohl sehr, und sein Erfindungsgeist war geweckt. Warum nicht eine Kreuzung zwischen Gabelmontierung und Englischer Montierung? Das wäre wohl eine Sache, über die sich Nachdenken lohnen würde.

Es gab an sich bei Astro kein Zögern, als die Zeit für die Einführung der Elektronik anstelle der Elektrik herangereift war. Alfred Jensch kannte sich auf diesem Gebiet aus. Vom Radiobasteln in seiner Jugend bis zum Eigenbau eines Tonbandgerätes und vieles mehr beherrschte er aus dem ff! Mit dem Ascorecord hatte die Erzeugnisgruppe Astro im Jahre 1964 das erste Zeiss-Messgerät mit Koordinatenregistrierung geschaffen. Die Teleskope arbeiteten noch mit Teilkreisen oder Drehmelderanzeigen, wie z.B. das Tautenburger Teleskop.

Was aber nicht vorherzusagen war, wie schnell sich die Elektronik entwickeln würde, und die Idee eines Tischcomputers kam erst viel später. Wenn wir das gewusst oder auch nur geahnt hätten, wären wir wohl bei der Englischen Montierung geblieben, die ja auch die erwähnten ökonomischen Vorteile hatte. Auch unsere Auftraggeber in Prag-Ondrejov hatten keine Hinweise für uns. Direkte Kontakte zu US-Firmen wie IBM kamen überhaupt nicht in Frage, und das Niveau der DDR-Elektronik-Industrie lag weit unter dem Weltniveau.

Da kam Alfred Jensch mit dem Entwurf seiner neuen Montierung, die wir dann Stützmontierung nannten, nicht Jensch-Montierung. Diesmal sollte nämlich das Prinzip zum Patent angemeldet werden, und damit war die Urheberschaft eindeutig definiert. Es war die erwähnte Kreuzung zwischen Englischer Montierung und Gabelmontierung, allerdings wohldurchdacht, wie man es von Alfred Jensch erwarten konnte. Er nahm den unteren Teil der Gabelmontierung, die Stundenachse, mit der Kugelzone des Öldrucklagers, das ja sinnvollerweise unter dem Schwerpunkt des beweglichen Gesamtsystems angeordnet sein sollte. Dann ist nämlich die Stundenachse frei von Durchbiegungen. Nun wird der Deklinationsachskörper der Englischen Montierung angesetzt, allerdings ohne den oberen Teil der Stundenachse. Wenn man aber das Rohr und das Gegengewicht wie bei der Englischen Montierung ansetzt, dann entsteht ein Biegemoment, weil die dadurch definierte Deklinationsachse nicht durch den Schwerpunkt des Gesamtsystems geht. Bei einer kleinen Montierung gibt es da überhaupt keine Probleme, und größere Deutsche Montierungen, z.B. der langbrennweitigen Refraktoren, können so konstruiert werden, dass das Biegemoment aufgenommen wird. Alfred Jensch hatte den Einfall, die Achse zum Gegengewicht abzuwinkeln, bis die Schwerelinie durch den Krümmungsmittelpunkt des Öldrucklagers ging. Fertig! Einfach so? Natürlich nicht! Die Stütze, daher der Name, auf der die Öldrucklager ruhten, musste nun die Gesamtmasse der beweglichen Teile des Teleskops aufnehmen. Wegen der geforderten freien Beweglichkeit des Teleskops ragte sie in den Raum, war also stark auf Biegung beansprucht. Die Verankerung der Stütze auf dem Teleskopfundament bereitete sogar Albträume. Einmal träumte ihm, die Anker wären gerissen!

So ruhig, wie man den Lösungsweg verfolgen kann, lief die Angelegenheit natürlich nicht ab. Wenn ich zurückdenke, erscheint mir unsere nächste Arbeitsetappe fast wie der Ritt über den Bodensee abgelaufen zu sein.

Wir hatten einen Auftrag für zwei neue Teleskope nach einer abgestimmten Spezifikation. Das Neue gegenüber Tautenburg war die Englische Montierung, aber es war nicht die erste ihrer Art und Größe auf der Welt. Jetzt eine neue Montierung, ein neues Prinzip! Ohne Erfahrungen und ohne Zwang seitens des Kunden! Auch nicht, weil man der Konkurrenz nacheifern musste! Und das ohne Funktionsmuster!!??

Jedes Astro-Großgerät war praktisch ein Funktionsmuster, das aus „normalen" und „kritischen" Baugruppen zusammengesetzt war. Kritische Baugruppen, soweit es möglich war als Sub-Funktionsmuster gebaut und erprobt. So hatte Alfred Jensch seine Erfindung der Kugelumlaufspindel erprobt oder eine Einheit der Entlastungseinrichtung für den Hauptspiegel. Das waren aber Baugruppen, die im Maßstab 1:1 gefertigt wurden und somit verlässliche Aussagen über die endgültige Funktion gaben. Ein Funktionsmuster der Stützmontierung in einem kleineren Maßstab hätte Alfred Jensch konstruieren und bauen lassen können. Aber was würde das bringen? Ein Spielzeug, sonst nichts!

Es musste eben alles genau berechnet werden, sehr genau sogar.

Als wir, die Leitung der Erzeugnisgruppe, die Änderung der Konstruktion der Teleskopmontierung vorschlug, es muß 1962 gewesen sein, genoß Alfred Jensch uneingeschränktes Vertrauen. Das Teleskop in Tautenburg hatte sich bestens bewährt, und Alfred Jensch hatte auch eine persönliche Anerkennung gefunden. Als einer der ersten Spezialisten des Zeisswerks, die über Ingenieurskenntnisse verfügten, aber keine solche Ausbildung absolviert hatten, erhielt er 1961 den Titel „Ingenieur" zuerkannt. Alfred Jensch hatte sein vor Jahren begonnenes Fernstudium wegen seiner Augenerkrankung (Regenbogenhautentzündung) und wegen Überlastung während der Entwicklung des ersten 2-m-Teleskops abbrechen müssen.

Ob wir damals einen Planänderungsantrag gestellt haben, weiß ich nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht an eine Art Staatsaktion erinnern. Wer außerhalb der Erzeugnisgruppe konnte überhaupt beurteilen, welche Konsequenzen eine solche Änderung haben würde. Wir mussten die Termine einhalten und natürlich auch die Kosten. Sehr viel Arbeit hatten wir in die Konstruktion der Englischen Montierung nicht gesteckt, aber es entstanden dann doch zwei Größen von ihnen. Alfred Jensch hatte nämlich eine Baureihe konzipiert: Die EM1 sollte einen 400-mm-Doppelastrographen tragen, die EM2 ein 1-m-Teleskop und die EM3 ein 1,5-m-Teleskop. Das war ein guter Wurf, denn sechs Doppelastrographen und 14 der 1-m-Teleskope wurden gebaut! Die ersten 1-m-Teleskope gingen nach Indien, mit dem dritten 1-m-Teleskop für Ungarn begann unsere Kooperation mit der ungarischen Firma VILATI, die moderne Steuerungen von Werkzeugmaschinen mit modernen westlichen Bauelementen bauen konnte.   

Das Ansehen der Erzeugnisgruppe wuchs auch durch die Erfolge der Planetariumsentwicklungen, die vor allem zu Exporten in das sogenannte NSW, das Nicht-Sozialistische Wirtschaftsgebiet, führten. Wenn auch Alfred Jensch nicht direkt daran beteiligt war, so rundeten sie das Erfolgsprogramm von Astro ab.

Infolge des Zuwachses an F/E-Kräften durch die ehemaligen Flugzeugkonstrukteure in Dresden konnte die Erzeugnisgruppe Astro mit einem imposanten Ausstellungsprogramm 1967 in Prag anlässlich der Einweihung des 2-m-Teleskops in Ondrejov aufwarten. Im Jahr zuvor war schon das Schwester-Teleskop in Schemacha bei Baku übergeben worden.

Die Konzeption der Entwicklung von Seriengeräten mit großer Nähe zum Weltstand hatte Erfolg gebracht. Zahlreiche Goldmedaillen der Leipziger Messe waren der Lohn, aber die Krönung war die Auszeichnung eines Astrokollektivs mit dem Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik im Oktober 1967. Alfred Jensch erhielt endlich die verdiente Anerkennung und mit ihm die Spezialisten der Glas- und Optikfertigung Siegfried Carl, Walter Pfaff und Hans Grimm, sowie Manfred Steinbach und der Verfasser.

Drei Jahre vorher, anlässlich der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in Hamburg, hatte Carl Zeiss Jena wie schon erwähnt das Koordinatenmessgerät ASCORECORD ausgestellt und sowohl die Konkurrenz als auch die Fachwelt beeindruckt. Es war eigentlich für die Astrometrie bestimmt, aber wurde dann auch für die analytische Photogrammetrie eingesetzt. Mit der Entwicklung der Mikroelektronik entwickelte sich eine große Nachfrage und parallel zu den Fortschritten der Elektronik eine fortwährende Weiterentwicklung der Geräteelektronik bis zur Kopplung mit Digitalen Kleinrechnern vom Typ PDP 8, PDP 11 und PDP 16. An sich war das ASCORECORD für die Photogrammetrie zu genau, und für die Maskenmesstechnik war der Messbereich zu groß. Aber das bewährte Seriengerät wäre auch in einer kleineren Ausführung nicht kostengünstiger gewesen.

Für die Erzeugnisgruppe Astro war das ASCORECORD das umsatzstärkste Gerät. Allein im Jahre 1969 wurden 95 Geräte in einem Wert von rund 20 Millionen Mark in die UdSSR exportiert, was damals von entscheidender Bedeutung nicht nur für die Planerfüllung des P-Betriebs war, sondern auch der Erzeugnisgruppe Astro ihre Existenzberechtigung erhielt. Hinzu kam damals noch der Auftrag für ein weiteres 2-m-Teleskop für Bulgarien. Eigentlich sollte damals die Erzeugnisgruppe gegen Null gefahren werden. Das begann mit der Stornierung des gesamten Lagerauftragsvolumens, das etwa 50% der Astrofertigung umfasste. Dann sollte die F/E-Kapazität zugunsten des sogenannten E-Systems umgelenkt werden. Gleichzeitig wurde die gesamte Astro-Entwicklung aus dem Forschungs-Bau 59 „exmittiert" in die Baracken auf dem Gelände Mikrobiologischen Institus am Beuthenberg. Darüber habe ich eine Geschichte in der Sammlung „Menschen bei Zeiss und Schott" verfasst: „Wer nicht kommt, hat noch Chancen!", die ich nicht noch einmal im Einzeln erzählen möchte. Fakt ist, dass die Entwicklungskapazität von Astro nur durch taktisch überlegtes Manövrieren erhalten blieb. In Abstimmung mit Alfred Jensch, den Gruppenleitern und den Entwurfsingenieuren schlug ich vor, abgeschlossene Teilaufgaben des E-Systems bei Astro in einem bewährten Kollektiv zu bearbeiten anstelle einer Umsetzung und Verteilung auf andere Entwicklungsbereiche. Wahrscheinlich spielte ein wenig Glück dabei mit. Die weitgehende Isolierung vom Geschehen im Hauptwerk hatte auch Vorteile: Schlechte Nachrichten verliefen sich mit der Zeit, über gute Nachrichten konnte man sich auch später freuen.

Das Ergebnis dieser zweigleisigen Arbeit konnte sich sehen lassen. Unter der Leitung von Manfred Steinbach entstand das „Super"-Koordinatenmessgerät M100, mit dem die Grenzen des physikalisch Messbaren erreicht wurden. Lohn dafür war der Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik für Manfred Steinbach, Karl-Heinz Weßlau, Alfred Karnapp und Gotthard Sesselmann vom Astro-F/E-Bereich.

Es bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung, dass Alfred Jensch diese Entwicklung förderte. Aber die Hauptaufgabe war das neue 2-m-Teleskop für Bulgarien, mit dem wieder eine bemerkenswerte Weiterentwicklung im Zeiss-Teleskopbau in Angriff genommen wurde.

Zum einen war die Zeit für die stärkere Einbeziehung der Elektronik in die Steuerungstechnik reif, und wir konnten von der angelaufenen Kooperation mit VILATI in Budapest Nutzen ziehen. Alfred Jensch war der geeignete Vermittler zwischen den Elektronikern bei VILATI, die Astrosteuerungstechnik lernen mussten, und den eigenen Mitarbeitern, die die Vorteile der neuen Lösungen ausnutzen konnten. Zum zweiten war die Zeit der Ritchey-Chretien-Teleskope gekommen, mit denen im Cassegrainfokus größere Bildfelder aufgenommen werden konnten. Solche Teleskope wurden international gefordert, und wir hatten auch mit dem Max-Planck-Institut für Astronomie, mit Prof. Elsässe, über eine solche Variante verhandelt.

Niemand auf der ganzen Welt ahnte damals, wieviel Lehrgeld jeder Hersteller von Astrogroßoptik zahlen müsste - auch wir nicht - wenn er ein Ritchey-Chretien-System fertigt. Abgesehen von den neuen Prüfverfahren waren nämlich inzwischen die Forderungen der Astronomen extrem gesteigert worden. K. Bahner hatte das Thema „Beugungsbegrenzte Optik" behandelt, und die Forderungen nach Lichtkonzentration im Fokus lagen weit unter einer Bogensekunde. Die Prüfung von Astro-Optik war inzwischen durch objektive Verfahren abgesichert, unterstützt durch die moderne Rechentechnik. Diese Verfahren waren in Jena mit entwickelt worden, wie z.B. die Hartmann-Prüfung mittels Quadratnetzblenden, ein Verfahren, das später von Shack in den USA unabhängig gefunden wurde. Das Problem der Ritchey-Chretien-Optik besteht darin, dass der Hauptspiegel nur mit Hilfe eines Kompensations-Systems geprüft werden kann. Das gab es zwar, von Offner erfunden, aber wer prüft und beurteilt das Kompensationssystem richtig? So kam es zum Hubble-Syndrom, weil ein solches System subjektiv falsch beurteilt wurde. Auch die Optik des 3,5-m-NTT-Systems hatte einen so bedingten Fehler, der nur mit Hilfe der aktiven Spiegellagerung kompensiert werden konnte.

Wie gesagt, davon wussten wir 1970 noch nichts. Der einzige, der davon etwas ahnte, war Walter Pfaff, der langjährige Astro-Optik-Chef. Er forderte neue Prüfmethoden, aber die würden wir erst erproben können, wenn wir die Optik real fertigen.

Es gab noch andere Probleme. Die Fertigungsunterlagen für die beiden 2-m-Teleskope für die ČSSR und Aserbeidshan waren in den Jahren 1961 bis 1963 im Wesentlichen erarbeitet worden. Nach 10 Jahren gab es neue Vorschriften, neue Bauelemente, und die Erfahrungen waren zwar im Zeichnungssatz erfasst, aber nicht eingearbeitet. Neue Mitarbeiter mussten eingearbeitet werden, manche besonders gut ausgedachte konstruktive Lösung war nicht sofort nachzuempfinden. Alfred Jensch hatte z.B. eine Einrichtung zur Kompensation der Fehler der Antriebsschnecke entworfen auf mechanischer Basis, die war quasi in der Konstruktion versteckt. Der Konstrukteur, der diese Baueinheit zu bearbeiten hatte, bemerkte sie auch, wusste aber von sich aus nicht, wozu sie dient. Heute löst die Computer-kontrollierte Steuerung solche Probleme mit Leichtigkeit. Aber auch hier kann es passieren, dass im Programm eine Lösung versteckt ist, die nur der Urheber kennt.

Es erhebt sich jetzt die Frage, ob Alfred Jensch mit schlafwanderlicher Sicherheit immer die richtigen, die optimalen Lösungen fand und sie quasi aus den Ärmeln schüttelte. Er hatte Probleme bei der Umsetzung seiner Entwürfe, wenn er sie an noch unerfahrene Mitarbeiter weiter geben muste, denen er eigentlich die korrekte Erledigung der Aufgabe zutraute. Idealerweise sollte ein „Chef-Konstrukteur" laufend die Arbeiten seiner Mitarbeiter überwachen. Dazu hätte es noch eines zweiten Alfred Jensch bedurft. Während die ersten Entwürfe in Konstruktionen umgesetzt wurden, ging ja seine Entwurfs- und Koordinationsarbeit weiter.

Es gab eigentlich keinen echten Rückschlag, der von Mängeln der Entwürfe oder der Konstruktion herrührte. Nur einmal kamen wir in richtige Schwierigkeiten und zwar mit der Öldruckanlage des 2-m-Teleskops in Ondrejov. Bei der Montage und in der ersten Zeit der Anwendung hatte alles funktioniert, als eine Hiobsbotschaft in Jena ankam. Durch einen heftigen Ölaustritt aus einem der Druckkissen war das Teleskop stillgelegt.

Woran lag das? Was war zu tun? War es ein Konstruktionsfehler oder waren es Fertigungsmängel? Hatte es so etwas in Tautenburg schon einmal gegeben?

Die Tautenburger Öldruckanlage war nicht die erste, die bei Zeiss für ein großes Teleskop verwendet wurde. Bei der sogenannten Kugelmontierung für den 1-m-Schmidtspiegel des Mussolini-Projekts war eine solche entwickelt worden, die später in Oberkochen für das 1,23-m-Cassegrain-Teleskop verwendet wurde. In großem Maßstab kamen Öldrucklager beim 5-m-Teleskop zum Einsatz, das ohne diese überhaupt nicht funktioniert hätte. Alfred Jensch kannte die dabei verwendeten Lager, wie er mir einmal erzählte. Er habe die Konstruktion aber durch die Anwendung des Vier-Kammer-Systems verbessert. Wenn darüber wenig zu lesen ist, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass Alfred Jensch gründlich darüber nachgedacht hat, wie ein solches Lager für lange Zeit und unter den verschiedensten Bedingungen funktioniert.

Seine Überlegungen waren offenbar richtig gewesen. Noch nie hatte die Öldruckanlage in Tautenburg auch nach rund 10 Jahren Betrieb jemals Störungen gezeigt! Das Prinzip war also offenbar einwandfrei. Und wenn es irgendwelche Probleme gegeben hätte, so hatte Alfred Jensch vorgesorgt. Um die Lagerkissen für eine Inspektion und eventuelle Reparatur freizulegen, hatte er eine hydraulische Hubeinrichtung konstruiert und in das Stundenachslagersystem einbauen lassen.

Als es um die Konstruktion der entsprechenden Baugruppen der Stützmontierung ging, konnte Alfred Jensch diese Hubeinrichtung nicht ohne weiteres übernehmen. Zwischen einem hohen technischen Aufwand für eine Neukonstruktion und der Erfahrung, dass es keine Probleme gegeben hatte, war abzuwägen. Jeder auch noch so vorsichtige Konstrukteur hätte der Erfahrung vertraut, so auch Alfred Jensch.

Zu der Lösung des Problems musste aber erst einmal der „Patient" genauer untersucht werden. Wie hebt man etwa 60 Tonnen ganz vorsichtig um etwa 100 mm? Ein Kran schied aus, weil die Elastizität in den Zugseilen zu berücksichtigen und ein Feinsthub nicht verfügbar war. Da gab es ein hydraulisches System, das bei Havarien in der Bahntechnik angewandt wurde. Durch Anheben, Unterlegen, wieder Anheben konnten Lasten wie das Teleskop ganz vorsichtig angehoben und später abgesenkt werden.

Die Prozedur gelang, und die Ursache des Schadens wurde offenbar: Die Gleitflächen der Lagerkissen waren verzinnt, aber nicht an allen Stellen hatte das Zinn gehalten. Durch den Öldruck waren Zinnflächen abgetragen und damit der Ölspalt örtlich vergrößert worden. Es war also kein konstruktiver Fehler!

Die Flächen wurden sorgfältig neu verzinnt, und der Fehler trat nie wieder auf. Bei den neuen Montierungen für Bulgarien(Roshen) und die Ukraine (Terskol) wurde dann auf die Zinnschicht verzichtet und damit endgültig die Gefahr einer Havarie beseitigt.

Nur Erfolge hat kein Mensch. Auch der klügste Konstrukteur muss mit Rückschlägen rechnen. In der USA-Zeitschrift „Design News" beklagte sich vor etwa 30 Jahren der Herausgeber, dass die Studenten nur gelehrt bekommen, wie sie Erfolge erzielen. Der Umgang mit Misserfolgen gehört nicht zum Vorlesungsprogramm.

Eine weitere Aktivität Alfred Jenschs war eine neue Form der Produktionsplanung, die er in enger Zusammenarbeit mit dem Astro-Fertigungsleiter Helmut Kittler.löste In Bezug auf moderne Produktionsplanung kamen die Anregungen natürlich aus dem Westen. So war das auch früher, als z.B. die Auftragsabrechnung über Hollerith-Maschinen lief. Die sogenannte 10er oder 12er Karte war fast jedem Zeissianer vertraut, und ohne Karte bekam man im Materiallager nichts, und die Lohnabrechnung lief auch so. Die vorausschauende Planung nutzte Erfahrungen von Jahrzehnten. Wenn man ein Gerät, bestehend aus hundert Teilen, hatte, war das noch übersichtlich. Aber ein Großplanetarium oder ein 2-m-Teleskop stellte höhere Anforderungen, besonders, wenn es auch um die Einhaltung von Terminen ging.

Der Fachausdruck kam aus dem Bereich des sogenannten „Operations Research": Es ging um die Planung nach dem Verfahren des kritischen Wegs. Auch vorher hatten die Produktionsplaner erfahrungsgemäß so gehandelt, dass sie die sogenannten Langläufer zuerst bestellten und sich daraus auch die Länge des Produktionsprozesses ergab. Nun wurden alle Teile und später die Baugruppen analysiert, und es entstanden Lauflinien unterschiedlicher Länge. Die Blätter im DIN A1 Format sahen wie ein Schienennetz aus. Hatte man den längsten, den kritischen Weg gefunden, dann war der meist viel zu lang. Denn an die Fertigstellung des Teils oder der Baugruppe folgten die Montage und die Erprobung, die ebenfalls zu berücksichtigen waren. Oft war an dieser Stelle eine Überprüfung der Konstruktiuon oder gar des Entwurfs erforderlich, wie schon am Anfang dieses Berichts erwähnt wurde.

Die Problematik der damaligen Zeit um 1962 bestand darin, dass die erforderliche Rechentechnik nicht zur Verfügung stand. Auch ein anderes Problem spielte dabei eine Rolle. Es gab keine freien Kapazitäten. Alle Maschinen und alle Leute waren voll ausgelastet. Berichte über die Industrie im Westen nannten einen Auslastungsgrad bei 60%.Trotzdem wurde das Verfahren genutzt. Ob es viel gebracht hat, kann man nicht mehr feststellen, denn es hat sich niemand die Mühe gemacht, beide Verfahren durchzurechnen. An eine Sache kann ich mich allerdings ziemlich gut erinnern: Die Feinblechnerei war stets überlastet, und so wurde die Fertigung der Blechteile des Teleskops besonders sorgfältig geplant, wobei beachtet wurde, dass sie erst in der letzten Produktionsphase benötigt wurden. Das Ergebnis war, dass diese Teile die ersten waren, die der Montage zur Verfügung standen.

Alfred Jensch gehörte zu den anscheinend „Privilegierten", er war ein sogenannter „Reisekader". Bis in die 60er Jahre war das nichts Besonderes bei Zeiss und wahrscheinlich auch anderswo in der DDR. Für Verhandlungen mit ausländischen Kunden wurden die Fachleute hinzugezogen, die die echten Partner dieser Kunden waren. Es gab auch keine Direktiven, die über viele Stellen bis zum Bereich Ordnung und Sicherheit liefen, von wo aus die letzte Befürwortung oder Ablehnung kam. Erst unter dem GD Biermann wurde die Kantare angezogen, aber eine eingehende Diskussion würde hier zu weit führen.

Die erste Auslandsreise führte Alfred Jensch, wenn ich mich recht erinnere, im Herbst 1955 nach Prag. Dort veranstaltete Carl Zeiss Jena ein Ausstellung seines Programms, und Alfred Jensch hielt dort den Eröffnungsvortrag einer Reihe wissenschaftlicher Vorträge von Zeiss-Spezialisten, natürlich über das 2-m-Teleskop für Tautenburg. Es ist anzunehmen, dass dieser Vortrag die Astronomen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften ermutigte, ihre Pläne für ein großes Teleskop zu entwickeln. Im Verlaufe der Planung, Projektierung und des Aufbaus des 2-m-Teleskops Ondrejov fanden abwechselnd in Jena und in Prag bzw.Ondrejov insgesamt etwa 30 Koordinierungsberatungen statt, die Alfred Jensch für die Zeiss-Seite leitete, soweit es um technisch-wissenschaftliche Fragen ging. Selbstverständlich verliefen so auch ähnliche Beratungen mit den Astronomen der Aserbeidshanischen Akademie der Wissenschaften. Insgesamt verliefen solche Beratungen auf freundschaftlicher Basis, bei wechselseitiger Berücksichtigung der Interessenlage.

In gleicher Weise entwickelte sich die Zusammenarbeit mit den Astro-Kollegen des Unternehmens LOMO in Leningrad. Bei den wechselseitigen Besuchen und Konsultationen konnte auf der Achtung und Anerkennung der Zeiss-Spezialisten aufgebaut werden, die von 1946 bis 1952 Wiedergutmachung leisteten. Alfred Jensch fand in dem Konstrukteur Joannisiani einen ebenbürtigen Partner, der systematisch immer größere Teleskope konstruierte, um den Astronomen der UdSSR eine angemessene beobachtungstechnische Basis. J. konstruierte schließlich das seinerzeit größte Teleskop der Welt, das 6-m-Teleskop, dessen Steuerungsprobleme von dem Pulkowoer Astronomen N.N. Michelson wissenschaftlich untersucht worden waren. Es gab Ansätze einer langfristigen Zusammenarbeit, die aber an verschiedenen Schwierigkeiten scheiterte. So unterstand das Unternehmen LOMO dem Ministerium für Verteidigung, und die Astronomen mussten schon einen großen Einfluss haben, wenn sie aus dem Wunsch nach einem neuen Teleskop zu einem Auftrag für LOMO kamen. Insofern war LOMO nie eine echte kommerzielle Konkurrenz. Andererseits wurden alle Aufträge an Zeiss über den Außenhandel der UdSSR, die Firma Mashpriborintorg, abgewickelt. Der Umfang des Exports der Astroabteilung in die UdSSR wuchs in den Jahren von 1960-1990. Zwei Entwicklungen seien erwähnt: das 1-m-Teleskop und das ursprünglich 2-m-Hochleistungsteleskops genannte Gerät.

Die 1-m-Teleskop-Entwicklung bei Carl Zeiss Jena begann 1964 mit den Verhandlungen mit Dr. Sinvahl vom Observatorium Nainital in Uddar Pradesh/Indien. Es entstanden zunächst zwei Teleskope für Indien, das zweite für Dr. V. Bappu für das Observatorium Kavalur. Dann kam das 1-m-Teleskop für Ungarn mit der Zusammenarbeit mit dem ungarischen Unternehmen VILATI. Da kam eine Anfrage von Mashpriborintorg Moskau nach einem 1-m-Teleskop mit einer ausführlichen Spezifikation, mit der Option der Bestellung einer Reihe von Geräten.

Nach eingehender Prüfung stellte ich fest, dass es sich wieder um einen „Maßanzug" handeln würde, mit zahlreichen Besonderheiten für wichtige Funktionsgruppen. Bei der Diskussion mit Alfred Jensch, Bodo Herrmann, Paul Luthardt und Helmut Böhme ergab sich, dass die potentiellen Besteller offenbar einerseits nicht unsere Spezifikation kannten. Andererseits waren die Besonderheiten unerprobte Ideenkonzeptionen. Relativ ungerührt teilten wir der Firma Mashpriborintorg mit, dass wir gerne einige 1-m-Teleskope liefern würden und dafür ein bereits international erprobtes Modell anbieten könnten. Für konstruktive Modifikationen hätten wir leider keine Kapazität, und es wäre auch mit höheren Kosten zu rechnen.

Für die Außenhändler in Moskau war 1-m-Teleskop gleich 1-m-Teleskop, und für die Astronomen war entscheidend, dass sie ein solches Teleskop erhielten. Es wurden dann sechs Teleskope, die in dem astronomisch sehr günstigen mittelasiatischen Raum aufgebaut wurden.

Das Thema 2-m-Hochleistungsteleskop wurde um 1975 diskutiert. Unser Partner war der Astronomische Rat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Der Begriff „Hochleistung" bezog sich auf die optische Leistung. Lange Zeit galt die einfache Beziehung, dass sich die Leistung eines Teleskops, ausgedrückt in der sogenannten „Reichweite", proportional der Lichtsammelfläche, also in quadratischer Abhängigkeit mit dem Durchmesser der Optik ergibt. Inzwischen ergaben Berechnungen, u.a. durch Bahner, dass den Leistungen der Optik durch die atmosphärischen Bedingungen einerseits und durch die optische Abbildungsqualität Grenzen gesetzt werden.

Die erste Aktivität der Astronomen bestand in der intensiven Suche nach optimalen Standorten. Die sogenannten „Seeing"-Verhältnisse waren z.B. in Chile und in Mittelasien nahezu ideal. Während man vorher mehr Wert auf klare Nächte gelegt hatte und mit einem Seeing von 1 bis 3 Bogensekunden zufrieden war, suchte man nach Standorten mit Werten um 0,5 Bogensekunden und darunter. Nahezu ideal wäre nun, wenn das Seeing-Bildscheibchen von 0,5 Bogensekunden Durchmesser optimal an die Pixelgröße des Bildempfängers angepasst ist. Aus dem Wert von 10 Mikrometern für einen elektronischen CCD-Empfänger kann man eine optimale Brennweite ermitteln. Praktisch muss man den doppelten Wert ansetzen, und man erhält für 0,5 Bogensekunden eine Brennweite von 16 Metern. Dieser Wert ergibt sich im Ritchey-Chretien-Fokus des 2-m-Teleskops von Carl Zeiss Jena.

Die Forderung nach einer Annäherung an die beugungsbegrenzte Bildqualität spielt demnach nur bei Teleskopen mit größeren Durchmesser und damit größerer Brennweite eine Rolle. Beispielsweise sind beim Hubble-Space-Telescope die Anforderungen an die Bildqualität so hoch, weil man im Cassegrainfokus eine Brennweite von rund 90 Metern hat. Diese Brennweite ist aber nicht optimal an den Empfänger angepasst, sondern durch die räumlichen Bedingungen am Fokus (Wechseleinrichtung zu verschiedenen Zuzsatzgeräten) bedingt.

Dieser etwas ausführliche Ausflug in die Fragen der optimalen Konzeption eines Hochleistungsteleskops gibt zugleich eine Antwort auf die Frage, ob jemals ernsthaft erwogen wurde, bei Carl Zeiss Jena ein größeres Teleskop zu konzipieren und später zu bauen. Die Antwort ist: Nein! Für den Bedarf in der UdSSR war LOMO prädestiniert, und mit dem 6-m-Teleskop war auch die Entwicklungslinie vorgezeichnet, während in den westlichen Ländern immer noch Abkömmlinge der 5-m- Konzeption entstanden. Für diese Teleskope entstand im Laufe der Zeit ein Netz von Zulieferfirmen in den Ländern der Europäischen Südsternwarte, weil jedes Land daran interessiert war, seinen finanziellen Beitrag zum ESO-Etat wieder in Aufträge an die eigene Industrie umzuleiten. Da die DDR nicht an der ESO beteiligt war, hätte Carl Zeiss Jena schon etwas Exzeptionelles entweder in technischer Hinsicht oder in Bezug auf Preis oder Liefertermin bieten müssen in Konkurrenz zu Oberkochen.

Wenn wir entsprechende Perspektivpläne aufstellten, die als sogenannte VVS, Vertrauliche Verschlusssache, nur wenigen Mitarbeitern bekannt waren, dann zielten wir auch auf Entwicklungen wie einem Ballonteleskop, das von Oberkochen erfolgreich für Prof. Kiepenheuer entwickelt worden war, oder einem Röntgenteleskop, wie das ROSAT. Zum letzten Thema wurde für Prof. Mandelstam von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine Vorstudie bearbeitet, die zu einem 1-m-Röntgen-Teleskop führen sollte. Zu dieser Zeit, wahrscheinlich 1975, hatten bereits Mitarbeiter des Astronomischen Instituts der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erfolgreich eine Technologie zur Kopie von Röntgen-Optik im Bereich um 150 mm Durchmesser entwickelt. Ich hatte damals Prof. Mandelstam den Vorschlag gemacht, anstelle einer „Dicken Berta" von 1 m Durchmesser ein Bündel solcher 150-mm-Optiken zu einer „Katjuscha" zu verbinden. Es war sicher nur eine Schnapsidee.

Wenn wir solche Pläne aufstellten, dann erfolgte dies mit wenigen Ausnahmen ohne konkrete äußere Forderungen. Bei anderen Erzeugnisgruppen mussten Staatsplanthemen bearbeitet werden, wenn bedeutende Bedarfsträger ihre Forderungen über die Staatliche Plankommission in die langfristigen Pläne lanciert hatten. Staatsplanthemen wurden schärfer kontrolliert, hatten aber auch bessere Ressourcen auf allen Gebieten. Unsere Planung war in hohem Maße am Export orientiert, und unsere Leistungen wurden an einer summarischen Bewertung wie der Devisenertragskennziffer gemessen. Für Astro war diese sowohl im Export in die RGW-Staaten als auch in das sogenannte „NSW", das Nicht-Sozialistische Wirtschaftsgebiet, überdurchschnittlich hoch. Als ich mich eines Tages bei Prof. Pohlack darüber beklagte, dass sich eigentlich niemand so recht dafür interessierte, was wir täten, antwortete er trocken: „Seien Sie doch froh, dass Ihnen niemand hineinredet!" Was allerdings in den internen Zirkel der Partei beredet wurde, erfuhr ich nicht.

Mit dem 2-m-Teleskop wollten wir, Alfred Jensch und ich, quasi ein Arbeitspferd auf eine Marathonstrecke schicken. Die Kosten der entsprechenden Sternwartenausrüstung waren im Verhältnis zum Gebrauchswert sehr günstig, besonders wenn man die Kostenentwicklung im damaligen Teleskopbau betrachtete. Unser Fazit war, dass eine kontinuierliche Weiterentwicklung des 2-m-Typs kommerziell für Zeiss und leistungsmäßig für den Kunden vorteilhaft wäre.

Eine gewisse Schwierigkeit der damaligen Zeit bestand darin, dass die Generation der in der Nachkriegszeit bis etwa 1970 führenden Astronomen in beiden Teilen Deutschlands, aber auch international gesehen, der nächsten Generation Platz gemacht hatten. Die zum Teil noch aus der Vorkriegszeit stammenden Beziehungen bestanden nicht mehr, und die zunehmende Orientierung auf die ESO und die USA hemmten unsere Chancen. So hatten wir z.B. nach den Aufträgen für die ČSSR und für Aserbeidshan auch einen Auftrag für Polen erhalten. Auch dort hatte Carl Zeiss an die Sternwarten Warschau, Krakau, Breslau, Posen und Thorn zahlreiche Geräte geliefert. Mitten in die anlaufende Fertigung, der 2-m-Rohling aus Rasotherm war bereits gegossen, kam die Stornierung des Auftrags. Wir hatten von den polnischen Astronomen keine Vorinformation erhalten und nahmen an, dass die Planungsbürokratie ihre Hände im Spiel hatte. Wir glaubten auch im Interesse unseres Kunden zu handeln, als wir eine nicht zu knappe Entschädigung für bereits angefallene Kosten verlangten. Diese wurde ohne weiteres bezahlt. Was war nun die Ursache der Stornierung? Die jüngeren polnischen Astronomen hatten seinerzeit, dank einer großzügigeren Auslandspolitik Polens, an den großen Sternwarten der Welt ihre Beobachtungen anstellen können, ohne dass sich einer um die Organisation eines Observatoriums kümmern musste, abgesehen davon, dass die Beobachtungsbedingungen wesentlich besser waren, als man sie in Polen hätte erwarten können.

Ich will die Diskussion der Zusammenhänge jetzt verlassen und wieder direkt zu Alfred Jensch und seinen Auslandskontakten und -aufenthalten zurückkommen.

Zuvor, 1959, konnte Alfred Jensch das englische Konkurrenzunternehmen, die Firma Grubb Parsons in Newcastle, besichtigen. Der führende Konstrukteur war G. M. Sisson, der in Analogie zum Tautenburger Teleskop ein 2,49-m-Kombinations-Treleskop entworfen hatte, das in Herstmonceux in Sussex aufgestellt werden sollte. Später wurde diese Idee aufgegeben, und so entstand das 2,49-m-Isaac-Newton-Teleskop, das jetzt auf La Palma betrieben wird. Sisson hatte vorher zusammen mit namhaften Astronomen, wie O. Heckmann, Hamburg-Bergedorf, Siedentopf, Tübingen, Wellmann, Hamburg-Bergedorf, H. Elsässer, Heidelberg, Fehrenbach, Pic du Midi, die Astroabteilung mit dem in der Endmontage befindlichen 2-m-Teleskop besichtigt.

1959 unternahm Alfred Jensch eine Reise nach China im Rahmen einer Zeiss-Ausstellung und hielt dort einen Vortrag über das neue Programm der Astroabteilung.

Bei der Betrachtung des Reiseprogramms von Alfred Jensch muss berücksichtigt werden, dass „wissenschaftliche Reisen" einen anderen Genehmigungsweg hatten als „kommerzielle Reisen". Zeiss-Wissenschaftler konnten, wie schon erwähnt, als Vortragende anlässlich von Zeiss-Ausstellungen ins Ausland kommen, waren dort allerdings in ein straff organisiertes Programm eingebunden. Da ich schon in den ersten Jahren meiner Zugehörigkeit zu Zeiss Auslandserfahrungen gewinnen und dabei auch kommerzielles Geschick und Erfolge vorweisen konnte, übernahm ich bis zur Bildung des Zeiss-Außenhandels viele „Einzel"-Reisen in Doppelfunktion: Als Astronom erforschte ich den Bedarf bis ins Einzelne und konnte gleichzeitig die Verkaufsverhandlungen führen. Ich war das Ohr und das Sprachrohr, meine Mannschaft mit Alfred Jensch an der Spitze war der Organismus, der dann das Objekt realisierte.

Kurz vor dem Ende seiner Berufstätigkeit nahm Alfred Jensch im August 1976 an der Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in Grenoble teil, allerdings als Ersatzmann für den Verfasser, der damals zeitweilig als „Reisekader" gestrichen war. Jensch reiste gern nach Frankreich, weil er dort mehrere Jahre als Kriegsgefangener in der Landwirtschaft gearbeitet hatte. Er traf in Grenoble viele ausländische Astronomen, mit denen wir von Jena aus enge Kontakte hatten, allerdings war dies in den Augen der Ordnung und Sicherheit bei Zeiss suspekt. Eine Postkarte an den Verfasser, an seine Betriebsadresse gerichtet, wurde analysiert: Grüße von Ausländern an den ohnehin gesperrten Reisekader? Facit: Nun sollte Alfred Jensch auch gesperrt werden, und der Verfasser sollte die entsprechenden Weisungen durchsetzen. Jegliche sachliche Argumente spielten keine Rolle, und ich beriet mich mit Alfred Jensch, ob ich stärkere Geschütze auffahren sollte, schließlich war er Nationalpreisträger. Görlich hätte vielleicht etwas erreicht, aber der war 1970 in Pension geschickt worden. Inzwischen war GD Biermann im Amt und hatte rücksichtslos „durchgegriffen". Wir beließen es dabei, nicht zu opponieren. Alfred Jensch wollte ohnehin im Sommer 1977 in den Ruhestand gehen, und es stand auch keine Reise mehr an. Ob die Astroabteilung dadurch einen Schaden hatte, spielte keine Rolle.

Alfred Jensch wollte mit Vollendung seines 65. Lebensjahrs seine Berufstätigkeit beenden, was sein gutes Recht war. Prinzipiell galt aber damals noch die Bestimmung des Statuts der Carl-Zeiss-Stiftung, dass zu diesem Zeitpunkt der Werksangehörige selbst entscheiden kann, ob er in Pension gehen will oder nicht. Arbeitete er weiter, so erhielt er die Zeiss-Pension zusätzlich zu seinem Arbeitsentgelt. Letztere Vergünstigung hatte aber Biermann abgeschafft und so hätte der Verfasser keinen „materiellen Anreiz" bieten können.

Vor Alfred Jensch waren schon Paul Luthardt und Bodo Herrmann als führende Entwerfer ausgeschieden. In ihre Fußstapfen traten Dietrich Gutcke, Manfred Steinbach, Gotthard Sesselmann, auch Helmut Artus und später Karl-Heinz Jahr. Schon lange vorher hatte ich die damalige Kaderleiterin des 1970 gebildeten Forschungszentrums darauf aufmerksam gemacht, dass die Kontinuität die wichtigste Eigenschaft bei der Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Potentials bei Zeiss ist. Nachwuchskräfte müssten unabhängig von irgendwelchen VbE-Kennziffern lange vor dem Ausscheiden führender Kräfte entwickelt werden. Vergeblich!

In dieser Zeit herrschte nicht etwa Ruhe in der Astroabteilung. Das bulgarische 2-m-Teleskop wurde montiert, auch mit nachgewachsenen Astromonteuren, angeleitet durch Helmut Artus, dem „Testpiloten" für Astrogroßgeräte und Spektrographen. Dann gab es noch das 2-m-Irakprojekt, bei dem zwar prinzipiell der Bulgarien-Typ zum Einsatz kommen sollte, aber die Polhöhen in Irak lagen an der Grenze der Veränderlichkeit der Stützmontierung.

Alfred Jensch hatte in den vergangenen 30 Jahren in der Zeiss-Astro-Entwicklung mehr als seine Pflicht getan. Er hatte nicht nur bedeutende Geräte entworfen und bis zur Realisierung geführt, er hatte auch seinen Mitarbeitern und Nachfolgern eine gründliche Arbeitsweise vorgelebt. Früher oder später mussten oder wollten sie ihre eigenen Beiträge liefern.

Alfred Jensch hatte für seinen „Ruhestand" noch viele Pläne, und er hatte auch die Zeit, diese zu verwirklichen. Es waren aber Pläne für seine eigene Lebensgestaltung und nicht solche, die er als Berater in den Zwängen des Betriebsgeschehens hätte realisieren müssen. Er konnte zu Hause daran arbeiten, immer in der Nähe seiner schwer kranken Frau, und brauchte nie ein schlechtes Gewissen zu haben, vom Betrieb gefordert sie auch nur zeitweilig allein lassen zu müssen.

Für einen Wissenschaftler war oft die Zeit schon vor dem Ruhestand der Beginn einer Aufarbeitung seines Lebenswerkes. So hätte Alfred Jensch genügend Zeit gehabt, alle seine Entwürfe und Konstruktionen zu kommentieren und gelegentlich zu begründen. Ein Rückblick erschien Alfred Jensch nicht erforderlich. Seine Entwürfe und Konstruktionen arbeiteten zur Zufriedenheit der Astronomen, und damit schien seine Aufgabe erfüllt. Franz Meyer, der erfolgreiche Zeiss-Konstrukteur, hatte ebenso lang wie Alfred Jensch durch Innovationen das technische Niveau vieler Astrogeräte bestimmt. Alfred Jensch hatte das Niveau angehoben, aber mit neuen konstruktiven Lösungen. Dass Alfred Jensch den Blick zurück nicht so wichtig hielt, mag auch daran gelegen haben, dass er sich des Fortschritts auf dem Gebiet der Astrogerätetechnik bewusst war. Seine Leistungen standen für ihre Zeit, auf denen wiederum andere aufbauen konnten.

Zur Zeitbezogenheit möchte ich eine „Was wäre, wenn"-Betrachtung anschließen, nicht viel mehr als eine Gedankenspielerei. Es geht um die Thematik Optisches Ablenksystem als Vorschaltgerät vor langbrennweitigen Fernrohrobjektiven. Solche Systeme sind in verschiedenen Ausführungsformen seit langer Zeit bekannt. Rolf Riekher hat ihnen in seinem Buch „Fernrohre und ihre Meister" ein ganzes Kapitel gewidmet und erwähnt den Jensch-Coelostaten als eine besonders elegante Lösung. Von allen anderen Konstruktionen, die bis 1950 ausgeführt wurden, unterscheidet sich dieser Coelostat dadurch, dass er wie eine parallaktische Montierung auf beliebige Himmelsobjekte eingestellt werden kann. Bereits 100 Jahre wäre die Zeit reif gewesen, nachdem durch Liebig und Foucault Glasspiegel mit einer hochreflektierenden Silberschicht versehen werden konnten. Es wäre durchaus denkbar gewesen, anstelle der großen Refraktoren mit parallaktischer Montierung Horizontal-Coelostaten mit Horozontal-Fernrohren zu koppeln.

Die Astroabteilung von Carl Zeiss Jena war über Jahrzehnte die einzige ihrer Art auf der Welt, die ein quasi volles Programm vom Okular bis zum Großteleskop, Beobachtungs- und Auswertegeräte und darüber hinaus noch Planetarien fertigte. Die Firma Repsold in Hamburg gab es schon lange nicht mehr, die Firma Carl Bamberg in Berlin war ein Teil der Firma ASKANIA geworden. Aber in den 60er Jahren ging das Entwicklungspotential mit dem Chefkonstrukteur Christian Kühne nach Oberkochen. Unter seiner Leitung entstanden die 2,2-m-Teleskope und das 3,5-m-Teleskop für das Max-Planck-Institut für Astronomie Heidelberg. Das Sortiment in Oberkochen war durch eine Reihe von Spezialkonstruktionen gekennzeichnet, wieder „Maßanzüge". Bei den großen Teleskopen arbeitete man im „amerikanischen" Stil, indem man komplette Baueinheiten in anderen Betrieben des Schwermaschinenbaus fertigen lie und auch sich nicht scheute, wichtige Prinzipien als Lizenz zu übernehmen, z.B. die Spiegellagerung für die 2-2m-Spiegelteleskop. Mit einem 700-mm-Spiegelteleskop wollte Kühne in die Weltspitze vorstoßen, das als Versuchsteleskop mit azimutaler Montierung konzipiert war. Hierzu kann ich verschiedene Bemerkungen machen, weil wir auch in Jena über eine solche Montierung diskutierten, wobei der Druck quasi von unten kam, aus den eigenen Reihen. Das war etwa Mitte der 70er Jahre, als die Konzeption des 6-m-Teleskops von Joannisiani zwar bekannt war, aber skeptisch aufgenommen wurde. Es war immer noch die Zeit der 3- bis 4-m-Teleskope mit parallaktischen Montierungen. Für Carl Zeiss Jena sahen wir, wie schon erwähnt, keine reale Chance, über 2 m Spiegeldurchmesser zu kommen. Das höchste wäre 2,4 m gewesen, weil die Optikbearbeitungsmaschinen und Prüfeinrichtungen hier ihre Grenze hatten. Es gab keinen Druck von Seiten der Kunden.

Eine bloße Verkleinerung des 6-m-Teleskops brachte Probleme bei der Ankopplung von Zusatzausrüstungen, z.B. des Coudé-Spekrographen. Auf keinen Fall war ein 700-mm-Teleskop geeignet, die eventuellen Probleme eines 8-m-Teleskops zu erkennen.

Der weitere Fortschritt der Astrotechnik mit Leichtgewichtsspiegeln und aktiver, später adaptiver Optik war auch Alfred Jensch bekannt. Im Buch „Fernrohre und ihre Meister" hatten Rolf Riekher und der Verfasser die Entwicklung bis etwa 1990 beschrieben. Zu dieser Zeit kam es zu Kontakten mit Prof. Schmidt-Kahler in Bochum im Rahmen des HEXAPOD-Projektes, das bei KRUPP Industrietechnik in Duisburg bearbeitet wurde und bei dem Manfred Steinbach mitarbeite. Ich war seit 1983 Leiter der Astro-Großoptikfertigung, und es kam noch vor der Gründung der Carl Zeiss Jena GmbH zum Auftrag für einen 1,5-m-Leichtgewichtsspiegel. Die mathematischen Probleme der Lagerung wurden durch Dr. Ing. Karl-Heinz Weßlau bearbeitet, der auch zeitweise zu KRUPP „delegiert" war. Damals hatten wir die Möglichkeit zu einer Konsultation bei Dr. Raymond Wilson, zeitweise in Oberkochen tätig, der nun Pionierarbeit bei der ESO leistete. Wilson hatte von der theoretischen Optik her das Konzept der aktiven Lagerung eines 3,5-m-Spiegels für das sogenannte New Technology Telescope entwickelt, dem man bei der ESO anfangs mit Skepsis begegnete.

Als es um die Beschaffung des Rohlings ging, führte die ESO auch Verhandlungen mit dem Glaswerk Litkarino wegen der Lieferung von Astrositall. Da auch dieses Glaswerk dem Ministerium für Verteidigung der UdSSR unterstand, kam es zu einem Treffen auf quasi neutralem Boden in der von mir geleiteten Großoptikfertigung OF 57. Das Material für den NTT-Spiegel wurde zwar schließlich von Schott Mainz geliefert und die Optik von Zeiss Oberkochen bearbeitet, aber eigentlich hätte die ESO den gesamten Auftrag an das Glaswerk Litkarino geben können. Bei der Konsultation im Februar 1990 erfuhren wir von Dr. Wilson, dass wir in Jena nicht die einzigen Optikhersteller waren, die Probleme bei der Prüfung und Fertigung von Ritchey-Chretien-Systemen hatten. Darüber habe ich mich schon beim Thema RCC-Optik ausgelassen. Dass wir unsere Aufgabe der Entwicklung einer Lagerung und die Fertigung des aktiven Spiegels mit Bravour erledigten, war auch für Alfred Jensch ein Zeichen, dass der Astrobereich den Anschluss an das Weltniveau gefunden hatte.

Durch die Faserkopplung gab es in dieser Zeit die Möglichkeit, wesentlich leistungsfähigere Zusatzgeräte zu entwickeln. Diesen Fortschritt konnte Alfred Jensch an seinem Teleskop in Tautenburg wahrnehmen, wo unter der Leitung von Prof. Solf und mit Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Astronomie durch Prof. Elsässer mittels CCD- und Fasertechnik der Wirkungsrad des Teleskops verbessert werden konnte. Auch die Arbeiten von Prof. Hatzes auf dem Gebiet der Erforschung extrasolarer Planeten nutzen die von Alfred Jensch geschaffene Grundkonzeption des Tautenburger Teleskops.

Zweifellos war die Namensgebung „Alfred-Jensch-Teleskop" für das Tautenburger Spiegelteleskop der Höhepunkt der zahlreichen Ehrungen für Alfred Jensch anlässlich seines 80. Geburtstages. War schon zuvor von Freimut Börngen ein Kleiner Planet nach ihm benannt worden, so wird Alfred Jensch in Tautenburg in einem Technisches Denkmal in Erinnerung bleiben.

Was besonders an Alfred Jensch zu bewundern war, war, wie er sich in seinem letzten Lebensjahr mit Begeisterung mit der modernen Boebachtungstechnik, die nun jedem Amateur zur Verfügung steht, dem Himmel wieder zuwandte. Es schien so, als wäre diese Begeisterung eine Medizin gegen seine schwere schmerzvolle Erkrankung.

Alfred Jensch hatte das Glück eines schöpferischen erfolgreichen Lebens.


1 comment:

Favor Roland said...
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